Seit 2019 nimmt die Zahl der Pflegefamilien stetig ab. Gleichzeitig wären eigentlich mehr Kinder und Jugendliche auf eine Unterbringung in Pflegefamilien statt in Heimen angewiesen.
Laut dem in Berlin ansässigen Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD) fehlen bundesweit derzeit jährlich rund 4.000 Pflegefamilien. Ein grundlegendes gesellschaftliches Problem, das sich künftig wohl noch verschärfen dürfte. Einem im Frühjahr 2023 publizierten Appell diverser freier Träger der Pflegekinderhilfe zufolge sei schon seit dem Jahr 2019 eine Abnahme der „Zahl aktiver Pflegefamilien in Deutschland“ zu registrieren. „Der Bedarf nach geeigneten privaten Familien, die vorübergehend oder dauerhaft ein Kind in Pflege nehmen, ist ganz klar steigend“, sagt die PFAD-Vorsitzende Ulrike Schulz. Auch der Deutsche Landkreistag beklagt den akuten Mangel an Pflegefamilien.
4.000 Pflegefamilien fehlen
Im Saarland waren Anfang 2024 laut einem SR-Bericht beispielsweise im Regionalverband Saarbrücken 402 Kinder in 312 Pflegefamilien betreut worden. Was nicht ausgereicht hatte, weil zur Deckung des Unterbringungsbedarfs 50 zusätzliche Pflegefamilien gebraucht worden wären und landesweit 1.200 Kinder gezählt wurden, die nicht mehr bei ihren biologischen Eltern leben konnten. Noch weitaus dramatischer stellte sich die Situation im Bundesland Berlin dar, wo etwa zeitgleich von 8.362 Kindern, die außerhalb ihrer Herkunftsfamilie untergebracht waren, nur 1.979 Kinder in Pflegefamilien Aufnahme gefunden hatten. Womit nur für jedes vierte hilfsbedürftige Kind in Berlin Pflegeeltern vermittelt werden konnten, während sich die meisten anderen mit der Überführung in Heime begnügen mussten. Ein Sachverhalt, mit dem sich Berlins zuständige Jugend- und Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch nicht abfinden wollte: „Bei Pflegekindern reden wir in der Regel über Kinder und Jugendliche, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Man wird nicht ohne Grund aus seiner Familie herausgenommen und braucht dann dauerhaft eine andere Unterbringung.“ Natürlich gebe es dafür auch die stationäre Möglichkeit in Heimen. „Aber ich glaube, dass es für die Kinder und Jugendlichen immer zielführender ist, wenn wir sie in Pflegefamilien behütet unterkommen lassen, damit sie dann wirklich auch eine zweite Chance bekommen“, sagt die Senatorin.
Wobei zusätzlich zu bedenken ist, dass für Städte und Kommunen die Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien finanziell deutlich günstiger ist als der Heim-Aufenthalt. „Bei einem Heimplatz reden wir von ungefähr 200 Euro täglich – Tendenz steigend“, sagt Silvia Viernickel vom Erfurter Jugendamt. „Trotz intensiver Werbung gibt es für immer mehr Kinder, die am besten in einer Pflegefamilie aufwachsen würden, immer weniger Familien. Dieser Trend muss sich umkehren“, so das Credo des genannten Pflegekinderhilfe-Appells.

Dass die Lösung des gesellschaftlich brisanten Themas Pflegekinder wohl nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden kann, lässt sich aus Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2022 ableiten. Denn die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Veranlassung der Jugendämter in Obhut genommen wurden, hatte 2022 einen neuen Höchststand erreicht, wobei vor allem die Gruppe der unbegleitet einreisenden Minderjährigen für einen Anstieg von zwölf Prozent auf insgesamt rund 74.600 Fälle gesorgt hatte. Mehr als jede zweite Inobhutnahme war direkte Folge einer unbegleiteten Einreise, ohne diese migrationsbedingten Fälle (rund 39.300) wäre die Zahl der Inobhutnahmen laut dem Bundesamt allerdings sogar um sieben Prozent gesunken. Als Hauptgrund für die Inobhutnahme wurde in 36 Prozent der Fälle eine akute Kindeswohlgefährdung registriert. Auch die Überforderung der leiblichen Eltern (22 Prozent), Hinweise auf Vernachlässigung der Kinder (zehn Prozent), Anzeichen für körperliche Misshandlungen (neun Prozent) oder Beziehungsprobleme der Eltern (sieben Prozent) spielten dabei oft eine wesentliche Rolle. Knapp die Hälfte (47 Prozent) der Kinder und Jugendlichen, von denen nahezu jeder Zweite zuvor in einer Familie oder einem privaten Haushalt gelebt hatte, wurde in einem Heim oder einer vergleichbaren Einrichtung untergebracht, deutlich weniger in Pflegefamilien.
