In ihrer Doktorarbeit „Gender – Design – Schule“ forscht Julia Pierzina über Geschlechtervorstellungen von Jugendlichen. Das im Rahmen der Promotion entstandene Buch wurde gerade veröffentlicht.
Alle sind gleichberechtigt“ – dieser Satz ist von Schülerinnen und Schülern häufig zu hören, sagt Julia Pierzina: „Allerdings sieht die Realität im Alltag dann ganz anders aus.“ Die 33-Jährige hat an der Hochschule der Bildenden Künste (HBKsaar) in Saarbrücken über Geschlechtervorstellungen im schulischen Umfeld promoviert: „Es wird immer proklamiert, dass jeder und jede so sein darf oder das machen kann, was er oder sie will. Aber es hat sich gezeigt, dass die Vorstellungen von Gleichberechtigung zum Teil gar nicht überprüft werden und wir tatsächlich noch weit hinterher sind.“

Es sind Schlüsselerlebnisse, manchmal auch nur einzelne Ereignisse oder Sätze, die Julia Pierzinas Sichtweise auf die Welt geprägt haben. Und die mit dazu beigetragen haben, mit welchen Themen sie sich beschäftigt und für welche Überzeugungen sie eintritt. Eins dieser Schlüsselerlebnisse hatte sie nach dem Ende ihres Auslandsaufenthaltes während des Studiums. „Ich war auf dem Heimweg zu Fuß von Frankreich nach Hause und habe an der deutsch-holländischen Grenze durch Zufall eine Einrichtung für Menschen entdeckt, die auf ihren Asylantrag warten. Ich fand die Zustände verstörend, und da ich noch etwas Zeit hatte, bin ich dortgeblieben und habe geholfen.“ Pierzina war in der Fotografie-Klasse an der HBKsaar, suchte nach einem Thema für ihren Bachelor-Abschluss und nahm dieses Erlebnis zum Anlass, sich mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auseinanderzusetzen. Aber ihr wurde schnell klar: „Wenn ich etwas in den Köpfen der Menschen verändern will, muss ich sie mit ihren eigenen Gedanken und Vorurteilen konfrontieren. Dazu braucht es klare Aussagen – Fotografie ist dafür zu offen.“
Unser Denken wird oft von Vorurteilen geprägt
Für ihre Abschlussarbeit entwarf die gebürtige Mainzerin 2016 daher die extrem reduzierte Plakatkampagne „Fluchtpunkt-Perspektive“, die im gesamten Saarland gezeigt wurde und viel Anerkennung erhielt. Der Titel thematisiert einerseits die Themen Flucht und Fluchterfahrung, spielt aber auch mit dem Prinzip, dass es immer zwei Perspektiven braucht, um eine Situation wirklich zu verstehen. Es wurden Aussagen einander gegenübergestellt, die die Betrachtenden mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontierten. Zum Beispiel stand unter dem Satz „Wer ein Smartphone hat, dem kann es nicht so schlecht gehen“ als zweite Aussage: „Melde dich damit, wenn Du in Sicherheit bist.“ Man liest, stockt kurz, denkt nach – und wird sich bewusst, wie sehr das Denken von Vorurteilen geprägt ist. Um es zu verdeutlichen, erzählt Julia Pierzina eine weitere Geschichte – eine Beobachtung aus ihrem Alltag: „Ich stand im Supermarkt an der Kasse, vor mir stand eine Gruppe, die sich auf Arabisch unterhalten hat und Blumen und Pralinen gekauft hat. Ich hörte, wie hinter mir mehrere Leute über diesen ‚Luxus‘ tuschelten. Später stellte sich heraus, dass sie die vermeintlichen ‚Luxusartikel‘ nicht für sich kauften, sondern als Dankeschön für ihre deutschen Betreuenden, die ihnen bei komplizierten bürokratischen Verfahren geholfen hatten.“

Das Thema vertiefte Julia Pierzina in ihrer Masterarbeit, indem sie ein Konzept zur Behandlung der Themen Anti-Diskriminierung, Vorurteile und Missverständnisse im Schulunterricht entwickelte. Hierzu erstellte sie Arbeitsmaterialien, die auf spielerische Art und Weise Anstöße dazu geben, erlebte Situationen zu hinterfragen, einen Moment innezuhalten und die eigenen Reaktionen zu reflektieren.
