Die EU und Großbritannien haben sich auf eine gemeinsame Linie im Streit um das Nordirland-Protokoll geeinigt. Für Premierminister Rishi Sunak ein Deal mit Potenzial. Denn die britische Provinz erhält so relativ freien Zugang zum britischen und zum europäischen Markt.
Rishi Sunak zeigte sich begeistert von dem Deal, den er mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgehandelt hat. Das Windsor Framework bestimmt nun endlich, wie der Warenverkehr zwischen Nordirland, England und der EU ablaufen soll. Der Deal mache Nordirland zur spannendsten Wirtschaftszone der Welt, so der britische Premierminister im Gespräch mit nordirischen Geschäftsleuten in Belfast. Denn er verschaffe Nordirland eine „ganz besondere Position“, den Zugang zum Binnenmarkt der EU und zum Heimatmarkt Großbritanniens. Diesen Vorteil sollten Unternehmen nutzen, so Sunak.
Twitter-England durchschaut diese geradezu absurd erscheinende Argumentation – ohne den Brexit hätte jede britische Region ungehinderten Zugang zum EU-Binnenmarkt, heißt es in zahlreichen Tweets. So kommt nur Nordirland in den Genuss dieses Privilegs, das den Warenverkehr zwischen der nordirischen und der englischen Insel nach jahrelangem Tauziehen endlich regelt. Demnach sollen Waren nur noch stichprobenartig kontrolliert werden, wenn sie von Großbritannien nach Nordirland transportiert werden. Die gesamte Zollprozedur findet nur Anwendung, wenn die Waren über Nordirland in die Republik Irland und damit in die EU eingeführt werden.
Gleichzeitig, und dies ist ein starkes Entgegenkommen der EU, soll der nordirische Gesetzgeber ein Veto-Recht erhalten, wenn sich EU-Recht in außergewöhnlich starker Weise auf den Handel in der Region auswirken sollte – das „Stormont Break“, benannt nach dem Sitz des nordirischen Parlaments.
Das Nordirland-Protokoll sah nach dem Brexit eine Zollgrenze zwischen der britischen Insel und Nordirland vor, um eine solche zwischen Nordirland und der Republik Irland zu vermeiden. Andernfalls fürchtete man ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Unionisten und irischen Nationalisten, der im sogenannten Karfreitagsabkommen 1998 eigentlich beigelegt worden war. Die Zollkontrollen sorgten für große Schwierigkeiten im Handel innerhalb Großbritanniens.
Veto-Recht für die Nordiren
Jahrelang hatte die Regierung in London behauptet, das Nordirland-Protokoll nicht anwenden zu können, weil es eine Zollgrenze mitten durch Großbritannien ziehe. Auch die EU-Kommission stellte sich stur und behauptete, das Protokoll sei Teil des Brexit-Abkommens, darüber werde nicht nachverhandelt. Jetzt bewegten sich beide Seiten, die EU etwas mehr als Großbritannien. In Zeiten, in denen beide an einem Strang ziehen sollten, um der Ukraine beizustehen, ist dies eine Entscheidung, die das Verhältnis der beiden neu definieren könnte.
Nach Jahren des auf britischer Seite ideologisch aufgeladenen Ringens um das Nordirland-Protokoll zog mit Rishi Sunak ein Pragmatiker in der Downing Street 10 ein, der das Chaos nach den ausgewiesenen Brexiteers Boris Johnson und seiner Sechs-Wochen-Nachfolgerin Liz Truss beseitigen will. Der Traum der Brexit-Befürworter war es, Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten ohne Teil der EU und ihrer Verbraucher- oder Fachkräfteregularien zu sein. Immerhin ein Teil des Königreichs hat es nun geschafft, und darin liegt nun nach Meinung der britischen Regierung eine große Chance für Nordirland. Gleichzeitig kann sie die Unionisten beruhigen, die britisch-konservative Fraktion des nordirischen Parlaments, die wegen der sich dahinschleppenden Verhandlungen zwischen London und Brüssel seit Monaten Abstimmungen im nordirischen Parlament blockieren.

