Der Tourismusverband im Schwarzwald erÂmuntert Reisende dazu, ohne Vorwarnung bei Einheimischen zu klingeln. Leichter gesagt als getan.
Schon ein komisches GefĂŒhl, einfach so um ein fremdes Haus zu schleichen. Was, wenn die Nachbarn die Polizei rufen? Oder aus der Garage gleich ein Pitbull hervorgeschossen kommt? Nein, das wird nicht passieren, rufe ich mir in Erinnerung. Denn obwohl ich die Leute nicht kenne, die hier wohnen, weiĂ ich, dass sie Reisenden gegenĂŒber aufgeschlossen sind. Nicht nur, weil sie ihr Kaminholz in Herzform gestapelt haben. Sondern auch, weil ein groĂes graues Schild neben der Einfahrt thront. âSchellsch halt molâ ist darauf zu lesen. Oder wie man auf Hochdeutsch sagen wĂŒrde: einfach mal klingeln!
Das Haus, um das es geht, steht in Titisee-Neustadt. Der Name tĂ€uscht allerdings, denn von einer Stadt ist hier weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen ein steiles StrĂ€Ăchen, das so schmal ist, dass man zur Seite springen muss, sobald ein Traktor entgegenkommt. Ringsherum eine Mischung aus Wiesen und WĂ€ldern, die typische Landschaft des Hochschwarzwalds. Und natĂŒrlich KĂŒhe. Viele KĂŒhe.
Genau hier soll ich also klingeln. Ich gehe an BlumenkĂ€sten vorbei, grĂŒĂe den Gartenzwerg und fasse mir ein Herz: Dingdong! Aber nichts passiert. Kein Gemurmel, keine Schritte, nicht mal ein Pitbull. Dingdong! Wieder nichts. Lediglich ein paar Fliegen umschwirren die TĂŒr. Na, das fĂ€ngt ja schon mal gut an.
Im Idealfall hĂ€tte ein echter SchwarzwĂ€lder oder eine echte SchwarzwĂ€lderin â vielleicht sogar mit Bollenhut? â die TĂŒr geöffnet, freundlich âSalliâ gesagt und ein paar gut gehĂŒtete Reisetipps geteilt. So zumindest verspricht es der Tourismusverband, der im Sommer die Kampagne âSchellsch halt molâ ins Leben gerufen hat. Die Einheimischen, die mitmachen, werden auf einer Landkarte eingetragen. Völlig ĂŒberrascht sollten sie also nicht sein, wenn man bei ihnen aufkreuzt â dachte ich zumindest.
Vier Kilometer weiter ist der nĂ€chste Anlaufpunkt verzeichnet, das Gasthaus zum StrauĂ. Am spĂ€ten Samstagvormittag ist noch nicht viel los, eine Mitarbeiterin deckt die Tische ein, aus der KĂŒche dringt Zwiebelduft. âSogar die Röstzwiebeln machen wir hier selbstâ, sagt Magdalena Maier zur BegrĂŒĂung. Die 31-JĂ€hrige leitet den Betrieb in achter Generation. Das Schild mit âSchellsch halt molâ hat sie noch nicht aufgestellt â âimmer so viel zu tun.â Hilfsbereit sei sie aber auch so. âIch habe immer Angst, dass sich die Leute verlaufen. Deshalb erklĂ€re ich ihnen die Wege ganz genau.â
Und dann sprudelt es auch schon aus ihr heraus. Da wĂ€re zum Beispiel die Wanderstrecke am Waldesrand, die zum Westweg (Basel â Pforzheim) fĂŒhrt. Oder die lokale BĂ€ckerei âHasebĂ€ckâ, die angeblich das beste Holzofenbrot des Schwarzwalds macht. Wie viele kamen denn schon vorbei, um sich solche Geheimtipps abzuholen? âSie sind der Ersteâ, gesteht die junge Frau â abgesehen von den E-Bike-Fahrern, die mit leerem Akku im Gasthaus stranden. âDa helfen wir gerne mit Strom aus.â
Gibtâs auch echte Touri-Fallen, von denen sie abraten wĂŒrde? Zum Beispiel den Trubel unten im Tal, direkt am Titisee? Magdalena Maier grinst. âIch habâ dazu eine Meinungâ, sagt sie diplomatisch. Und ergĂ€nzt: âHier oben gibtâs keine Touristenfallen.â Ihr Tipp zum Abschied: Unbedingt auf dem benachbarten Bartleshof vorbeischauen. Dort werde die bekannte SWR-Serie âDie Fallersâ gedreht. Als ich gestehe, noch nie etwas davon gehört zu haben, nickt die Wirtin verstĂ€ndnisvoll. âDas ist eher etwas fĂŒr Ă€ltere Leute. Die können dort ihre BerĂŒhmtheiten sehen.â Passenderweise ist der Hof ebenfalls bei âSchellsch halt molâ verzeichnet. Vielleicht bekomme ich ein Autogramm fĂŒr meine Oma.
Viel los ist bei den âFallersâ dann aber nicht. Weder Kameras noch Menschen sind zu sehen. Nur ein paar HĂŒhner huschen ĂŒber die StraĂe, gefolgt von einer Horde E-Bikes. Neben der Scheune grasen Ziegen. Nach ein paar Runden ums Gehöft â inzwischen bin ich deutlich mutiger â entdecke ich schlieĂlich das Wohnhaus. TatsĂ€chlich hĂ€ngt das Schild des Tourismusverbands im TĂŒrrahmen. Was jetzt noch schiefgehen!
