Wo die Pistazienbäume weinen: Auf Chios ernten die Bauern ein aromatisches Baumharz. Seit der Antike ist die griechische Ägäis-Insel vom Anbau von Mastix geprägt. Die seltene Kostbarkeit aus der Natur kommt bis heute in Küche und Kosmetik zum Einsatz.
Mal trägt der Wind den Geruch aufgeplatzter überreifer Feigen herbei, mal duftet es nach abgeknickten Wacholderblättern. Mal schmeckt die Luft nach dem am Wegrand blühenden Fenchel, mal danach, als röste ein Inselkoch einige Zweige Oregano und Thymian, das hier wie Unkraut wuchert. Ein kurzes Schnuppern, und da ist es: Noch ein Aroma destilliert die flirrende Nachmittagshitze des Spätsommers aus der hügeligen Landschaft, deutlich schwerer und würziger. Es scheint, als würden gerade alle Fenster einer Klosterkirche geöffnet, um nach der mit absurd viel Räucherwerk gefeierten Messe schnell mal richtig durchzulüften. Also immer der Nase nach, auf winzigen Sträßchen über sieben Berge bis nach Pyrgi, weil es geheißen hatte, die Bauern hier hätten von allen Menschen der Insel den besten Riecher. Doch das Kaffeehaus des Dörfchens, das Kafenio, in dem sich normalerweise am Nachmittag die Männer mit Mokka stärken oder für eine Runde Backgammon treffen, ist verwaist. Sie haben eben zu tun. Im Sommer, wenn die Mastixsträucher weinen und ihr Harz abgeben, beginnt auf Chios die hektischste Zeit des Jahres. Einmal getrocknet wird die Ernte aufgesammelt, sortiert und geputzt – eine Träne nach der anderen, und alles von Hand.
Im Sommer beginnt die Ernte
Wer mithelfen will, muss früh aufstehen, zum Schutz der Knie eine lange Hose anziehen und einen langen Atem haben. Die Gewinnung von Mastix, dem Harz der Wilden Pistazie, ist harte Arbeit. „Wer schnell ist, schafft pro Stunde gerade mal drei Sträucher“, sagt Giorgos Vasilikos, der mit seiner Familie stolze 4.000 davon besitzt oder gepachtet hat. Noch vor Sonnenaufgang machen sich der 37-Jährige und sein Vater Pantelis deshalb auf den Weg. Früher ritten die Bauern im Süden auf ihren Eseln zu den Feldern mit den Mastixsträuchern. Heute holpern Pritschenwagen durch die Dämmerung. Doch die Prinzipien des Anbaus sind auf der Insel immer noch die gleichen wie vor mehr als 2.000 Jahren.
In Reih und Glied stehen die Sträucher mit den immergrünen dunklen Blättern auf den Feldsteinterrassen. Die Veteranen unter ihnen, oft mehr als 75 Jahre alt, verrenken ihre knorrigen Stämme, als seien es zu groß geratene Bonsai-Bäume. Damit das kostbare Harz auf den Boden tropft und nicht auf andere Äste, werden die Büsche immer wieder zurechtgestutzt. Als deckten sie den Tisch, bringen die Bauern darunter weißen Kalk aus – die Ernte soll möglichst wenig mit Erde verunreinigt werden. „Kurz vor der heißesten Zeit des Jahres ritzen wir dann die Äste ein. Und warten, bis Harz aus der verletzten Rinde austritt“, meint Giorgos Vasilikos. Wenn ein Großteil des ätherischen Öls verdunstet ist, kann er das getrocknete Harz dann einsammeln – auf dem Boden kniend und möglichst früh am kühlen Morgen, wenn die weißen Klumpen hart und weniger klebrig sind.
In der Antike wurden die „Tränen von Chios“ als edles Produkt des Mittelmeers gerühmt. Der Legende nach begannen die Sträucher zu weinen, als der zum Christentum konvertierte römische Soldat Isidor dort enthauptet wurde – heute ist der standhafte Märtyrer der Schutzpatron der Insel. Doch bereits im Alten Testament wird das Harz als kostbare Ware gepriesen. Perser, Osmanen und Genuesen zogen in den Krieg, um sich das Monopol für den Handel mit dem Duftstoff zu sichern. Bis heute stehen entlang der wilden Westküste der Ägäis-Insel auch Dutzende von Wachtürmen aus dem Mittelalter Spalier. Sie sollten die Insulaner, vor allem aber ihr weißes Gold, vor Piratenüberfällen schützen.
