Ausgerechnet gegen seinen Herzensclub Hamburger SV ist Steffen Baumgart gesperrt. Der Eklat in Frankfurt zeigt, mit welcher Emotionalität der Trainer von Union Berlin agiert. Beim HSV hatte dies einst nicht gereicht.
An diesem Sonntag trifft Union Berlins Trainer Steffen Baumgart auf seine große Fußball-Liebe. In Kindheitstagen hat ihn das HSV-Fieber gepackt und seitdem nicht mehr losgelassen. „Wenn man sich als Kind für einen Verein entschieden hat, dann bleibt das so. Du wechselst öfter die Frau als den Verein.“ Das sagte Baumgart, als er im Februar 2024 als Trainer den damaligen Zweitligisten mit der klaren Zielsetzung „Bundesliga-Aufstieg“ übernommen hatte. Das Ende ist bekannt: Der Traditionsclub scheiterte erneut knapp vor dem Ziel, Baumgart musste im darauffolgenden Herbst gehen. In der Doku „Always Hamburg – Hoffnung. Schmerz. Verbundenheit“, die aktuell im ZDF zu sehen ist, gibt es auch interessante Einblicke zu Baumgarts Wirken beim HSV – und einige sind wenig schmeichelhaft für den Coach.
„Nie eine volle Überzeugung“
Kapitän Sebastian Schonlau verriet, dass es schon nach den ersten Niederlagen intern Zweifel gegeben habe, „ob er jetzt der Heilsbringer ist“. Der spätere Aufstiegsheld Davie Selke sagte über Baumgart: „Die Art und Weise, wie wir gespielt haben, war nicht mehr ganz das, wofür er immer stand.“ Ähnlich äußerte sich Sportvorstand Stefan Kuntz, der Baumgart nach nur 278 Tagen beim Herzensclub wieder vor die Tür setzte: „Das Schlimme ist, dass die Mannschaft wirklich nicht Steffen Baumgart widerspiegelt.“ Und Sportdirektor Claus Costa ergänzte: „Er hätte lieber etwas anders gespielt, als die Spielerqualität und Spielerprofile das hergegeben haben. Dementsprechend war nie eine volle Überzeugung in den Herangehensweisen da.“
Der HSV kehrte später ohne Baumgart in die Bundesliga zurück, der Trainer hatte den Sprung schon Anfang Januar bei Union geschafft. Jetzt treffen beide Clubs aufeinander, es ist Baumgarts erstes Wiedersehen seit der Trennung – doch die wird anders ausfallen als erwartet. Weil er beim 4:3-Auswärtssieg in Frankfurt kurz vor Schluss die Rote Karte sah, ist der Union-Coach ausgerechnet gegen „seinen“ HSV gesperrt. Er muss das Spiel von der Tribüne aus verfolgen. Sinnbildlich gesprochen: Er darf seine „alte Liebe“ nur aus der Distanz sehen. Baumgart hatte wegen einer Elfmeter-Entscheidung nach Videobeweis gemeckert und eine Papierkugel auf den Rasen gekickt. Doch er hatte auch noch etwas anderes getan, was für noch mehr Aufsehen sorgte: TV-Bilder zeigten ganz klar, wie er kurz den Mittelfinger Richtung Platz zeigte. Galt es Schiedsrichter Sven Jablonski? In einer ersten Reaktion im TV-Interview stritt Baumgart ab, überhaupt diese Geste gemacht zu haben. In der anschließenden Pressekonferenz äußerte er sich schon etwas anders: „Ich habe ins Leere geguckt, das ging in keine Richtung, also alles gut. Das war eine Emotion, die ich aufgrund des Videobeweises und der vorherigen Situation hatte.“
Für sein Meckern davor entschuldigte sich Baumgart unmittelbar nach dem Spiel. Zumindest etwas. „Es tut mir leid – oder eigentlich auch nicht, weil ich meine Emotionen nicht zurückhalten werde“, sagte Baumgart. Der gebürtige Rostocker ist auch als Trainer der Eisernen mit vollem Einsatz dabei. Er flitzt während der 90 Minuten plus X ständig in seiner Coaching-Zone herum, ruft Anweisungen auf den Platz und nimmt das Publikum mit. Mit dieser Emotionalität passt er gut zum Köpenicker Club, hier wollen die Fans Protagonisten mit Ecken und Kanten sehen. Schon damals, als Baumgart als Spieler in der Alten Försterei stürmte, war er bei den Anhängern sehr beliebt. Doch im Profifußball schlägt Erfolg immer Beliebtheit, das ist auch bei Union nicht anders. Auch wenn sich der Club selbst gern als etwas anderer Verein profiliert. Die Mechanismen der Branche sind bei Union dieselben wie bei der TSG Hoffenheim, bei Eintracht Frankfurt oder beim FSV Mainz 05.
