Der erste Höhepunkt der Klassiker-Saison: Das Rennen Mailand-Sanremo ist eines von fünf „Monumenten“ im Radsport. Und es fehlt Superstar Tadej Pogacar in seiner Titelsammlung noch.
Das erste Rennrad kostete Lucien Mazan kein Geld. Als kleiner Junge gewann es der Franzose, der im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie nach Argentinien ausgewandert war, bei einer Lotterie. Sein Vater war später dennoch dagegen, dass er sein Glück als Radrennfahrer versuchte. Die seien im Grunde nichts anderes als Zirkusclowns, behauptete er. Doch sein Sohn war vom Radsport derart begeistert, dass er sich davon nicht abhalten ließ. Um seine Rennen vor seinem Vater geheim zu halten, legte er sich einen neuen Namen zu: Breton – eine Reminiszenz an seine Heimat, die Bretagne. Um später als Profi an den Start gehen zu können, musste er nochmals seinen Namen ändern, weil bereits ein Fahrer namens Breton im Feld startete. Und so gab er sich den Zusatz „Petit“. Als Lucien Petit-Breton stieg er zu einem der besten Radrennfahrer seiner Zeit auf. 1907 und 1908 gewann er die Tour de France und schwang sich damit zum ersten Doppelsieger der noch jungen Großen Schleife auf.
Premiere im Jahr 1907
Auch bei der Premiere von Mailand-Sanremo 1907 triumphierte der „elegante Argentinier“, wie Petit-Breton in Europa genannt wurde. Es war ein hartes Stück Arbeit. 62 Fahrer waren für den 288 Kilometer langen Tagesritt gemeldet gewesen, nur 33 traten bei starkem Wind und kalten Temperaturen an. Das Ziel erreichten gar nur 14. Als Erster überquerte der widerstandsfähige Petit-Breton die Ziellinie, doch finanziell belohnt wurde er für seinen Kraftakt kaum: Damals betrug die Siegprämie umgerechnet nur wenige Euro. Die ist inzwischen auf 20.000 Euro angestiegen, und auch sonst hat sich in Sachen Professionalisierung viel verändert. Doch Fahrer wie Petit-Breton oder der Belgier Eddy Merckx, der als Rekordgewinner zwischen 1966 und 1976 insgesamt siebenmal bei Mailand-Sanremo triumphierte, erweckten den Mythos zum Leben. Die „Fahrt in den Frühling“ hat nicht nur unzählige Geschichten geschrieben, es ist auch nach wie vor das längste Eintagesrennen im Radsport und traditionell der erste Höhepunkt der Klassiker-Saison. So auch in diesem Jahr.
Am 18. März kommt es zur 114. Auflage von „La Primavera“, dem ersten der fünf „Monumente“ des Radsports. Dazu zählen neben Mailand-Sanremo die vier weiteren Eintages-Klassiker Flandern-Rundfahrt (April), Paris-Roubaix (April), Lüttich-Bastogne-Lüttich (April) und die Lombardei-Rundfahrt (Oktober). Nur drei Fahrern gelang das Kunststück, alle fünf Klassiker mit den unterschiedlichen Anforderungsprofilen zu gewinnen – sie alle kommen aus Belgien: Merckx, Rik Van Looy und Roger De Vlaeminck. Einer, den die Experten zutrauen, in diese Phalanx aufzusteigen, ist Tadej Pogacar. Der slowenische Radstar selbst kann es sich auch vorstellen. „In Zukunft will ich versuchen, alle fünf Monumente zu gewinnen“, sagte Pogacar.
Zwei Haken kann der zweimalige Tour-de-France-Gewinner bereits machen: Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich (2021) und bei der Lombardei-Rundfahrt (2021 und 2022) stand er als strahlender Sieger schon ganz oben auf dem Podest. In diesem Jahr nimmt er auch bei Mailand-Sanremo Anlauf auf den Sieg, auch die Flandern-Rundfahrt zwei Wochen später steht in seinem Wettkampfprogramm. Pogacar ist zwar eher Klassementfahrer und sein Hauptaugenmerk liegt auch in diesem Jahr auf der Tour de France (1. bis 23. Juli). Doch unterschätzen sollte man ihn bei den Klassiker-Rennen auf keinen Fall – in seiner aktuellen Top-Verfassung ohnehin nicht.
