Granit Xhaka kam erst in diesem Sommer zu Bayer Leverkusen. Und ist gleich der uneingeschränkte Boss. Der Schweizer könnte das Puzzleteil sein, das Bayer in den vergangenen Jahren gefehlt hat.

Hierarchien in Fußball-Mannschaften, das hört man immer wieder, müssen sich herausbilden. Oft über viele Jahre. Ganz selten ist es aber auch so, dass man einen Spieler kauft, um von der ersten Sekunde an der Boss zu sein. Auf Kommando klappt das oft nicht. Bei Bayer Leverkusen und Granit Xhaka hat es funktioniert. Auch wenn Torhüter Lukas Hradecky Kapitän blieb. Doch Granit Xhaka braucht keine Binde, um zu führen.
Die Chefrolle war es letztlich neben Trainer Xabi Alonso und der Rückkehr in den Westen Deutschlands, wo seine Frau herstammt, die Xhaka als Stammspieler des englischen Fast-Meisters FC Arsenal überhaupt dazu bewegte, nach Leverkusen zu kommen. „Es wurde vorher klar gesagt, welche Rolle ich einnehmen soll“, sagte der Schweizer nach dem Traumstart mit drei Siegen: „Das entspricht auch meinen Qualitäten und Stärken. Wenn es einen anderen Plan gegeben hätte, hätte man mich hier nicht gesehen.“
Seinen natürlichen Chef-Anspruch speist Xhaka gleich aus mehreren Faktoren. Zuvorderst natürlich aus seiner Leistung, seiner Position im Zentrum des Feldes und seiner dominanten Art des Spiels. „Granit ist sicher der Schweizer Spieler, der die konstanteste Karriere hingelegt hat. Es gibt immer wieder Schweizer Spieler, die tolle Transfers gemacht haben, aber dann dieses tolle Niveau nicht halten konnten“, sagte der Schweizer Gerardo Seoane, der heute Borussia Mönchengladbach trainiert und sich beim Absturz mit Leverkusen bis hin zur Beurlaubung im Vorjahr sicher einen Spieler wie seinen Landsmann gewünscht hätte: „Granit zeichnen sein Hunger, seine Persönlichkeit, sein Willen und seine Professionalität zu seinem Job aus. Er ist eine Führungsperson, ein echter Kapitän.“
Xhaka folgen die Kollegen aber auch wegen seiner Erfahrung. Seiner sportlichen aus über 100 Bundesliga-Spielen, mehr als 200 Premier-League-Einsätzen, 115 Länderspielen und 76 Europacup-Partien. Aber auch seiner Lebenserfahrung. Denn Xhaka hat eine bewegte Vergangenheit, die ihn als Menschen geformt hat.
Der Vater als härtester Kritiker
Eine prägende Figur war dabei sein Vater. „Er war früher selbst Fußballer im Kosovo, musste dann aber seine Laufbahn beenden: Er erlitt einen Schien- und Wadenbeinbruch in einer Zeit, in der die medizinische Versorgung nicht so gut war“, erzählte Xhaka in einem bewegenden Interview mit dem „Werkself-Jahrbuch“: „Zudem musste er wenig später aus politischen Gründen fliehen und war anschließend dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Dort hat er den Entschluss gefasst, für das Wohl der Familie in die Schweiz zu ziehen. Ich bin dort geboren, meine Eltern haben mir und meinem Bruder Taulant, der auch Profi ist, durch diese mutige Entscheidung das Leben ermöglicht, das wir heute haben. Dafür haben sie auf das gemeinsame Leben mit ihren Familien verzichtet.“ Sein Vater sei auch sein härtester Kritiker, habe seine Spiele immer auf Video aufgenommen und sei sie mit ihm durchgegangen, habe ihn aber „noch nie gelobt“.

