In Zeiten von Krieg und Krisen können wir uns mit anderen Menschen verbünden, indem wir für deren Ziele und Interessen eintreten. Die Psychologin Ronja Demel spricht über solidarisches Handeln, die Empathie-Lücke und ihr aktuelles Forschungsprojekt.
Frau Dr. Demel, ein Mensch, der solidarisch handelt, nimmt Rücksicht auf andere, ohne einen Vorteil daraus für sich selbst zu ziehen. Deckt sich diese Definition mit Ihrem Solidaritätsbegriff?
Natürlich stimmt es, dass Rücksichtnahme ohne das Verfolgen eigener Ziele ein Teil von Solidarität ist. Aber dieser Solidaritätsbegriff – und das deckt sich mit vielen Definitionen – geht nicht weit genug. Rücksichtnahme wird innerhalb unseres moralisch-gesellschaftlichen Kodex erwartet. Wenn ich eine Person sehe, die Hilfe braucht, wird von mir erwartet, dass ich helfe. Unter Umständen kann es sogar strafbar sein, wenn ich Hilfe unterlasse. Solidarität beinhaltet über das reine Hilfeverhalten hinaus, dass ich eine Person oder eine Gruppe aufgrund ihrer Ziele und Anschauungen unterstütze und sie auch verteidige, wenn ihre Ziele oder Anschauungen angegriffen werden. Das heißt, Solidarität kann letztlich auch unbequem werden für mich selbst, denn ich muss mich potenziell mit Personen, die anderer Meinung sind als ich, auseinandersetzen. Gegebenenfalls muss ich auch zeitliche und monetäre Kosten in Kauf nehmen.
Was muss ein Mensch können, um solidarisch zu sein und handeln zu können?
Um mit einer Person oder Gruppe solidarisch zu sein, muss ich die Ziele beziehungsweise Zwecke nachvollziehen können. Zuerst muss ich verstehen, welche Ziele und welche Lebensrealität eine andere Person hat. Im nächsten Schritt kann ich mich fragen, wie ich dazu stehe. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, also zu verstehen, dass eine andere Person aufgrund ihrer Lebensrealität (Damit ist zum Beispiel eine bestimmte ökonomische Situation, eine bestimmte Hautfarbe qua Geburt oder ein religiöser beziehungsweise nicht religiöser Hintergrund gemeint, Anm. d. Red.) eine andere Perspektive als ich einnimmt, kann als ein Teil von Empathie gesehen werden. Die Kompetenz, die dafür notwendig ist und die wir im Laufe unseres Lebens lernen ist die Theory of Mind. Dieser Begriff beschreibt die Fähigkeit mentale Zustände anderer zu verstehen.
Also im Grunde etwas wie kognitive Empathie?
Das könnte man auch grob als kognitive Empathie, beziehungsweise den darunterliegenden Mechanismus, zusammenfassen. Theory of Mind bezeichnet die Grundkompetenz, die ich brauche, um überhaupt Perspektivenübernahme betreiben zu können. Die meisten Studien finden, dass man diese Kompetenz im Alter von vier, fünf Jahren erwirbt. Kinder in diesem Alter beginnen zu verstehen, dass eine andere Person nicht das Gleiche wie sie gesehen hat und deshalb bestimmte Dinge nicht weiß. Erst wenn ich das verstehe, dass eine andere Person andere Gedanken und Gefühle als ich hat, kann ich tatsächlich auch besser die Perspektive einer Person übernehmen. Das ist der kognitive Teil der Empathie.
Ist somit auch ein entscheidender Punkt in der Entwicklung eines Menschen das Selbstbewusstwerden darüber, dass andere anders denken, fühlen und handeln als ich selbst?
Absolut. Das ist sehr wichtig für unsere Entwicklung, dass ich verstehe, mein egozentrisches Weltbild muss nicht auf alle zutreffen. Im Laufe des Lebens wird es immer komplexer, weil ich in einer viel privilegierteren Situation sein mag als jemand anderes. Um überhaupt nachvollziehen zu können, dass eine Person Diskriminierung erfährt, braucht es erst einmal Verständnis für diese Perspektive, die sich von meiner unterscheiden mag. Im nächsten Schritt kann ich mich dann mit der betroffenen Person solidarisch zeigen, zum Beispiel weil ich finde, dass sie ungerecht behandelt wurde.
Wo beginnt eigentlich Solidarität?