Wirksamkeit in Studien belegt
Mit Mastix heilten die besten Ärzte der Antike Brandwunden, Hautprobleme und Magenverstimmungen. Es wurde ein Genussmittel für alle, die es sich leisten konnten – auch der Wein der Gladiatoren von Rom wurde damit aromatisiert. Doch die größten Abnehmer waren immer im Orient: In Istanbul bestellte der Sultan gleich tonnenweise Mastix als Kaugummi für seinen Harem. Herb, wunderlich-würzig schmeckt das Harz, das bis heute von Köchen und Medizinern eingesetzt wird. Doch auch wenn man es längst woanders versucht hat: Bis heute klappt der Anbau nur im hügeligen Süden von Chios richtig gut.
Zwar gedeihen die mit der Echten Pistazie verwandten Sträucher auch an anderen Stellen im Mittelmeer. „Doch dort produziert die Art Pistacia lentiscus eben nicht annähernd so viel Harz wie bei uns“, erklärt Ilias Smyrnioudis, der bei der Kooperative der Mastixbauern für die Forschung zuständig ist. Es kommt viel zusammen: Das Know-how der Bauern, das Mikroklima – genügend Regen im Winter, viel Wind und Hitze im Sommer – und die daran angepassten Sorten.
„Aktuell verarbeiten wir 200 Tonnen im Jahr“, meint Ilias Smyrnioudis. Verkaufen könnte er deutlich mehr. „Inzwischen ist Mastix mehr als ein Genussmittel. Auch die pharmazeutische Industrie kommt auf den Geschmack, weil die Wirksamkeit von Mastix in immer mehr wissenschaftlichen Studien belegt wird.“ Nachdem man sich lange Zeit nicht mehr für Mastix interessierte, gibt es jetzt also plötzlich einen regelrechten Boom.
Deswegen ist auch Giorgos Vasilikos zurück auf seiner Insel und wohnt wieder mit der Familie in Pyrgi, einem der Mastixdörfer im Süden von Chios. Wie viele junge Leute ist er zum Studium nach Athen gegangen und hat dort als Programmierer gearbeitet. Doch nun ist es wieder lukrativ geworden, das Harz der Mastixsträucher zu ernten. Für ein Kilogramm erhalten die Bauern gut 100 Euro. Doch bis es soweit ist, heißt es erst einmal warten: Nach sieben Jahren liefert ein Strauch gerade mal 50 Gramm Harz. Bis es 250 Gramm sind, braucht es ganze 30 Jahre. Und nach der Ernte geht die Arbeit erst richtig los.
Je weniger das Harz durch Blätter, Erde und Rinde verunreinigt ist, desto höher der Preis. Den ganzen Herbst und Winter, manchmal sogar noch im Frühling, sieht man in den Mastixdörfern im Süden von Chios deswegen Menschen, wie sie die Ernte sortieren – erst mit einem Sieb, dann von Hand. So hängt der Mastix-Duft fast das ganze Jahr wie eine Dunstglocke über den Dörfern. Noch herber als das von Kräutern ist dieses Aroma, viel intensiver als das von Blumen. Der Duft dringt aus Wohnstuben und Abstellräumen in das Labyrinth aus Sackgassen, das bewusst so verwirrend angelegt worden ist. Eindringlinge sollten sich darin nicht zurechtfinden, um ja keinen der weißen Klumpen stehlen zu können.
Mastixsirup in kaltem Wasser
Inzwischen steckt Mastix in Seifen und Sonnenschutzmitteln, Zahncremes und Gesichtslotionen. Doch die innige Liebe der Chioten zu Mastix geht vor allem durch den Magen. Im Tal von Kambos verstecken sich hinter meterhohen Sandsteinmauern einst von den Genuesen angelegte Zitrusgärten. Dort verkauft die „Konditorei Thea Evangelia“ neben in Zuckerwasser eingekochten Mandarinen und Orangen auch Matsouraki-Kekse und Tsoureki, eine Art Hefezopf – beides natürlich mit reichlich Mastixpulver. In der „Oz Bar“ von Chios-Stadt nutzen Michalis Neamonitakis und Giannis Milotis das Harz für preisgekrönte Cocktails – das Aroma des Harzes passt sowohl zu süßen als auch zu bitteren Drinks. Und George Passas von der Taverne „O Passas“ im Küstenort Lagada verfeinert mit Mastix seine helle Sauce, die dann perfekt zum gegrillten Fisch passt.
Selbst wer bei ihm an einem heißen Tag nur etwas Kühles trinken will, kommt an Mastix nicht vorbei. Stammgäste bestellen einen Ypovrichio – also ein U-Boot. Was es damit auf sich hat? Ein Löffel Mastixsirup wird in einem Glas eiskaltem Wasser aufgelöst. Das erfrischt nicht nur – sondern duftet auch verführerisch.