Der Schritt ins schulische Umfeld war getan, und ihr Professor ermutigte die junge Designerin, weiter zu forschen. Allerdings wollte sich Julia Pierzina nach einem neuen Thema umsehen: „Es gab schon so viel zum Thema Diskriminierung, ich wollte mich mit neuen Feldern auseinandersetzen. Unser gesamter Alltag ist geprägt von Schubladen-Denken, und mich interessiert, wie die Menschen funktionieren.“ So kam sie vor sechs Jahren auf das Thema Geschlechtervorstellungen. „Die Frage, woran Jugendliche Geschlechter festmachen, inwiefern Geschlechtervorstellungen in der Schule beeinflusst werden und wie Gerechtigkeit hergestellt werden kann, hat mich tatsächlich schon immer interessiert. Die Schule ist der Ort, an dem sich – außerhalb des familiären Kontextes – die meisten Sichtweisen auf die Welt und wie Gesellschaft funktioniert herausbilden.“
Dabei wurden Geschlechtervorstellungen in der Schule – bisher – vor allem aus sozial- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive thematisiert. Julia Pierzina wollte diese Zugänge erweitern und sozialwissenschaftliche Datenerhebung mit designtheoretischen Interventionen verschränken. Nach langer Suche und vielen bürokratischen Hürden schaffte sie es, eine Schulklasse zu finden, die sie ein knappes Jahr lang beim Übergang von der achten zur neunten Klasse begleiten konnte.
Mit Beobachtungen, Interviews und Gruppendiskussionen sammelte sie Themen und identifizierte Artefakte, die das Rollenverständnis sowie die Kategorisierungs-Strukturen von Jugendlichen beschreiben. „Artefakte sind von Menschen geschaffene Objekte, aber auch Ausdrucksformen und Immaterielles“, erklärt Julia Pierzina und ergänzt: „Es müssen nicht unbedingt nur gestaltete Objekte sein, sondern im Prinzip alles, was uns umgibt, zum Beispiel Symbole oder symbolische Handlungen, aber auch wie Räume gestaltet sind oder wie Menschen zueinander positioniert sind. Wie das Umfeld gestaltet ist, beeinflusst letztendlich auch, wie wir uns fühlen und wie wir miteinander umgehen.“

„Wo passe ich hin?“, fragen sich viele
Julia Pierzina verbrachte viel Zeit mit den Schülerinnen und Schülern, begleitete sie im Alltag und baute Vertrauen auf. „Die Jugendlichen waren dankbar, über ihre Lebensrealität, ihre Vorstellungen von Geschlecht und Erfahrungen aus ihrem Alltag zu sprechen. Sie berichteten, dass es für diesen Austausch sonst keinen Raum und keine Ansprechpersonen gibt.“ Mit acht Jugendlichen führte sie intensive Einzelinterviews. „Einige Aussagen haben sich überschnitten und waren verbunden mit der Frage: ,Wo passe ich hin?‘“ Eine andere Aussage, die Julia Pierzina oft hörte, war: „Diese Welt ist nicht für mich gemacht“ – sei es, dass ein Sportgerät nicht zur Körpergröße passte oder ein Mädchen aus der Jungen-Abteilung eines Modegeschäfts weggeschickt wurde. „Es haben sich extrem viele Schubladen aufgetan: Jungs müssen hart sein und Stärke zeigen; sie entscheiden und übernehmen Aufgaben. Mädchen folgen und machen das, was übrigbleibt. Dieses einfache Prinzip von Binarität wirkte sich sehr stark im Schulalltag auf den Umgang miteinander aus. Aber das bringt uns doch nicht weiter – der Kampf um die ‚richtige‘ Zuordnung verursacht zusätzlich Druck und Stress.“ Die Binarität war ein weiteres Artefakt, das Julia Pierzina identifizierte: „Darunter versteht man die eindeutige Zuordnung zu einem von zwei Geschlechtern und eine damit verbundene Vorstellung von Gegensätzlichkeiten. Mir ist aufgefallen, dass Menschen eine extreme Unsicherheit verspüren, wenn etwas nicht eindeutig ist oder jemand nicht in eine Schublade passt. Es wird von den Jugendlichen akzeptiert, dass sich jemand mit einem anderen Geschlecht identifiziert, dieser ‚Wandel‘ soll dann aber möglichst schnell vollständig vollzogen werden – und zwar mit allen Konsequenzen.“
