20 Jahre ist es her, dass Lille den Titel Kulturhauptstadt Europas trug. Seitdem hat sich die Hauptstadt der Region Hauts-de-France zur trubeligen Metropole entwickelt, die ein stimmiges Gesamtbild abgibt – mit Geschichte, Savoir-vivre und Kultur in allen Facetten.
Repräsentativer könnte ein Platz kaum daherkommen als der „Grand’Place“ in Lilles Zentrum, eigentlich „Place du Général de Gaulle“ – nach dem berühmten Sohn der Stadt benannt, der hier 1890 geboren wurde. Eingefasst von Prunkbauten, darunter die Vieille Bourse und das Théâtre du Nord, ragt in der Mitte die „Colonne de la Déesse“ auf, die Säule mit der Bronzestatue einer Göttin. Und erinnert an die erfolglose Belagerung der Stadt Lille durch österreichische Soldaten während der Französischen Revolution. Die Göttin hält eine Kanonenlunte – und symbolisiert so den Widerstand der Stadt und ihrer Bürger gegen die versuchte Einnahme.
Umkämpft wurde die Stadt seit ihrer ersten Erwähnung in der Mitte des 11. Jahrhunderts so einige Male, obwohl sie umgeben vom Fluss Deûle an strategisch günstigem Ort geründet worden war. Im Frühmittelalter war sie eine der Hauptstädte der Grafschaft Flandern, ging dann an das Haus Burgund, später zu den Spanischen Niederlanden und nach dem Frieden von Aachen 1668 zu Frankreich. Militärbaumeister Vauban ließ die Befestigungsanlagen der Stadt zu einer fünfeckigen Zitadelle ausbauen, zu ihrer Zeit eine der stärksten und uneinnehmbarsten in Europa.
Prachtbau im Belle-Époque-Stil
Nach der Französischen Revolution dauerte es nicht lange, bis die Stadt einen Eisenbahnanschluss bekam. Und durch den intensiven Kohleabbau in der Region und die Industrialisierung der Textilherstellung in Lille und den dazugehörigen Vororten wuchs die Stadt enorm. Allein in rund 20 Spinnereien waren etwa 15.000 Arbeitskräfte beschäftigt– teilweise unter katastrophalen Bedingungen. Mit dem Niedergang der Textilproduktion ab den 1950er-Jahren und der Stilllegung der Kohleminen ging es mit Lille jedoch vorübergehend bergab. Arbeitslosigkeit, verfallende Häuser und Kriminalität bewirkten, dass die Stadt innerhalb Frankreichs nicht den besten Ruf genoss. Universitäten und Grandes Écoles, Banken und Behörden sorgten aber für die Entstehung neuer Arbeitsplätze, und die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas sollte eine nachhaltige Wende einleiten, deren Ende auch heute längst noch nicht abzusehen ist.
2004 wurde in Lille und der gesamten Region ein ganzes Jahr mit unterschiedlichsten Kulturevents gefeiert, allein zum großen Eröffnungsfest kamen rund 750.000 Neugierige. Teil des Kulturhauptstadt-Konzepts waren unter anderem die sogenannten Maisons Folie, Kultur- und Begegnungszentren in stillgelegten Fabriken und Spinnereien sowie einer ehemaligen Kirche. Eine Erfolgsgeschichte, auch weil die neu geschaffenen Kultur- und Kreativorte nachfolgend für Events beim Festival „Lille 3000“ genutzt wurden. Das alle drei Jahre Theater, Tanz, Performances und Ausstellungen unter anderem im Le Tripostal, einem ehemaligen Postamt, oder dem früheren Güterbahnhof Gare Saint-Sauveur präsentiert. Kein Wunder, dass Lille als lebendige und weltoffene Großstadt längst angesagtes Reiseziel ist.
Egal, ob man mit dem Eurostar am Bahnhof Euralille mitten in einem hochmodernen Geschäftsviertel ankommt, oder aus einem Regionalzug am Bahnhof Lille-Flandres mit seiner neoklassizistischen Fassade steigt, die trublige Atmosphäre ist sofort spürbar. Von Lille-Flandres zieht sich ein breiter Boulevard Richtung Opéra de Lille, einem Prachtbau im Belle-Époque-Stil, gleich daneben die Handelskammer von 1903, gebaut im flämischen Stil samt Glockenturm. Noch überwältigender: die Vieille Bourse, die alte Börse, die fast komplett eine der Langseiten am Grand’Place einnimmt. 1653 wurde der aufwendige Bau mit seiner verzierten Fassade und den kleinen Türmchen fertigstellt – eines der beliebtesten Fotomotive in Lille.
Wenn man sich schließlich am architektonischen Zusammenspiel aus flämischem Barock, Klassizismus und Belle Epoque sattgesehen und in einem der zahlreichen Cafés am Grand’Place eine Pause eingelegt hat, dann geht es weiter in noch ältere Viertel der Stadt. Durch Sträßchen mit Kopfsteinpflaster. Hier reihen sich schmale Häuser, mal aus Backstein, mal mit gelb, rot oder blau getünchten Fassaden aneinander. Die bieten den stilsicheren Rahmen für die eine oder andere Nobelmodemarke wie auch eine von Lilles Institutionen, die „Huitrière“, ein ehemaliges Fisch- und Delikatessengeschäft von 1928 und heute Vuitton-Boutique mit kunstvollen Jugendstil-Mosaiken im Inneren. Ein paar Laufminuten weiter und man ist am Place aux Oignons, dem „Zwiebelplatz“ angelangt. Dessen französischer Name tatsächlich auf das lateinische „dominium“ zurückgeht und auf die Turmhügelburg weist, die es an der Stelle im frühen Mittelalter wohl gab. Heute bezaubert der kleine Platz nach einem gründlichen Facelifting durch die mit hellem Stein abgesetzten Backsteinfassaden, Laternen, Blumenkästen und durch den gelungen Mix aus rustikal-flämischen Restaurants und Kunstateliers. Einmal um die Ecke gebogen und man steht vor der Kathedrale Notre-Dame-de-la-Treille. Mehr als 150 Jahre lang wurde an ihr gebaut, doch auch gerade angesichts zweier Weltkriege waren die finanziellen Mittel so knapp, dass man Ende des 20. Jahrhunderts einen Schlussstrich unter die Bauarbeiten und eine schlichte moderne Fassade vor die Kirche setzte. Ein Blick hinein lohnt jedoch, schon allein wegen des riesigen Rundfensters, gestaltet von Ladilas Kijno. Das in Gelb- und Orangetönen gehaltene Werk mit abstrakten Motiven aus der Passions- und Heilsgeschichte taucht den Innenraum je nach Tageszeit und Wetter in unterschiedlich warmes Licht.