Bei der Andalusien-Rundfahrt hatte er seine Karriere-Tageserfolge Nummer 37 bis 39 eingefahren und sich am Ende souverän den Gesamtsieg gesichert. Davor war er schon beim Eintagesrennen Clásica Jaén Paraíso Interior der alles überragende Mann gewesen. Und auch bei der jüngsten Rundfahrt Paris-Nizza deutete Pogacar in den ersten Tagen seine Extraklasse an. Der 24-Jährige war beim „Rennen zur Sonne“, wie die Fernfahrt in Frankreichs Süden auch genannt wird, hochmotiviert an den Start gegangen. Nicht wegen des Wetters, das an den ersten Tagen ohnehin sehr durchwachsen war, sondern wegen seines großen Rivalen: Jonas Vingegaard.
Schmerzhafte Lektion für Pogacar bei Tour de France
Der Däne hatte ihn im Vorjahr bei der Tour de France düpiert und mit einem Rückstand von stolzen 2:43 Minuten auf den ungewohnten zweiten Platz verwiesen. Eine schmerzhafte Lektion für Pogacar, für den es davor nur aufwärtsgegangen war. Der Slowene und der zwei Jahre ältere Vingegaard werden sich im Normalfall noch viele Jahre große Radsport-Duelle liefern, doch Pogacar lief schon bei Paris-Nizza heiß. An den ersten Tagen schnappte er sich in Zwischensprints Zeit-Bonifikationen, um einen möglichst großen Vorsprung auf Vingegaard vor den entscheidenden Etappen herauszuholen. Kurz danach gewann der Däne mit dem Rennstall Jumbo-Visma das Teamzeitfahren und überflügelte in der Gesamtwertung seinen Widersacher. Der bisherige Saisonverlauf zeigt, dass die zwei Topstars in bestechender Frühform sind. „Die beiden sind in diesem Jahr regelrecht geflogen“, sagte der Franzose Romain Bardet, Tour-Sechster 2022.
Vingegaard gewann bei der spanischen Rundfahrt O Gran Camiño drei Etappen und die Gesamtwertung, Pogacar zählt mit dem Gewinn von Paris-Nizza nun sechs Saisonsiege. „Ich habe eine große Lust zu gewinnen. Meine Form ist gut“, sagte Vingegaard. Und auch Pogacar strotzte nur so vor Selbstvertrauen: „Ich bin sehr glücklich über meine Form. Ich hoffe, dass ich mich in den nächsten Rennen genauso stark fühlen kann.“ Bei aller Motivation für die Frühjahrsrennen – „das Wichtigste ist“, verriet Pogacar wenig überraschend, „bei der Tour de France in der bestmöglichen Form anzukommen“. Und die Wettkampfhärte dafür kann man sich eben nur im Wettkampf holen. „Von jetzt an“, sagte Pogacar, „gibt es nur noch harte, wichtige Rennen.“ Er wolle deswegen auch bei Mailand-Sanremo „schon richtig gut sein“.
