Weitwandern ist eine besonders nachhaltige Form des Wintersports. Im Unterengadin erlebt man nicht nur eine wunderschöne Landschaft, sondern entdeckt unterwegs auch ein paar ungewöhnliche Museen.

Da stapft man ein, zwei Stunden durch eine einsame, verschneite Winterlandschaft und plötzlich steht man vor riesigen, poppig-grellen Gemälden, die mit den Farben des Regenbogens experimentieren. Überall sonst, in Kunstmetropolen wie Basel oder Bern, würde man eine Retrospektive der ungarischen Künstlerin Ilona Keserü erwarten. Aber doch nicht in einem archaischen Bergdorf auf 1.434 Metern Höhe im hintersten Winkel von Unterengadin. Wie konnte sich die Avantgardekunst nach Susch verirren, einem Bergdorf mit kaum mehr als 200 Einwohnern?

„Dafür gibt es eine einfache Erklärung“, sagt die Mitarbeiterin des „Muzeum Susch“, die diese Frage immer wieder beantworten muss. „Nachdem die polnische Sammlerin Grażyna Kulczyk ihr Museumsprojekt nicht in Warschau verwirklichen konnte, hat sie es einfach 2019 hier in Susch realisiert, wo sie auch zeitweise wohnt.“ Die Museumsgründerin will vor allem Kunst von Osteuropäerinnen sichtbar machen. Dazu erwarb sie ein früheres Kloster, das um 1157 auf dem Pilgerweg nach Rom und Santiago de Compostela entstand und später noch eine Brauerei dazu bekam. Heute pilgern Kunstfans aus Genf oder Zürich hierher, um die ambitionierten Ausstellungen zu besuchen. Wobei allein schon die minimalistische Innenarchitektur des archaischen Gebäudes mit unterirdischen Felsgrotten beeindruckt.
Grandiose Gebirgslandschaft

Erst recht, wenn man sie zufällig beim Winterweitwandern entdeckt. Dabei geht es um eine unkomplizierte, nachhaltige Form des Wintersports, für die man nicht viel mehr braucht als ein Paar gute Schuhe. Und bei der man vielleicht auch den Kopf frei bekommt. Dafür bietet sich die Via Engiadina an. In vier Etappen führt sie am Inn entlang durch die grandiose Gebirgslandschaft des Unterengadin von einem Dorf zum anderen. Die Wege sind präpariert und gut ausgeschildert, die Steigungen mäßig. Sollte es dennoch zu beschwerlich werden oder heftig schneien, kann man unterwegs in die Rhätische Bahn oder ins Postauto steigen. In Pauschalen mit vier Übernachtungen ist außerdem der Gepäcktransfer inbegriffen.
Startpunkt der Weitwanderung ist in Zernez am Ofenpass auf 1.400 Metern, das sich als Tor zum Schweizer Nationalpark vermarktet. Das Nationalparkzentrum in einem hermetischen Kubus stimmt mit anschaulichen interaktiven Inszenierungen auf die Landschaft, ihre Flora und Fauna ein. Schön anzusehen, gewiss. Aber wer sich auf den Weg macht, für den ist es erst mal weniger idyllisch. Auf den ersten Metern entlang der Straße spritzt der Schneematsch von vorbeifahrenden Autos hoch, am frühen Morgen hängt eine dicke Wolkendecke am Himmel, und es ist eisig kalt. Schließlich zweigt von der Straße ein Pfad ab und führt ganz gemächlich zum Inn, der sich tief unten im Tal durch die tief verschneite Landschaft schlängelt. Es knirscht bei jedem Schritt. An manchen Stellen ist Vorsicht geboten, Rutschgefahr. Doch bald hat es etwas Meditatives, durch die weiße Einsamkeit zu stapfen. Rechts und links ächzen riesige Tannen unter der Last des Schnees, immer wieder ist das Rauschen des Flusses zu hören, aber weit und breit ist niemand zu sehen. Bis die ersten Häuser von Susch auftauchen.
Herrschaftliche Häuser