Dingdong! Ein paar Sekunden passiert nichts, dann tritt eine Ă€ltere Dame hervor. âIch dachte, ich schelle einfach malâ, versuche ich das GesprĂ€ch in Gang zu bringen. Doch die Dame verharrt regungslos. Vielleicht hĂ€lt sie mich fĂŒr einen VerrĂŒckten. Oder, schlimmer noch, fĂŒr einen Vertreter. Schnell zeige ich auf die Plakette an der TĂŒr: âWo gibtâs denn hier die touristischen Geheimtipps?â, frage ich. âBei mir nedâ, antwortet sie auf Badisch, bevor sie ohne weitere Worte verschwindet. Autsch!
Die Klingelei wird ungemĂŒtlich
Ob wenigstens die hochgelobte BĂ€ckerei hĂ€lt, was sie verspricht? Erst mal mĂŒsste ich sie finden, denn nach einem falschen Schlenker an der Kreuzung sehe ich den Schwarzwald vor lauter BĂ€umen nicht. Kein Handyempfang, weit und breit kein âSchellsch molâ-Haus. Jetzt helfen nur noch drastischere MaĂnahmen. Auf dem Parkplatz einer Kurklinik frage ich einen Wildfremden nach dem Weg. Und wirklich: Der Ă€ltere Herr mit Karohemd und Westernstiefeln antwortet sofort. âDer BĂ€cker liegt etwas abseits der StraĂeâ, warnt er noch. âAlso immer schön aufs Schild achten.â
Gesagt, getan. Wenige Minuten spĂ€ter erwarten mich Wurzenbrote, Zimtschnecken und Buttercroissants. âManche Wanderer verirren sich schon hier herâ, erzĂ€hlt die Frau hinter der Theke. Wirklich oft komme das aber nicht vor. Ein echter Geheimtipp also. Doch man solle sich nie zu frĂŒh freuen. So wie der Wind plötzlich auffrischt und die Sonne hinter den Wolken verschwindet, so wird auch die Klingelei zunehmend ungemĂŒtlich. Wieder und wieder klopfe ich an TĂŒren, ohne dass etwas passiert. Als hĂ€tte sich die Bevölkerung zwischen Titisee und Feldberg kollektiv weggebeamt. Die einzigen Infos, die ich in den kommenden zwei Stunden erhalte, stammen von Schildern am Wegesrand: âFreiheit fĂŒr den Wald! Gegen das Bundeswaldgesetz!â âWeidetiere statt Raubtiere!â Und besonders drastisch: âHier lauert der Todâ â untermalt mit dem Piktogramm eines umfallenden Motorrades. Jetzt rĂ€cht sich, dass bislang nur knapp ĂŒber 30 Privatpersonen und GeschĂ€fte bei der Kampagne mitmachen â viel zu wenige fĂŒr ein so weitlĂ€ufiges Gebiet.
âWennâs Wetter gut ist, ist kein SchwarzwĂ€lder daheimâ, informiert mich schlieĂlich Eva FĂŒnfgeld. Die 54-JĂ€hrige organisiert Mountainbike-Touren; auch an ihrer TĂŒr hĂ€ngt eine Plakette. Samstagnachmittag sei einfach ein schlechter Zeitpunkt zum Schellen. âDa sind die Leute am sporteln.â FĂŒr ihren Ort, Breitnau, empfiehlt sie ein CafĂ©, das im SeniorenzenÂtrum eröffnet hat, um diese Uhrzeit aber ebenfalls schon zu ist. Und natĂŒrlich die berĂŒhmte Ravennaschlucht, die man von ihrem Haus in 20 Minuten erreicht. Und was kann man sich sparen? âEigentlich nichts. Ist doch ĂŒberall schön.â Nur Ehemann Björn, der aus Dortmund stammt, findet ein paar kritische Worte â nicht zum Schwarzwald, sondern zur Kampagne selbst: âWer kein Alemannisch spricht, weiĂ doch gar nicht, was ,Schellsch halt molâ bedeutet. Da brĂ€uchte es noch eine kleine Zusatzinfo auf dem Schild.â
Einheimischer schenkt Tomaten
So sieht es auch Walter Wochner, ein UrschwarzwĂ€lder, der in Feldberg-BĂ€rental eine Ferienwohnung betreibt. Von seiner Terrasse aus sieht der 74-JĂ€hrige sowohl den Titisee als auch zahlreiche verirrte Wanderer. âDie haben ihr Handy nicht eingenordetâ, lautet seine Diagnose. Wie auf Kommando kommt ein Paar mit Labrador vorbei; unschlĂŒssig laufen sie vor Wochners Haus auf und ab. âDer Pfad fĂŒhrt hier hochâ, rĂ€t ihnen der Einheimische. âAber lassen Sie den Hund bitte an der Leine. Da oben ist Weidevieh.â Mir schenkt der Einheimische ein paar selbstgezĂŒchtete Tomaten (âDie Einzigen auf ĂŒber tausend Meter Höheâ), bevor er mich in den âWĂ€ldergenussâ schickt. Das riesige Gasthaus mit angeschlossenem Souvenirshop liegt zwischen Lidl und Schnapsmuseum. Als Geheimtipp dĂŒrfte es kaum durchgehen, dafĂŒr ist es zu sehr auf Massenbetrieb ausgerichtet. Aber die Rösti schmecken und die Speisekarte vermittelt ein paar essenzielle Vokabeln. Da gibt es eine âSalatbladdeâ, âĂ€ rechte Subbeâ (eine gute Suppe) und natĂŒrlich âBomm Fritzâ.
Die Bilanz des Tages: An zehn TĂŒren geklingelt, davon dreimal mit Erfolg. Auskunftsfreudig waren zum GlĂŒck auch diejenigen, die bei der Aktion gar nicht mitmachen, und das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis: Hilfsbereite Leute gibtâs ĂŒberall, wenn man nur nett fragt. Fragsch halt mol.