Und dennoch: Großbritannien steht seit dem Brexit völlig außerhalb jeglicher europäischer Wirtschaftsabkommen – kein Schengen-Raum, kein Europäischer Wirtschaftsraum, schon gar keine Eurozone. Selbst die sonst notorisch bündnisskeptische Schweiz ist stärker in das politische Wirtschaftsgeflecht Europas eingebunden als derzeit Großbritannien. Der Schaden, den der Brexit an der britischen Wirtschaft anrichtet, ist vermutlich immens – politisch, wirtschaftlich, finanziell. Jedoch sind die Kausalitäten hochkomplex und die Auswirkungen nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen. Schon gar nicht, wenn die Pandemie-Jahre 2020, 2021 und 2022 mit in die Betrachtungen einfließen.
Klar ist, dass sich die britischen Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung, auf ein besseres Gesundheitssystem oder bessere Bildung nicht erfüllt haben. Neue bilaterale Handelsabkommen wurden geschlossen, doch ist ihr Volumen im Vergleich zum Handel mit der EU geringer. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer bezeichnet den Brexit denn auch als wirtschaftliches Desaster für Großbritannien. Großbritannien steht im Vergleich zum übrigen Außenhandel der EU nur noch auf Platz acht der wichtigsten Handelspartner, zuvor war es Platz drei. Laut Internationalem Währungsfonds könnte die britische Wirtschaft in diesem Jahr sogar leicht schrumpfen.
Britische Hoffnung bisher nicht erfüllt
Die Regierung Sunak spart eisern. Das Defizit betrug 2021 rund 185 Milliarden britische Pfund, Tendenz fallend, 2022 werden 108 Milliarden Pfund erwartet. Die Inflation beträgt rund zehn Prozent, die Armut wächst laut Office of Budget Responsibility (OBR), in etwa vergleichbar mit dem Bundesrechnungshof und dem Statistischen Bundesamt. Noch immer fehlen in vielen Bereichen Fachkräfte, die zuvor wegen der EU-Einreisebestimmungen recht einfach nach Großbritannien einreisen konnten. Die Preise für Lebensmittel und Energie bleiben hoch, die Armutsquote wächst. Zwar hat die Regierung die jährlichen Energiepreise pro Haushalt auf 2.500 Pfund, 2024 auf 3.000 Pfund pro Jahr gedeckelt. Doch die Reallöhne sinken angesichts der Teuerungsrate, der Lebensstandard sinkt und frisst die vergangenen acht Wachstumsjahre wiederum auf, so das OBR.
Die Auswirkungen des Brexits, der Pandemie und des Krieges verstärken sich gegenseitig. Ein politischer Sieg für London ist die Einigung mit Brüssel in Zeiten der multipolaren, einander verstärkenden Krise also eindeutig. Und ein Arbeitssieg für einen Premier, der neben wirtschaftlichen Interessen auch die innenpolitischen Querelen Nordirlands befrieden muss. Denn dass die Unionisten mit dem Abkommen, das Sunak erzielt hat, zufrieden sind, ist kein Automatismus. Für sie ist es nach Medienberichten unerträglich, dass Nordirland nach dem gleichnamigen Protokoll zwischen EU und Großbritannien noch immer EU-Recht umsetzen muss, trotz Brexit. Dass der „Stormont Break“ dem Parlament künftig das Veto gegen bestimmte den Waren- und Güterverkehr betreffende EU-Rechte sichert, soll die Hardliner in Belfast besänftigen. Ob sie Sunaks ausgestreckte Hand ergreifen, ist noch unklar.
Auch aus der eigenen Partei, den Torys, droht Störfeuer. Sunaks Vorgänger Boris Johnson kritisierte den Deal mit der EU scharf. Der britische Ex-Premier sagt: „Mir wird es sehr schwerfallen, selbst für so etwas zu stimmen, denn ich denke, wir hätten es anders machen sollen. So gewinnt Großbritannien keine Kontrolle zurück.“ Das Versprechen, die vollständige Kontrolle über Regeln im eigenen Land zu gewinnen war der zentrale Slogan der Brexit-Befürworter. Das Wort des Hardliners hat Gewicht in der Tory-Partei, Johnson hat noch viele treue Anhänger.
Für das nach langem Bürgerkrieg gebeutelte Nordirland wäre das Windsor Framework tatsächlich eine Möglichkeit, zu einem zentralen Handelskreuz für Großbritannien zu werden – und damit auch internationale Investoren für Geschäfte auf dem britischen wie auch auf dem EU-Binnenmarkt anzulocken. Die Torys aber bewiesen in den vergangenen Jahren hinlänglich, dass sie Geschick für schlechtes Timing besitzen. Der Deal ist noch nicht in trockenen Tüchern.