Eine Aussage aus ihrer Doktorarbeit bringt dieses Dilemma in ihren Augen perfekt auf den Punkt: „Sie kann ja sein, wer er will.“ Diesen Satz sagte ein Mitschüler über eine biologische und als Mädchen sozialisierte Jugendliche, die sich selbst als Junge identifizierte und zu der Zeit gerade im Outing-Prozess war: „Es wird akzeptiert, dass jemand anders sein möchte, aber es wird keine Übergangszeit zugestanden. Alles muss schnell gehen – man muss sich sofort für das eine oder andere binäre Geschlecht entscheiden, eine uneindeutige Zuordnung wird nicht ausgehalten. Dabei wird zum Teil ignoriert, was es bedeutet, eine Geschlechts-Transition zu vollziehen – medizinisch, sozial und psychologisch.“

Auch privat interessiert und engagiert sich Julia Pierzina für das Thema Gleichberechtigung. Die gebürtige Mainzerin, die fürs Studium nach Saarbrücken kam, ist Mitglied im International Gender Design Network. „Viele Produkte werden auf Basis von Daten gemacht, die nicht alle Geschlechter berücksichtigen“, berichtet sie und gibt auch direkt ein Beispiel: „Dummies von Autos haben männliche Durchschnittsmaße, dadurch fehlen Studien zur Sicherheit für ‚weibliche‘ Körper – mit dem Resultat, dass die Autos nicht entsprechend gestaltet werden.“ Diese und ähnliche Beispiele finden sich unter dem Stichwort „Gender Data Gap“ oder zu Deutsch „geschlechtsbezogene Datenlücke“. Julia Pierzina und ihre Netzwerk-Kolleginnen und -Kollegen beschäftigen sich mit Fragen, warum zum Beispiel Rasierer für Frauen einerseits teurer und andererseits weniger funktional sind: „Wir wollen Produkte schaffen, die keine geschlechtsbezogenen Narrative mit Stereotypen der Gesellschaft wiederholen.“
Schulische Konzepte erstellen
Seit 2016 arbeitet Julia Pierzina am K8 Institut für strategische Ästhetik als Interventionsdesignerin – und auch hier möchte sie die Zukunft mitgestalten: „Ganz viel von dem, was uns umgibt, hat irgendwann mal irgendwer entschieden und gestaltet. Wir dürfen nicht alles als gegeben annehmen, sondern müssen darüber nachdenken, wo noch Optimierungsbedarf für soziale Gerechtigkeit besteht. Meine Aufgabe ist es, die richtigen Menschen zusammenzubringen, um ein besseres Ergebnis durch kluge Gestaltung zu erzielen.“
Nach sechs Jahren Arbeit ist Julia Pierzina froh, ihre Forschung jetzt präsentieren zu können. „Ich war vorher schon sensibilisiert, aber das hat sich durch die Erzählungen der Jugendlichen über ihre Wahrnehmungen nochmal verstärkt. Ich habe einen riesigen Bedarf wahrgenommen – wir brauchen einfach viel mehr Wissen und partizipative Gestaltungsansätze.“
Das im Rahmen der Promotion entstandene Buch, das gerade erst herausgekommen ist, könnte jetzt eine Grundlage sein, um im schulischen Kontext weiterzuarbeiten und Konzepte zu erstellen, wie die Geschlechterzuschreibungen überwunden werden könnten. „Allein schon Gesprächssituationen oder Sitzpositionen verändern das Verhalten von Menschen zueinander“, sagt Julia Pierzina, die einige Handlungsempfehlungen entwickelt hat. Allerdings gibt sie zu bedenken: „Es ist nicht so einfach, dass man einfach an ein paar Stellschrauben dreht und schon gibt es Gleichberechtigung. Wir sind noch ganz schön weit zurück, aber wir können alle einen kleinen Teil dazu beitragen.“