Lust auf eine Fahrt mit der vollautomatischen U-Bahn, auf die man in Lille so stolz ist? Zwei Stationen sind es vom Bahnhof Lille-Flandres zum Palais des Beaux-Arts, ein überwältigender Museumsbau, der am Place de la République residiert. Neben einer Sammlung historischer Stadtmodelle wird Kunst von der Antike bis ins 21. Jahrhundert präsentiert. Locker könnte man hier einen Tag verbringen. Aber es gibt ja noch so viel mehr zu sehen!
Stadt der tausend Schornsteine
Beispielsweise, wenn man die Metrolinie 2 bis nach Roubaix nimmt. Im 19. Jahrhundert wurde die kleine Stadt, die zum Großraum Lille mit über drei Millionen Einwohnern gehört, als „ville de 1.000 cheminées“, als „Stadt der tausend Schornsteine“ bezeichnet. Auf dichtestem Raum gab es hier rund 270 Fabriken und Werkstätten – von der Spinnerei über die Färberei bis zur Weberei. Ebenso dicht lagen die Behausungen der Textilarbeiter beieinander, schlechte Luft und katastrophale Arbeitsbedingungen sorgten für einen hohen Krankenstand und eine enorme Kindersterblichkeit.
Vor diesem Hintergrund stieß Jean-Baptiste Lebas, der Bürgermeister von Roubaix, in den späten 1920er-Jahren den Bau eines Schwimmbads an – vor allem, um den Textilarbeitern und ihren Familien die Möglichkeit zu geben, regelmäßig zu baden und Sport zu treiben. Albert Baert entwarf ein Gebäude im Art-déco-Stil, mit gewölbter Überdachung und Seitenschiffen erinnerte es geradezu an einen Kirchenbau. Auch weil in der Schwimmhalle selbst das Licht durch zwei riesige, kunstvoll gestaltete Fenster auf das Wasserbecken fällt, und zwar aus Rosetten, die den Sonnenauf- und -untergang darstellen. 2001 wurde das zuvor sorgfältigst restaurierte Gebäude als Museum eröffnet. Seitdem hat es sich zu einem der meistbesuchten Museen in ganz Frankreich entwickelt. „La Piscine“ präsentiert rund um das ehemalige Schwimmbecken, die Umkleidekabinen und die kleinen Bäder im Obergeschoss ausgewählte Gemälde und Skulpturen mit Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert – darunter Werke von Marc Chagall, Raoul Dufy, Auguste Rodin oder Alberto Giacometti. Ein weiterer Bereich ist den Arbeiten der „Roubaix-Gruppe“, Künstlern aus der Region, gewidmet sowie der Geschichte der Stadt und ihrem visionären Bürgermeister.
Werke von Chagall, Dufy und Rodin
Zurück geht es Richtung Lille – dieses Mal mit der Tram – und zwar bis nach Croix, einem weiteren Örtchen im Großraum. In einer ruhigen Seitenstraße liegt ein Meisterwerk der Architekturmoderne, das Robert Mallet-Stevens Ende der 1920er-Jahre für den Textilfabrikanten Paul Cavrois aus Roubaix entworfen hatte. Drei Jahre wurde an dem zweigeschossigen Haus gearbeitet, das wirkt, als sei es aus verschiedenen geometrischen Körpern zusammengesetzt. Die sandfarbene Ziegelverkleidung bildet den perfekten Kontrast zum umgebenden Grün des Parks mit seinem langgezogenen Wasserbassin. Ebenso revolutionär für damalige Verhältnisse wirkt die Innenausstattung. Die kann zwar – auch nach der Besetzung durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg und langem Leerstand ab den 1990ern- nicht vollständig gezeigt werden. Aber was an Innendekor, an Wandverkleidungen und Reliefs, an Böden und Mobiliar erhalten ist, verblüfft. Edle Materialien in den Wohnräumen – grüner Marmor aus Schweden beispielsweise und Birnenholz, metallene Leuchtkörper teilweise mit indirekter Beleuchtung, die in der damaligen Wohnarchitektur völlig neuartig war. Ebenso wie die technische Ausstattung mit drahtlosen Telefonen oder einem elektrischen Speiseaufzug.
Eine Führung lohnt sich, gerade weil man dabei viele Details zur Baugeschichte und einzelnen Objekten erfährt. Besucher können die Villa aber auch individuell erkunden und sollten im Anschluss unbedingt einen Rundgang durch den Park mit seinen Alleen und Wasserspielen machen. Ein Gesamtkunstwerk, das man wenige Kilometer von Lilles Stadtzentrum nicht unbedingt erwarten würde und das sich mit vielen anderen geschichtsträchtigen und kulturell spannenden Orten in und um Lille zu einem vielschichtigen Mosaik fügt.