Ein hübscher Weiler am Flüela-Pass. Lauter herrschaftliche Häuser gruppieren sich am Flussufer um zwei mittelalterliche Türme herum. Typisch für das Engadin sind die jahrhundertealten, massiven Gebäude aus Stein, die bodenständig wirken und dennoch eine gewisse Grandezza ausstrahlen. Dazu trägt die Sgraffito-Technik bei: Die Fassaden werden mit schützendem Kalkputz überzogen, aus dem dann verschiedene Muster, Ornamente oder florale Motive herausgekratzt werden. Jedes Haus ein Schmuckstück.
Auffällig schmucklos ist dagegen der weiße Turm aus Marmor, der aus dem Häuserensemble herausragt: Innen hohl und begehbar ist er das Erkennungszeichen des „Muzeum Susch“.
Nach dem Besuch und einem heißen Tee in der urigen Cafeteria geht es von hier weiter in Richtung Guarda. Inzwischen sorgt die Sonne für Festbeleuchtung im Tal. Der Schnee funkelt, die Tannen werfen bizarre Schatten ins weiße Pulver – mehr Wintermärchen geht nicht.
Im Bergsteigerdorf Lavin sind die Häuser noch stattlicher, wahre Paläste mit einem Hauch Italianità. „Ja, sie gehen ja auch auf die Zuckerbäcker zurück“, sagt eine Mitarbeiterin in der Bäckerei, die gerade frische Nusstorten ins Regal sortiert. Im 17. Jahrhundert sollen viele arme Engadiner ihre Heimat verlassen haben, um sich in Venedig oder Piacenza, wo nach der Pest Mangel an Arbeitskräften herrschte, als Konditoren zu verdingen. Später kamen sie mit gut gefüllten Brieftaschen zurück und ließen sich stolze Häuser errichten. Die manchmal wie zuckersüße Torten aussehen.

Heute ist Lavin mit seinem unkonventionellen Bistro in der Bahnhofshalle und dem per Crowdfunding geretteten Hotel „Linard Lavin“ auch ein Geheimtipp für Literatur-, Kino- oder Jazzfans. Noch ein Blick in das Kirchlein San Güerg mit Fresken aus dem 16. Jahrhundert, dann wird es Zeit für die letzte Tagesetappe nach Guarda, das hoch oben von einem Sonnenplateau auf 1.650 Metern grüßt. Was für eine Wohltat, nach 16, zuletzt doch recht beschwerlichen Kilometern in einer behaglichen Bleibe wie dem historischen „Hotel Meisser“ anzukommen und bei heißem Kakao die Sonne untergehen zu sehen. Noch schöner ist es am Morgen, wenn sie beim Frühstück im Jugendstilsaal hinter den Gipfeln des Silvrettamassivs und der Engadiner Dolomiten hervorlugt. Der Anblick der Dreitausender begleitet einen auch auf der weiteren langen Strecke nach Scuol. Auf dem Weg liegen auch Ardez und Ftan, ein Ort schöner als der andere, voll reich verzierter Bauernhäuser mit allerlei Sinnsprüchen an den Fassaden. „Da tuot quels chi passan chi est tü?“ – „Von allen, die hier vorüberkommen, wer bist du?“, werden die Passanten gefragt. Selbstverständlich auf Rumantsch beziehungsweise Vallader, dem rätoromanischen Idiom, das im Unterengadin offizielle Amtssprache ist. Brot kauft man hier in der Furnaria, die Haare lässt man sich beim Cuafför schneiden, unterwegs grüßen die Vorübergehenden statt mit „Grüezi“ mit „Allegra“ oder „Bun di“.
Hochkarätige Kunst im Dorf Sent


In Scuol ist es dann erst recht mit der Bergeinsamkeit vorbei. Sportgeschäfte und Banken reihen sich in der Hauptstraße aneinander, mittendrin das Bogn Engiadina, eine opulente Bäderlandschaft, die sich aus dem Mineralwasser der Gegend speist. Nach der langen Wanderung ist es tatsächlich Balsam für die strapazierten Waden. Umso besser läuft es sich am nächsten Tag auf der letzten Etappe nach Sent. Und das Dorf ist ein Muss. Neben stattlichen Häusern überrascht es wieder mit hochkarätiger Kunst. Ausgerechnet im Gewölbekeller der unscheinbaren „Pensiun Aldier“ versteckt sich ein Giacometti-Museum mit über 200 druckgrafischen Lithografien und Radierungen von Alberto Giacometti, dazu Bronzen von Diego Giacometti. Weit und breit kein großes Schild, das darauf hinweist: Im Unterengadin scheint man das Understatement zu lieben.
Nur einer nicht: der Künstler Not Vital, der sich mit Schloss Tarasp, dem Wahrzeichen des Unterengadin, selbst ein Denkmal gesetzt hat. Weithin sichtbar auf einem Felsen thronend, bewacht den Eingang eine mehrere Meter hohe, phallusartige Rinderzunge, im Innern hängen neben Vitals eigenwilligen Porträts von Strawinsky und Beuys Werke von Andy Warhol, Daniel Spoerri, Miró oder Picasso. Die sich erstaunlich gut mit den prunkvollen Renaissance-Möbeln vertragen. „Viele halten den Künstler aus Sent, der abwechselnd in Peking, Rio de Janeiro und Tarasp lebt, für einen Spinner“, erinnert sich Anna Briner, die regelmäßig Interessierte durch die verschachtelten Räume führt. Heute sei man dagegen erleichtert, dass Vital 2016 die tausendjährige Burg aus dem Dornröschenschlaf erweckt und in ein Mekka der zeitgenössischen Kunst verwandelt hat. Tja, und so kann, wer einfach nur ein paar Tage durch den Graubündner Winter streifen wollte, ganz nebenbei noch Museumshopping betreiben.