Wenn ich zum Beispiel im Bus sitze und einer älteren Person den Sitzplatz anbiete, entspricht das dem moralischen Kodex nach dem wir handeln. Solidarität aber ist mehr als das, denn ich muss hinter der Überzeugung stehen, die ein gewisses Handeln vorgibt. Genauer gesagt muss ich das vertreten, für was eine Person oder Gruppe einsteht. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass echte Solidarität damit einhergeht, dass ich selbst Einbußen machen und meine Privilegien teilen muss.
Wenn ich sehr behütet und gut situiert aufgewachsen bin und davon ausgehe, dass jeder alles im Leben erreichen kann, dann blendet das aus, dass Menschen mit unterschiedlichen Chancen geboren werden und aufwachsen. Wenn ich mir dessen bewusst werde, kann ich mich entscheiden mich gegenüber einer anderen Person solidarisch zu zeigen. Das wiederum bedeutet, dass ich meine eigenen Privilegien hinterfragen muss. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ein Arbeitsplatz diverser werden soll, kann ich als nicht-behinderte, cis-männliche Person schlecht sagen, dass ich den Job haben will, wenn es jemanden gibt, der ebenso qualifiziert ist und weniger Privilegien genießt. Ansonsten würde ich Privilegien ausblenden, die damit einhergehen. Solidarität ist, wenn mein eigenes Hilfeverhalten über die gesellschaftliche Erwartung hinausgeht, ich hinter den Zielen stehe, die eine Bewegung oder Person vertritt und mögliche Kosten in Kauf nehme.
Wie wirkt sich das auf unsere Gesellschaft aus, wenn wir uns solidarisieren mit Erdbebenbetroffenen in der Türkei, mit Geflüchteten aus der Ukraine und mit Bootsflüchtlingen, die über das Mittelmeer reisen und oft auf die Hilfe anderer angewiesen sind?
Prinzipiell kann sich das positiv auf unsere Gesellschaft auswirken. Was wir auch in unserer Forschung finden, ist, dass hierbei ganz klar Unterschiede gemacht werden. Aktuell läuft unser Forschungsprojekt zum Krieg in der Ukraine. Wir sehen, dass Personen mit einer höheren Empathiefähigkeit erst einmal positiver gestimmt sind gegenüber Unterstützungsangeboten für ukrainische Geflüchtete. Das wiederum hängt mehr mit den emotionalen Aspekten der Empathie zusammen. Man nennt das empathische Anteilnahme, die dieses Verhalten begünstigt. Allerdings sehen wir auch – und das reiht sich in die Forschungsergebnisse anderer Forschenden ein –, dass Personen auch eine Empathie-Lücke, den sogenannten „Empathy Gap“ zeigen. Das bedeutet, dass ich Personen, die ich meiner Ingroup als zugehörig anerkenne, am meisten Empathie gegenüber zeige. Das kann aus ganz unterschiedlichen Gründen sein, sei es aufgrund der Nationalität, Hautfarbe oder Sprache. Personen, die wir als fremd wahrnehmen, die als Outgroup bezeichnet werden, zeigen wir weniger Empathie. Je fremder mir die Gruppe wird, desto mehr nimmt die Empathie ab. Da spielen auch rassistische Stereotype eine Rolle.
Können Sie Beispiele für die Empathie-Lücke nennen?
Wir haben beispielsweise gefunden, dass unsere deutsche Stichprobe sich den ukrainischen Geflüchteten näher fühlt als den syrischen Geflüchteten. In einer neuen Erhebung haben wir das um Religion erweitert. Wir sehen deutlich, dass muslimische Personen am meisten entfernt wahrgenommen werden. Wir als Deutsche machen tatsächlich Unterschiede, wie nah oder fern man sich einer Person fühlt. Das wirkt sich wiederum auf die Solidarität aus.
Wie kann Solidarität und Empathie gegenüber Geflüchteten selbstverständlich werden?
Als deutsche Gesellschaft würde es uns guttun, wenn wir noch mehr lernen, Unterschiede zu akzeptieren. Unsere Fähigkeit zur Empathie und Perspektivenübernahme könnten wir trainieren, damit wir akzeptieren, dass eine syrische Person genauso einen validen Grund hat nach Deutschland zu flüchten wie eine Person aus der Ukraine und dass sich der Wert einer Person nicht an deren Fluchtgrund knüpft.
Das Institut für Psychologie der Humboldt Universität zu Berlin beteiligt sich anlässlich des Ukraine-Krieges an einer noch nicht abgeschlossenen Panelstudie des interdisziplinären Forschungsverbundes der Berlin University Alliance. Was genau untersuchen Sie?
