2017 trainierte Thomas Letsch den Zweitligisten Erzgebirge Aue. Ganze drei Spiele lang. Seine Karriere als Profifußballlehrer in Deutschland hätte schnell beendet sein können. Doch nun trainiert er den VfL Bochum – in der Bundesliga.
Oft bekommt man im Leben nur eine große Chance. Als Trainer im Profi-Fußball gilt das erst recht. Und wenn man nicht auf eine beeindruckende Karriere als Profi verweisen kann und einen entsprechenden Namen hat, dann gleich dreimal. Die Karriere von Thomas Letsch als Profi-Trainer in Deutschland hätte also im August 2017 schon beendet sein können. Erzgebirge Aue hatte ihn im Sommer geholt und nach nur drei Spielen wieder rausgeworfen: einem 0:2 im Pokal bei Drittligist Wehen, der am Saisonende knapp den Aufstieg verpasste, einem 1:2 beim chronisch heimstarken 1. FC Heidenheim und einem 0:2 gegen den späteren Meister Fortuna Düsseldorf. „Es hat nicht funktioniert“, sagte Präsident Helge Leonhardt damals nüchtern. Und so sah die Sache dann auch von außen aus. Es war eben ein Experiment, es ist misslungen. Oder noch mehr heruntergebrochen: Letsch hat es nicht gebracht, die 2. Bundesliga war für den Gymnasial-Lehrer für Mathematik und Sport einfach eine Nummer zu groß. So dachten viele.
Ein Anruf von Ralf Rangnick
Doch bei näherem Hinsehen stehen hinter dem Scheitern in Aue unglückliche Umstände für Letsch. Das begann schon mit seiner Inthronisierung. In Vorgänger Domenico Tedesco glaubte Aue, den idealen Trainer gefunden zu haben. Der hatte mit damals 31 den Aufsteiger nach dem 23. Spieltag als Tabellenletzter übernommen und mit sechs Siegen in elf Spielen noch zum Klassenerhalt geführt. Und sein Abgang hatte Club-Chef Leonhardt ins Mark getroffen. „Ich war angeschlagen, das war schon ein Hammer, der da kam“, hatte dieser gesagt. Er sei danach „zwei Tage im Wachkoma“ gewesen. Erst einen Tag vor dem Trainingsauftakt wurde Letsch als Nachfolger präsentiert.
Das hatte dann schon irgendwie den Anstrich einer Notlösung. Doch warum trennte man sich so schnell wieder von ihm? Letsch habe das System ändern wollen, schrieb damals die „Bild“, obwohl die Mannschaft dem von Tedesco vertraute. „Letsch versuchte letztlich einen Mix aus seinen Vorstellungen und dem eingespielten System zu kreieren. Das verunsicherte die Mannschaft zusehends und sorgte auch innerhalb des Trainerteams für kontroverse Diskussionen“, schrieb das Blatt.
Die österreichische Zeitung „Kurier“ versicherte, noch mehr zu wissen. Demnach habe Letsch „hinter den Kulissen auch einen Machtkampf verloren“. Der Hintergrund: „Letsch akzeptierte zu seinem Amtsantritt auch den ehemaligen Aue-Spieler Robin Lenk als zweiten Co-Trainer. Lenk war zuvor bereits Assistent unter Domenico Tedesco und ist darüber hinaus mit der Tochter von Clubboss Helge Leonhardt verheiratet. Eine heikle Situation, die sich aufgrund von Auffassungsunterschieden über die Spielphilosophie und taktische Ausrichtung der Mannschaft nicht unbedingt entspannen sollte.“ Letsch habe einen offensiveren Spielstil durchsetzen wollen, „der Schwiegersohn des Präsidenten wollte weniger mutig auftreten, lieber tief verteidigen und über Konter zum Erfolg kommen – und setzte sich schließlich durch.“ Lenk übernahm danach interimistisch und holte aus zwei Spielen immerhin vier Punkte.
Dass Letschs Karriere danach eben nicht zu Ende war, lag vielleicht auch an seinem ungewöhnlichen Werdegang. Als Spieler war er nicht über die Oberliga hinausgekommen, und auch als Trainer schien eine große Karriere zunächst nicht angedacht. Er trainierte die Zweite Mannschaft der Stuttgarter Kickers, den FC Heilbronn und Sonnenhof Großaspach und war Co-Trainer bei den Kickers und dem SSV Ulm. Er betrieb das aber nur nebenher neben seinem Lehramtsstudium. 2009 stieg er quasi komplett aus. Er wechselte an die deutsche Schule nach Portugal, wo sein einziger Kontakt zum Fußball die Leitung der Mädchenfußball-AG war. „Da war ich 41 Jahre alt und mein ganzes Leben hat sich vorher in einem Umkreis von 30 Kilometern abgespielt“, erzählte er dem Online-Magazin „Tief im Westen“. „Wir waren die klassische schwäbische Familie. So wurde ich erzogen, so haben meine Eltern gelebt, und meine Welt war klein. Dann aber gab es plötzlich diese Möglichkeit, und mein Leben hat sich sehr verändert: ein anderes Land, eine andere Sprache, eine andere Kultur.“ Drei Jahre war Letsch schon dort, und eigentlich wollte er mit seiner Familie für drei weitere bleiben. „Jeder, der schon mal in Portugal war und der Lissabon kennt, weiß, wie schön es da ist“, erzählte er bei einem Besuch im „Aktuellen Sportstudio“. Doch dann kam ein Anruf dazwischen.
