Friedrich Merz ist Wahlniederlagen gewohnt. Doch die historische Klatsche am 6. Mai könnte ihm noch lange im Weg stehen: Als erster Kanzler der Geschichte wurde er erst im zweiten Wahlgang zum Regierungschef gewählt.

Am 6. Mai 2025 schrieb Friedrich Merz Geschichte – allerdings anders, als er es sich wohl vorgestellt hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik scheiterte ein Kanzlerkandidat im ersten Wahlgang. Mit nur 310 Ja-Stimmen verfehlte Merz die erforderliche Kanzlermehrheit von 316 Stimmen. Dabei verfügte die schwarz-rote Koalition aus CDU/CSU und SPD über 328 Sitze im Bundestag. Die geheime Abstimmung ließ Raum für Spekulationen über Abweichler in den eigenen Reihen.
Das politische Berlin war kurz nach 10 Uhr wie elektrisiert. Die neue Parlamentspräsidentin Julia Klöckner, ebenfalls CDU, verkündete mit belegter Stimme das für viele Undenkbare: Von 621 abgegebenen Stimmen erhielt Merz 310 – sechs zu wenig für die sogenannte Kanzlermehrheit. „Er ist gemäß Artikel 63, Absatz 2 des Grundgesetzes zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht gewählt“, sagte die Bundestagspräsidentin. Das Wort „nicht“ zog sie dabei bewusst in die Länge, um die Dramatik des Moments zu unterstreichen.
„Was soll das für eine Regierung sein?“
Die Reaktionen auf das Scheitern im ersten Wahlgang ließen nicht lange auf sich warten. Renate Künast von den Grünen sprach von einem „massiven Autoritätsverlust“, der Merz dauerhaft anhängen werde, und fügte hinzu, dass Merz in der Vergangenheit einen Tonfall an den Tag gelegt habe, der sich nun räche. Auch Alice Weidel von der AfD nutzte die Gelegenheit, um Kritik zu üben: „Wenn er nicht einmal die eigenen Leute hinter sich bringen kann – was soll das für eine Regierung sein?“
Die Wahl war geheim, das macht die Ursachenforschung schwierig. Aber aus dem parlamentarischen Betrieb sickerten schnell Mutmaßungen durch: Es sollen Abgeordnete aus beiden Parteien gewesen sein, die das Kreuz nicht bei Friedrich Merz gemacht haben. „Wir sollten gar nicht spekulieren, wo die Nein-Stimmen im ersten Wahlgang hergekommen sind“, sagte Klingbeil am Dienstagabend im ZDF. „Es hat im ersten Wahlgang nicht gereicht, das war nicht gut.“ Die Motive? Vielschichtig. Einige Sozialdemokraten hatten schon im Vorfeld leise Zweifel an Merz’ Kompromissfähigkeit geäußert. Auch seine Rhetorik in der Migrationsdebatte, die stark auf Law and Order setzte, kam nicht überall gut an. Andere wiederum störten sich daran, dass Merz während des Wahlkampfs neue Schulden kategorisch ausschloss – um dann nach der Wahl überraschend großzügige Kreditpakete durchzuwinken. Mit Zustimmung von SPD und Grünen. Der Vorwurf des Wortbruchs liegt in der Luft– auch parteiintern.
Nach dem Debakel war Improvisation gefragt. Der Bundestag wurde unterbrochen, Fraktionen tagten hinter verschlossenen Türen. Die Stimmung: angespannt, aber lösungsorientiert. Kein Koalitionspartner konnte ein Interesse an einer weiteren Blamage haben – oder an Neuwahlen, von denen wohl vor allem die AfD profitieren würde. Es folgten intensive interne Gespräche – und ein zweiter Wahlgang noch am selben Tag. Im zweiten Anlauf erhielt Merz 325 Stimmen und wurde zum Bundeskanzler gewählt. „Ist ja mit entsprechender Aufmerksamkeit heute gestartet“, kommentierte Bundestagspräsidentin Klöckner mit gewisser Ironie. Wohlwissend, dass das Chaos nun erst richtig seinen Lauf nehmen würde.
