Warum die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar ein biologisches Experiment ist
Wohl selten hat der Kommerz so zugeschlagen wie bei der Vergabe der Fußball-WM nach Katar. Flapsig formuliert, Moneten statt Moral. Der internationale Sport hat in diesem Jahrtausend alles getan, um dem Wüstenstaat zur Sportgroßmacht zu verhelfen. Sogar sportfachliche Basics wurden missachtet. Erst nach erfolgter Wahl dämmerte es, dass eine Fußball-WM bei über 40 Grad nicht machbar ist. Die Bundesliga wird erstmals für ein großes Turnier unterbrochen.
Wie ist die Wüsten-WM aus trainingswissenschaftlicher und medizinischer Sicht zu beurteilen? Dazu muss man wissen, dass die in internationalen Wettbewerben vertretenen Vereine von Ende August bis eine Woche vor Beginn der Weltmeisterschaft im November ständig im 3-bis 4 Tagerhythmus spielen müssen. Also englische Wochen im Dutzend! Den Engländern ist das noch nicht genug. Bereits eine Woche nach dem WM-Finale setzen sie am 26. Dezember, dem traditionellen Boxing Day, ihre Saison fort.
Drei oder vier englische Wochen sind üblich und auch medizinisch vertretbar. Es ist aber ein Novum und außergewöhnlich, bis acht Tage vor einer Weltmeisterschaft zweimal wöchentlich über einen Zeitraum von mehreren Monaten ohne Unterbrechung zu spielen. Despektierlich gesprochen ist diese Winter-WM ein biologisches Experiment. Im Fußball existieren bisher keine Studien über die Auswirkungen eines derart dichten Spielkalenders über eine so lange Periode. Der Internationale Fußballverband FIFA hat uns ein Vabanquespiel mit unsicherem Ausgang beschert.
Englische Wochen über kürzere Perioden wurden mehrfach analysiert und lieferten unterschiedliche Ergebnisse. Lange Phasen englischer Wochen beeinträchtigen die körperliche Leistungsfähigkeit, was in erster Linie auf zunehmende Müdigkeit infolge inadäquater Erholung zurückgeführt wird. Darüber hinaus wird unter anderem über eine Beeinflussung der neuromuskulären Funktion spekuliert, was wiederum technische Fähigkeiten beeinträchtigen und das Verletzungsrisiko erhöhen kann. Immunologisch kann das Phänomen des open window, eine vorübergehende Schwächung des Immunsystems nach intensiven Belastungen, zu gehäuften Infekten führen.
Rotieren, aber nicht verlieren. Das kann zur Zauberformel werden, um die individuelle Belastung zu reduzieren. Die neue Regelung, bis zu fünf statt drei Spieler pro Spiel auswechseln zu können, erleichtert die Belastungssteuerung. 55 Spiele pro Saison gelten als Richtwert. Manche Spieler sind aber durchaus in der Lage, bis zu 70 Spiele zu absolvieren. Eine intelligente Rotation berücksichtigt die unterschiedliche Belastungsverträglichkeit. Ein erfahrener Trainer erkennt überforderte Spieler rechtzeitig und bespricht sich mit dem Arzt, der krankhafte Ursachen ausschließt. Nicht zu vergessen, die Datenanalysten haben in dieser Zeit Hochkonjunktur.
Willkommen am Stammtisch. Fußballprofis können doch gar nicht überlastet werden, da sie so viel Geld verdienen. Doch Geld korreliert nicht mit Belastbarkeit. Ob Millionär oder Bettler – der Körper nimmt sich, was er braucht. Auch ein Weltklassesprinter in der Leichtathletik kann nicht beliebig viele Wettkämpfe bestreiten, obwohl er sehr viel weniger läuft als ein Fußballprofi. Selbst ein Fußballtorwart mit wenigen Ballkontakten kann nach einem Spiel ausgepowert sein.
Ich fürchte, nicht die beste Mannschaft wird Weltmeister, sondern jene mit den wenigsten verletzten Spielern. In den fünf großen europäischen Fußballligen ist die Zahl der Verletzungen in der Saison 2021/22 um 20 Prozent angestiegen. Der überladene Spielkalender hat bereits jetzt zu teilweise schweren Verletzungen prominenter Spieler geführt, die bei der kommenden WM ausfallen. Und es werden noch mehr werden. Ursachen siehe oben! Es gibt kein Entrinnen aus dem nationalen und internationalen Fußballkalender.
Ein halbes Dutzend europäischer Teams gehört zum Favoritenkreis, einen Schritt weiter scheinen bereits die beiden südamerikanischen Teams Argentinien und Brasilien zu sein. Es wird eine Fußballlotterie werden. Sollte es eine Invaliden-WM werden, trägt die FIFA die alleinige Verantwortung.