Damit nicht genug war 2022 auch das Jahr, in dem die Zahl junger Menschen, die außerhalb ihrer biologischen Familie gelebt hatten, erstmals seit 2017 wieder angestiegen (um rund 7.500 Fälle oder vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr), was laut dem Statistischen Bundesamt ebenfalls vor allem auf unbegleitet einreisende Minderjährige zurückgeführt werden konnte. Insgesamt rund 215.000 Kinder und Jugendliche, davon rund 128.000 in Heimen und 87.000 in Pflegefamilien, waren demnach 2022 zumindest zeitweise außerhalb ihrer Herkunftsfamilie untergebracht gewesen. Womit allerdings noch nicht der Höchststand aus dem Jahr 2017 mit rund 240.000 jungen Menschen wieder erreicht wurde.
Pflegegeld zu gering?
Während jüngere Kinder bis elf Jahre häufiger in Pflegefamilien betreut wurden, überwog ab dem zwölften Lebensjahr die Heimerziehung. Etwa die Hälfte der jungen Menschen, die 2022 außerhalb der biologischen Familie aufwuchsen, war jünger als 15 Jahre, minderjährig waren fast vier Fünftel der Betroffenen, während die sogenannten Careleaver den Rest ausmachten, also junge Volljährige, die sich am Übergang aus der öffentlichen Erziehungshilfe in ein selbstständiges Leben befanden. Insgesamt wuchsen etwas mehr Jungen als Mädchen außerhalb der leiblichen Familie auf, bei der es sich in fast jedem zweiten Fall um eine alleinerziehende Person gehandelt hatte. Die durchschnittliche Verweildauer außerhalb der eigenen Familie wurde auf 2,4 Jahre taxiert, in Heimen auf 1,8 Jahre, in Pflegefamilien auf 4,2 Jahre. Als Hauptgründe für Neu-Unterbringungen wurden der Ausfall der Bezugspersonen (sogenannte Unversorgtheit infolge einer unbegleiteten Einreise oder der Erkrankung eines Elternteils; 30 Prozent) sowie die Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, körperliche beziehungsweise psychische Misshandlung oder sexuelle Gewalt genannt (15 Prozent).
Für die personell laut einer Umfrage von „Report Mainz“ größtenteils auf dem Zahnfleisch gehenden Jugendämter stellen die wachsenden Zahlen der Pflegekinder ein riesiges Problem da. Besonders die Lücke von jährlich etwa 4.000 fehlenden Pflegefamilien können die Verantwortlichen aktuell kaum mehr füllen.
Für das abnehmende Engagement möglicher Interessenten werden die verschiedensten Gründe angeführt, beispielsweise das Renten-bedingte Ausscheiden vieler bisheriger Pflegeeltern der geburtenstarken Jahrgänge, die allgemein schwieriger werdenden familiären Verhältnisse oder die wachsende Unlust auf bürokratische Auseinandersetzungen mit Vertretern des Jugendamtes. In Berlin hatten verschiedene Bezirke zudem die gestiegenen Energiekosten, den prekären Wohnungsmarkt oder auch die Auswirkungen des Ukraine-Krieges als mögliche Ursachen für den Rückgang des Pflegeeltern-Engagements ins Feld geführt. Doch letztendlich geht es um das liebe Geld. Denn potenzielle Pflegeeltern halten völlig zu Recht die bisherige Vergütung, die noch dazu von Kommune zu Kommune unterschiedlich hoch ausfallen kann, für völlig unzureichend. Das allein für den Bedarf des Kindes vorgesehene Pflegegeld kann den Verdienstausfall, der durch Reduktion der Arbeitszeit wegen der zeitaufwendigen Betreuung des Pflegekindes entsteht, nicht auffangen, auch die Altersvorsorge wird durch das geringere Einkommen geschmälert.