Der Saisoneinstieg war für den Tour-Gewinner von 2020 und 2021 unglücklich. Seine Titelverteidigung beim Heimturnier seines Teams Emirate bei der UAE Tour am Persischen Golf musste der Slowene absagen, weil ihn im Januar eine leichte Gastroenteritis behindert hatte. Die Magen-Darm-Grippe sei „sehr unangenehm“ gewesen, verriet er, „aber zum Glück bin ich darüber hinweg und fühle mich gesund“. Und noch wichtiger: Pogacar fühlt sich gewappnet für das Duell gegen Vingegaard. War er im Vorjahr bei der Frankreich-Rundfahrt fast noch ein Alleinkämpfer gegen das übermächtig erscheinende Team Jumbo-Visma, rüstete sein Team für diese Saison kräftig auf. In Adam Yates, Tim Wellens, Felix Großschartner, Domen Novak und Jay Vine verpflichtete die Teamführung fünf absolute Edelhelfer für den Kapitän. Zuvor hatte sie für viel Geld schon Allrounder wie Marc Hirschi und Matteo Trentin geholt. Sie sind für Pogacar vor allem bei den Frühjahrs-Klassikern eine enorme Unterstützung. Die Tour de France bleibt sein Hauptziel, aber er will auch die „fünf Monumente“ komplettieren. „Es erfordert viel Energie und Kraft, weil es sehr unterschiedliche Rennen sind, die für unterschiedliche Fahrerprofile gemacht sind“, weiß Philippe Gilbert. Der Ex-Rennfahrer aus Belgien hatte in seiner Karriere vier der fünf großen Eintagesrennen gewonnen, das traut er Pogacar auch zu. Bei einem Wettbewerb hat er aber seine Zweifel: Paris-Roubaix. „Ich spreche nicht nur von seiner Fähigkeit, die Hölle des Nordens zu gewinnen. Sondern mehr von den Risiken, die er eingehen muss, um um den Sieg zu kämpfen“, erklärte Gilbert: „Ich weiß nicht, ob ein Fahrer, der Grand Tours gewinnen will, bereit ist, diese Risiken einzugehen.“
Bei Mailand-Sanremo ist eine große Opferbereitschaft nicht unbedingt gefragt, wie sie die Kopfsteinpflaster-Abschnitte von Paris-Roubaix verlangen. Eher schon schnelle Beine, denn sehr oft setzen sich hier die Sprinter durch. Das Streckenprofil ist weitgehend flach, meist gibt es eher harmlose Fluchtversuche, die die auf Sprinterfolge ausgerichteten Teams schnell einfangen. Pogacars Chance besteht darin, bei der 3.740 Meter langen und durchschnittlich 4,3 Prozent steilen Anfahrt zum Poggio die Sprinter rund sechs Kilometer vor dem Ziel abzuhängen. Der Poggio wurde 1960 in den Streckenverlauf aufgenommen, um die fortwährenden Sprintankünfte zu brechen. Vor allem für die heimischen Fahrer aus Italien, die zu jener Zeit gegen ausländische Sprinter kaum einen Stich gesehen hatten. Doch der Plan ging erst ein Jahrzehnt später auf, als mit Michele Dancelli endlich wieder ein Lokalmatador das Traditionsrennen gewann.
Insgesamt vier deutsche Sieger in Mailand-Sanremo
Auch vier deutsche Fahrer trugen sich bei Mailand-Sanremo schon in die Siegerlisten ein. Der erste war Rudi Altig 1968, gefolgt von Erik Zabel. Der deutsche Sprintstar, der Jahre später ein Doping-Geständnis ablegte, jubelte auf der Via Roma in den Jahren 1997, 1998, 2000 und 2001. Nach einer zwölfjährigen Durststrecke setzte sich erneut ein deutscher Fahrer durch – und wie! Beim legendären Rennen 2013, das aufgrund des heftigen Schneefalls auf dem Passo del Turchino um 52 auf 246 Kilometer verkürzt und unterbrochen werden musste, triumphierte Gerald Ciolek. „Man fährt über die Linie und weiß, dass keiner einem das mehr nehmen kann“, sagte Ciolek hinterher, „das gehört jetzt mir“. Der Deutsche jubelte über den größten Erfolg seiner Karriere – die Stimmung unter den anderen Fahrern war dagegen passend zum Wetter frostig. „Wir sind wie die Tiere im Zoo“, hatte sich zum Beispiel der Australier Adam Hansen damals über die Veranstalter beklagt.
Als bislang letzter deutscher Profi siegte John Degenkolb 2015 im Trikot von Giant-Alpecin bei „La Classicissima“. Hoffnungen, in dessen Fußstapfen zu treten, hegt in diesem Jahr Maximilian Schachmann. Nach dem Pech-Jahr 2022 mit Verletzungen und Erkrankungen „fühlt es sich so an, als sei ich voll regeneriert“, sagte der Berliner. Der Profi des deutschen Teams Bora-Hansgrohe verbindet mit Mailand-Sanremo große Hoffnungen – genau wie Pogacar. Und wie einst Lucien Petit-Breton.