Wir haben relativ schnell nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im März 2022 angefangen, Daten für diese Studie zu erheben. Wir befragen immer die gleichen Personen zu den drei Politikfeldern Migration, militärische Unterstützung für die Ukraine und Energieversorgung. Wir fragen zunächst die Meinungen der Befragten ab und wie hoch ihre Toleranz ist für unterschiedliche Meinungen zu den Politikfeldern. Auch wenn der Krieg in Deutschland noch lange nicht so starke Auswirkungen hat wie in der Ukraine, hat man gemerkt, dass gerade zu Beginn die deutsche Bevölkerung sehr verunsichert auf Preiserhöhungen für Energie und Lebensmittel reagierte. Wir wollen zum einen wissen, worauf sich Meinungen gründen. Warum haben zum Beispiel bestimmte Personen an Demonstrationen teilgenommen? Warum sind sie dafür, dass wieder mehr in fossile statt erneuerbare Energien investiert werden soll? Wer ist anfällig für Verschwörungstheorien und Propaganda? Erst einmal sehen wir, dass die befragten Personen in vielerlei Hinsicht ähnliche Einstellungen zeigen. Überrascht hat mich, dass zum Beispiel Grünen-Wählerinnen und -Wähler wieder mehr Zustimmung zu fossilen Energieträgern zeigen. Der exogene Schock über den Krieg in Europa mag die Meinungen hierzu beeinflusst haben.
Wie viele Probanden befragen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen für die Studie?
Wir haben am Anfang über 2.000 Personen befragt. Die Probandinnen und Probanden wurden repräsentativ für die Gesamtbevölkerung anhand verschiedener Kriterien wie Geschlecht, Alter und Bundesland ausgesucht. Wir befragen immer die gleichen Personen. Das Problem bei diesen Langzeitstudien ist, dass man im Verlauf der Studie einige Leute verliert. Je länger man solche Befragungen macht, desto schwerer ist es, die Probandinnen und Probanden bei der Stange zu halten. Wir zählen aktuell immer noch mehr als 1.000 Personen, die an unseren Befragungen teilnehmen. Die Personengruppe ist ausreichend groß, um Aussagen über die gesamtdeutsche Gesellschaft treffen zu können.
Können Sie sagen, ob sich die Empathiefähigkeit der Befragten im Laufe des Panelstudien-Zeitraums verändert hat?
Wir haben tatsächlich Empathie mehrfach abgefragt, aber es ist schwierig das zu beantworten. Wir haben kein Maß vor dem Krieg, weil die Studie erst kurz nach dem Angriff im Februar 2022 gestartet ist. Daher können wir nicht sagen, dass der Krieg einen Boost in der Empathiefähigkeit ausgelöst hat. Außerdem gehen wir davon aus, dass Persönlichkeitseigenschaften relativ stabil sind. Auch wenn wir Empathiefähigkeit trainieren, erwarten wir nicht, dass eine völlig unempathische Person auf einmal empathisch wird. Sondern es sind vielmehr kleinere, subtilere Unterschiede, die wir auf gesellschaftlicher Ebene erkennen können. Wir sehen allerdings nicht, dass unsere Probandinnen und Probanden im Befragungszeitraum empathischer geworden sind.
Wie können Risse in sozial gespaltenen Gesellschaften wie zum Beispiel in den USA und Brasilien gekittet werden?
Was man in Brasilien und in den USA beobachten kann, ist, dass die Gesellschaft immer weiter politisch und affektiv polarisiert. Das heißt es gibt politisch und emotional aufgeladene Themen, die die Gesellschaft immer weiter spalten, die Meinungsunterschiede verstärken und die Bevölkerung in verschiedene politische Lager spalten. Das ist verbunden mit der erhöhten Sympathie für die eigene Gruppe, die Ingroup, und die Abwertung der Outgroup. Letztendlich sind das ähnliche Effekte, die wir auch im Rahmen der Empathieforschung finden. Unsere Idee als Forschungsgruppe ist, dass Empathie-Interventionen eine Option sein können, um dieser Spaltung in der Gesellschaft zumindest in kleinen Teilen entgegenzuwirken. Das ist aber nicht leicht umzusetzen. Zivilgesellschaftliche Akteure könnten hier eine Rolle spielen. Man kann im Kleinen anfangen und zum Beispiel versuchen, Empathie für sein gegnerisches Sportteam aufzubringen. Dann sehen wir auch, dass zum Beispiel ein Fußballspiel schnell polarisieren kann und vielleicht zur Abwertung der gegnerischen Gruppe führt. Man kann in zivilgesellschaftlichen Organisationen ansetzen, um zu versuchen Verständnis, Empathie und Solidarität für Outgroups zu trainieren.