Als Xhaka mit 19 von Basel nach Gladbach ging, trennten sich seine Eltern räumlich. Sein Vater zog mit ihm an den Niederrhein. „Ich war noch nicht bereit, allein zu leben“, sagte er: „Es war vielleicht auch ein Signal meines Vaters nach dem Motto: ‚Hör mal zu, ich mache das für dich. Ich mache das für unsere Familie. Bieg’ jetzt ja nicht in die falsche Richtung ab.‘“ In Gladbach habe er schließlich nun ordentlich verdient, „und es ist nicht einfach, mit dem Geld umzugehen, wenn du 19 bist, keine Freunde in Deutschland hast und die Familie weit weg ist.“
Für die Unterstützung seines Vaters war Xhaka dankbar, doch er dachte auch an seine Eltern. Als er in Mönchengladbach nach eineinhalb Jahren seine heutige Ehefrau kennenlernte, bat er seinen Vater, zurück zur Mutter zu ziehen. „Ich habe damals das Gefühl gehabt, dass meine Eltern sich immer mehr voneinander distanzieren. Und ich wollte das nicht“, sagte er: „Meine Eltern lebten danach wieder zusammen und haben das als Paar gemeinsam überstanden. Aber all ihre Entbehrungen hat man natürlich stets im Kopf – als Motivation und als Gefühl, etwas zurückgeben und den Einsatz meiner Eltern honorieren zu müssen.“
In der Schweizer Nationalmannschaft war Xhaka zudem immer ein Politikum. 2016 bei der EM spielte er mal gegen seinen Bruder und Albanien. Danach erklärte er in einem Post, dass er nun eigentlich gern für die nun offizielle Nationalmannschaft des Kosovo spielen wolle. Der Weltverband Fifa habe aber mitgeteilt, dass das nach der Teilnahme an der EM nicht mehr möglich sei. Worüber er nicht informiert gewesen sei. Also spiele er gern weiter für die Schweiz, um „dem Schweizer Volk, das mir stets Respekt und Dankbarkeit gezollt hat, etwas zurückgeben. Wenn ich sehe, dass 300.000 Albaner in der Schweiz leben, dann ist es eine Ehre für mich, diese Leute in der Schweizer Nati zu vertreten.“ Als er später Kapitän der Schweizer Nationalmannschaft wurde, wurde das von einigen kritisiert. Nie offen damit in Verbindung gebracht, aber unterschwellig wird es bei manchen eine Rolle gespielt haben. 2018, als er bei der WM gegen Serbien traf, das den Kosovo nicht anerkannte, gab es Kritik wegen eines provokanten Torjubels.
Auch in Gladbach war er vor rund zehn Jahren mit seinen forschen Tönen erst mal auf die Nase gefallen. Während der Verein den Klassenerhalt als Ziel ausgab, redete er davon, oben mitspielen zu wollen. „Daraufhin wurde ich von den deutschen Medien ein bisschen auseinandergenommen. Meine Leistungen waren zudem nicht so, wie ich mir das gewünscht hatte, und ich saß dann zu Recht bis zur Winterpause auf der Bank.“ Erst schmollte er, dann kam die Erkenntnis. Er habe sich gesagt: „Es reicht. Jetzt war ich lange genug da oben mit der inneren Überzeugung, ich sei der Größte. Jetzt arbeite ich wieder so, wie ich früher gearbeitet habe. Rückblickend denke ich, dass Fehler einfach dazugehören. Ich habe sie Gott sei Dank sehr schnell erkannt. Ohne sie wäre ich vielleicht nicht da, wo ich heute bin.“
Jemand, dessen Gesten von klein auf so beobachtet werden und der sich umgekehrt auch stets um seine Familie sorgt und kümmert, bildet mit der Zeit gute Antennen aus. „Ich habe ein ganz gutes Gespür dafür, wenn es einem Spieler mal nicht so gut geht und kann auf Spieler zugehen“, sagt er heute: „Das sind Dinge, die zu so einer Rolle dazugehören – und die man mit Anfang 20 noch nicht mitbringt; ich damals auch nicht.“
Reifeprozess auch abseits des Platzes
Auch abseits des Feldes hat er dabei einen Reifeprozess durchlaufen. Galt er in seinen Anfangsjahren noch als manchmal unkontrollierbarer Heißsporn, so weiß er sein Temperament auf dem Platz nun zu zügeln. Flog er zu Gladbacher Zeiten noch alle 21 Spiele vom Platz, so passierte dies in der Premier League nur alle 56 Spiele. Wobei die Quote vor allem von zwei Platzverweisen in der Anfangszeit gedrückt wird, zwischendrin flog Xhaka mal dreieinhalb Jahre gar nicht vom Feld.

Und dann waren da noch die prägenden Geschehnisse im Herbst 2019. Die Arsenal-Fans hatten sich damals auf ihn eingeschossen und ihn gnadenlos ausgepfiffen. Als er nach dem betreffenden Spiel gegen Crystal Palace nach Hause kam, sei er „fest entschlossen“ gewesen, „dieses Trikot nie wieder zu tragen“, erzählte er: „Das hat mir echt wehgetan, und es war in diesem Moment für mich völlig unmöglich, noch einmal für Arsenal und die Fans, die mich aus meiner Sicht grundlos so ausgepfiffen hatten, zu spielen.“ Sogar sein Vater habe ihm gesagt, dass es in London nicht mehr weitergehe. Im Gegensatz zur Zeit in Gladbach, wo er ihn zum Durchhalten animiert habe, habe er „zum ersten Mal zu mir gesagt hat: ‚Es ist vorbei. Wir müssen gehen.‘ Unsere Koffer waren schon gepackt und ich war einig mit Hertha BSC. Ich war ready to go.“
Der neue Trainer Mikel Arteta habe ihn dann aber überzeugt. „Ich weiß nicht wie, aber er hat mich dann so überzeugt, dass ich das erste Mal in meinem Leben eine Entscheidung ohne meine Eltern getroffen habe“, sagte der heute 30-Jährige, der noch fast vier Jahre blieb und Leistungsträger und Publikumsliebling wurde. „Solch einen Turnaround mit den Fans gab es im englischen Fußball vielleicht noch nie.“
All das machte aus Granit Xhaka den Menschen und Spieler, der er heute ist. Immer noch streitbar, aber ein Anführer. Ein Vorbild. Einer, an dem sich andere aufrichten und orientieren können. In einer in den letzten Jahren und hochbegabten Leverkusener Mannschaft ist er unter vielen guten Neuzugängen der Königstransfer. Das Puzzleteil, das Bayer gefehlt hat. Und ehrlich gesagt vielleicht sogar das Teil, das auch dem FC Bayern und Borussia Dortmund gefehlt hat. Und bis heute fehlt. Deshalb ist Granit Xhaka bei Bayer Leverkusen nicht nur auf Anhieb der Boss. Sondern einer der Hauptgründe, warum Leverkusen in dieser Saison als absoluter Geheimtipp auf die Meisterschaft gilt.