Ein Mensch, den man mögen muss
„Ich war mit meiner Tochter auf dem Weg zum Strand, als Ralf Rangnick angerufen hat“, sagte Letsch. Der in Letschs Heimat bestens vernetzte Fußballlehrer war gerade Sportdirektor in Salzburg geworden und fragte, ob Letsch dort als Jugendtrainer arbeiten wolle. Er hielt auch große Stücke auf den Kollegen. Der sei „ein Mensch, den man einfach auch ein Stück weit schätzen und mögen muss. Weil er nicht nur ein sehr intelligenter, sondern auch ein sehr sympathischer und empathischer Mensch ist.“
Sofort offene Türen bei Letsch rannte er aber nicht ein. „Fußball war immer meine Leidenschaft, aber ich hatte damals noch keine Fußballlehrerlizenz, und eigentlich war ich ein Sicherheitsmensch“, sagte er. „Ich musste überlegen, was ich mehr wollte, und dann auch eine Entscheidung treffen. Das Beamtenverhältnis zu kündigen, fiel mir nicht leicht.“ Doch: „Ralf Rangnick kann schon überzeugend sein.“
Letsch ging nach Österreich und schlug eigentlich gut ein. Er trainierte erfolgreich die U16 und die U18, wurde Co-Trainer von Roger Schmidt bei den Profis, fungierte für drei Spiele als Interimstrainer und übernahm dann das Farmteam FC Liefering in der 2. Liga. Als bei RB Salzburg 2017 dann statt ihm aber der bisherige U18-Coach Marco Rose – danach in Mönchengladbach sowie Dortmund und heute bei RB Leipzig – zum Cheftrainer wurde, soll Letsch so enttäuscht gewesen sein, dass er beschloss, das RB-Imperium zu verlassen.
Nach AUE stand er vor dem Nichts
Die Anfrage aus Aue schien da gerade recht zu kommen. Doch nach dem dortigen Schiffbruch, stand Letsch an einer schwierigen Weggabelung. Seinen Beamtenstatus hatte er aufgegeben, die RB-Schule verlassen, seine Chance in Deutschland nicht genutzt. Dennoch: Die Entscheidung für den Trainer-Beruf war gefallen. Wieder aus Österreich kam rund ein halbes Jahr nach dem Aus im Erzgebirge die Rettung. Etwas mehr als ein Jahr trainierte Letsch Austria Wien. Im Sommer 2020 übernahm er schließlich Vitesse Arnheim in den Niederlanden und schaffte dort den Durchbruch als Cheftrainer. Er führte das Team direkt ins Pokalfinale und anschließend ins Achtelfinale der Conference League. Im Sommer sollen dann schon wieder deutsche Clubs an Letsch interessiert gewesen sein, auch aus der Bundesliga.
Zugesagt hat er schließlich im September beim VfL Bochum. Obwohl der mit einem Punkt aus sieben Spielen ein hoffnungsloser Fall schien. Und obwohl viele skeptisch waren. Weil Letsch eben als Vertreter des RB-Fußballs galt und das irgendwie nicht zum Arbeiter-Standort Bochum zu passen schien, wie auch der Flop am Arbeiter-Standort Aue scheinbar bestätigte. Doch Letsch beruhigte alle und versprach Flexibilität. „Von RB-Fußball und anderem Fußball zu sprechen – das ist mir zu schwarz-weiß“, sagte er: „Ich bin sicher vom RB-Fußball geprägt. Es ist aber nicht möglich, eine Art Fußball auf jede Mannschaft zu stülpen.“ In jedem Fall ist er ein harter Arbeiter. Auf die Frage, ob er über die Feiertage mal etwas entspannen konnte, sagte er bei „Tief im Westen“ zu Beginn des neuen Jahres: „Als ich zum Weihnachtsessen bei meinen Eltern saß, habe ich das Handy zur Seite gelegt. Weil es entscheidet sich nicht am 24. Dezember zwischen 17 und 20 Uhr, ob wir den Klassenerhalt schaffen oder nicht.“
In jedem Fall schaffte er zunächst den Turnaround. Und er schaffte dies mit einem Spagat beider Spielweisen – also genau mit dem, woran er in Aue offenbar gescheitert war. Bochum blieb sich seinen Prinzipien treu, spielte zumindest zu Hause aber auch richtig offensiv.
Fünf Heimsiege in Folge feierte der VfL, darunter ein 3:0 gegen Frankfurt, ein 2:1 gegen Union Berlin und ein 5:2 gegen Hoffenheim. Und nach dem 19. Spieltag und zwölf Spielen unter Letsch stand Bochum plötzlich auf Platz 15, der am Saisonende die Rettung bedeuten würde. Mit fünf Punkten Vorsprung auf die Abstiegsplätze und acht auf Schlusslicht Schalke. Vier Niederlagen ohne eigenes Tor und ein 0:2 gegen Schalke später war der Vorsprung aber aufgebraucht und der VfL wieder Letzter. Ob Letsch seine zweite Chance nachhaltig nutzt, wird sich also erst am Saisonende bewerten lassen. Immerhin: In Köln gab es am Wochenende endlich wieder einen Sieg und man steht auf Rang 14.