Ex-Nationalspieler Mario Basler sagte unlängst, er habe bei Union und Trainer Baumgart kein gutes Gefühl. „Für Union wird es in dieser Saison bis zum letzten Spieltag um den Klassenerhalt gehen“, sagte Basler. „Dafür müssen sie sich mächtig strecken.“ Für Lothar Matthäus ist die aktuelle Konstellation dagegen goldrichtig. „Steffen Baumgart passt zu Union. Das hat der Trainer in den letzten zehn Liga-Spielen der Vorsaison bewiesen“, sagte der deutsche Rekord-Nationalspieler: „Jetzt muss Union dafür sorgen, dass er die Zeit bekommt, die er braucht, um sein Team zu formen.“
Baumgart formte aber auch das Team hinter dem Team. Er holte Srdan Popovic, seines Zeichens Sportwissenschaftler mit den Schwerpunkten Biomechanik, Bewegungs-Diagnostik und Training, in den Betreuerstab. Er soll mittels wissenschaftlicher Methodik für noch bessere Bewegungsabläufe im Training sorgen. Baumgarts Co-Trainer Danilo de Souza, der fünf Sprachen spricht, übernimmt nun noch mehr Verantwortung bei den Übungen. Baumgart vertraut seinem langjährigen Assistenten blind, er selbst rückt mehr und mehr in die Rolle des Beobachters.
Immer noch dieselbe Idee von Fußball
Seine Idee von Fußball ist aber dieselbe geblieben: hohes und mutiges Anlaufen, große Aggressivität im Spiel gegen den Ball, schnelles Umschaltspiel. Damit hatte er in Paderborn und lange Zeit auch in Köln große Erfolge. Wie beim HSV muss Baumgart aber auch bei Union Kompromisse eingehen, weil das von ihm bevorzugte System mit Vierer-Abwehrkette nicht zum Spielerpersonal passt. Dass er das Team mit drei Innenverteidigern auf einer Linie aufstellen muss, ist für ihn nicht ideal. Doch Experimente mit der Viererkette gingen zuletzt schief, und die Ergebnisse müssen stimmen. Auch bei Baumgart. „Das Saisonziel mit diesem Verein sollte immer zuerst der Klassenerhalt sein – und nichts anderes“, sagte er: „Danach können wir immer noch schauen, wie die Saison läuft. Aber der erste Plan ist, weiter den Verein in die Bundesliga zu integrieren und aufzubauen.“
Das Potenzial dafür ist ohne Zweifel da. Der deutsche U21-Trainer Antonio di Salvo berief kürzlich gleich drei Unioner in seinen aktuellen Kader: Aljoscha Kemlein, Tom Rothe und der gegen Frankfurt erneut bärenstarke Ilyas Ansah. „Es ist ein Anfang, das muss man ganz klar sagen. Aber ich freue mich, dass die Jungs ihn erreicht haben“, sagte Baumgart. Es sei eine schöne Sache, für die Spieler und den Club, „dass bei Union drei U21-Nationalspieler spielen, die die Chance haben auf weitere Einsätze“. Das zeige auch, dass es in Berlin-Köpenick „eine sehr gute Entwicklung mit jungen Spielern“ gebe. „Und es zeigt, dass der Standort viel hergibt, auch für Talente.“ Eine ähnliche Entwicklung erhofft sich auch Abwehr-Juwel Oluwaseun Ogbemudia, auch wenn der 19-Jährige noch ohne Bundesliga-Minuten ist. Er sei „noch nicht weit genug, um in der Startelf einer Bundesliga-Mannschaft zu stehen“, sagte Baumgart über den aus der eigenen U19 hochgezogenen Abwehrspieler.
Auch gegen Aufsteiger HSV, der nach dem ersten Saisonsieg gegen den 1. FC Heidenheim mit gestiegenen Selbstvertrauen zu den Eisernen reist, werden es wieder die etablierten Kräfte richten müssen. Baumgart wird auf die Tribüne verbannt, so wie schon im vergangenen März im Heimspiel gegen Bayern München wegen einer Gelbsperre. „Es war mein Fehler“, sagte er nun zum Fehlen gegen seinen Ex-Club: „Damit muss ich leben – und ich hoffe, dass es alle anderen auch können.“