Die Opposition nutzte die Situation, um Zweifel an der Stabilität der neuen Regierung zu säen. Die AfD, die bei der Bundestagswahl mit 20,8 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft und somit größte Oppositionspartei wurde, forderte gar Neuwahlen. „Wir werden sehen, was die nächsten Wochen bringen“, so Parteichefin Alice Weidel. „Aber wenn das eintritt, was wir vorausgesehen haben, dass die CDU von der AfD abschreibt und dann Wahlbetrug begeht, indem man mit den Linken koaliert, dann kann ich euch sagen: Die nächste Wahl wird schneller kommen, als man denkt.“
Denn die Linken sind für die Union gar nicht mehr so pfui, wie es einmal der Fall war. Nachdem deren Shootingstar Heidi Reichinnek und Merz vermutlich noch nie länger als eine knappe Begrüßung miteinander gesprochen hatten, mussten die beiden Politiker am Wahldienstag gleich mehrfach miteinander zu tun haben. „Wenn man eine Zweidrittelmehrheit haben will, dann muss man auch einen Anruf bei den Linken tätigen“, betonte auch der neue Innenminister Alexander Dobrindt (CSU).
Das Vertrauen in die politische Mitte
Doch trotz des holprigen Starts zeigte sich Merz entschlossen, das Zutrauen zurückgewinnen zu wollen. „Ich möchte in dieser Bundesregierung alles tun, damit die Menschen wieder Vertrauen in die politische Mitte zurückgewinnen“, sagte er – und er habe „keinen Zweifel“, dass die Koalition „vertrauensvoll zusammenarbeiten“ werde.
So optimistisch ist nicht jeder. Die Regierungsfähigkeit hat aufgrund des engen Stimmenpolsters – 328 Sitze bei 316 notwendigen Stimmen – ohnehin keine bequeme Mehrheit. Ein oder zwei Abweichler könnten jede Abstimmung kippen. Dass dies bereits bei der ersten gemeinsamen Abstimmung der Fall werden sollte, lässt einen bitteren Beigeschmack zurück.
Doch Friedrich Merz hat sich in seiner politischen Karriere schon des Öfteren als wahres Stehaufmännchen erwiesen. Er galt lange als der konservative Gegenpol zum modernen Kurs Angela Merkels, verschwand dann über ein Jahrzehnt von der Bildfläche, bevor er 2018 seine Rückkehr in die Politik wagte. Dreimal kandidierte er für den CDU-Vorsitz – und setzte sich erst im dritten Anlauf durch. Seine politische Karriere pflastern insbesondere auch Wahlniederlagen. Dass er auch diesen Fehlstart überstehen kann, trauen ihm viele zu – aber nur, wenn er seine Koalition schnell hinter sich versammelt. Die Koalitionsvereinbarungen sind unterschrieben, die Ressorts verteilt, das Regierungsprogramm liegt vor.

Doch im Inneren brodelt es. Die SPD ringt mit ihrer Rolle als Juniorpartner. Die Union muss sich neu sortieren zwischen wirtschaftsliberalen und wertkonservativen Strömungen. Und Merz selbst wird seinen Führungsstil überdenken müssen, wenn er nicht Gefahr laufen will, zum Kanzler auf Abruf zu werden.
Dabei hatte sich die neue Koalition viel vorgenommen: ein Digitalministerium soll geschaffen, die Energiewende forciert, die Verteidigungsausgaben sollen gesteigert werden. In den Ministerien sitzen viele neue, junge Gesichter – ein Signal der Erneuerung. Doch die personelle Frische allein reicht nicht, wenn Zweifel an der Führungsstärke des Kanzlers laut werden.
Ob die Kanzlerschaft von Friedrich Merz unter einem guten Stern steht, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Die politische Ausgangslage ist alles andere als einfach: eine fragile Koalition, eine laute Opposition und ein Land, das spürbar polarisiert ist. Merz wird liefern müssen – in der Sache, im Ton, im Umgang mit Kritik. Die Bundestagswahl hat das politische Koordinatensystem verschoben, Erwartungen an „Business as usual“ wären naiv. Der neue Kanzler betritt kein gemachtes Nest, sondern ein vermintes Gelände.