Vor weniger als zwei Jahren stand Arminia Bielefeld quasi komplett ohne Mannschaft da. Nun stehen die Ostwestfalen als Drittligist erstmals im Pokal-Endspiel. Der Erfolg ist eine Bestätigung für den Manager Michael Mutzel, der beharrlich an Trainer Mitch Kniat festhielt.

Dass ein Drittligist das Finale des DFB-Pokals erreicht, ist sonderbar genug. Erst zum vierten Mal in der 82-jährigen Geschichte des Wettbewerbs hat dies ein Club geschafft. 1993 war dies erstmalig der zweiten Mannschaft von Hertha BSC gelungen, 1997 Energie Cottbus und 2001 Union Berlin. Nun, 24 Jahre später Arminia Bielefeld. Ausgerechnet Arminia Bielefeld mag man sagen. Denn das Erreichen des Endspiels am 24. Mai gegen den VfB Stuttgart ist noch ein viel größeres Fußball-Märchen, als man es auf den ersten Blick glauben mag. Weil die Arminia in ihrer 120-jährigen Geschichte noch nie im Endspiel stand. Weil sie als erster Club vier Erstligisten in einer Saison ausschaltete. Und nicht zuletzt deshalb, weil die Ostwestfalen im Sommer 2023 komplett am Boden lagen.
Überhaupt ist der Traditionsverein von der Alm seit den Neunzigern durch die Ligen gerauscht wie kein anderer Club. In 29 Jahren hat Bielefeld 16 mal die Liga gewechselt, ist je acht mal auf- und abgestiegen. Von 2004 bis 2009 spielte die Arminia mal fünf Jahre in Folge in der Bundesliga, der Präsident träumte offen von einen Europacup-Spiel in Italien. Nach dem Abstieg 2009 wurde der direkte Wiederaufstieg verpasst. In der Saison darauf folgte ein desaströser Abstieg in die 3. Liga und fast der nächste in die Regionalliga. Der Club berappelte sich, stieg auf und in einer dramatischen Relegation gegen Darmstadt direkt wieder ab, erreichte 2014 als Drittligist das Halbfinale im DFB-Pokal und stieg wieder auf. Mehrmals stand der Verein ganz kurz vor der Insolvenz, ehe er 2020 überraschend wieder in die Bundesliga aufstieg. Und im ersten Jahr die Klasse hielt. Manager Samir Arabi hatte Spieler wie den zuletzt von Julian Nagelsmann für das DFB-Team nominierten Torhüter Stefan Ortega, den heutigen französischen Nationalspieler Jonathan Clauss oder den heute von Top-Clubs umworbenen Ritsu Doan entdeckt. Im Winter 2022 gewann Bielefeld in Leipzig und in Frankfurt, nach 23 Spieltagen hatte die Arminia sechs Punkte Vorsprung auf einen Abstiegsplatz. Ehe der nächste unglaubliche Absturz folgte. Der Abstieg nach drei Punkten aus den letzten elf Spielen. Und dann direkt der nächste, der nach einer Saison mit drei Trainern in einer verheerenden Relegation gegen Wiesbaden gipfelte.
200.000 Euro Ablöse für Coach Kniat
Nun schien die Arminia, keine anderthalb Jahre zuvor noch scheinbar solider Erstligist, endgültig am Boden zu liegen. Die Fans waren auf die Barrikaden gegangen, und weil mit dem Abstieg niemand gerechnet hatte, stand der neue Sportchef Michael Mutzel, der sich eigentlich darauf gefreut hatte, einen ambitionierten Zweitligisten zu übernehmen, plötzlich bis auf Kapitän Fabian Klos komplett ohne Mannschaft da. Unfassbare 55 Transfers bewerkstellige Mutzel in einem Sommer, 29 Abgängen standen 26 Zugänge gegenüber. Von denen waren 24 ablösefrei und zwei durften eine geringe Leihgebühr kosten. „Ich bin ja belastbar, aber das war echt strange“, sagte er später zu „11 Freunde“.
Der erste Baustein sollte der Trainer sein. Für Mitch Kniat zahlte Mutzel 200.000 Euro an Nachbar SC Verl, mehr als für alle neuen Spieler zusammen. „Sein System mit viel Ballbesitz, hohem Pressing und offensiver Ausrichtung ist genau das, was Arminia jetzt braucht“, sagte er. Doch Kniat musste sich schnell fragen, wo er da hingeraten war. „Am ersten Tag wurden mir zehn Leute vorgestellt“, sagte er: „Am nächsten Tag waren im sportlichen Bereich fast nur noch Michael Mutzel und ich da.“ Er wisse nicht, „ob es so eine Situation im deutschen Fußball schon mal gegeben hat“.
Die Situation war derart schwierig, dass die gesamte Saison über niemand an Kniat zweifelte. Obwohl die Arminia vom 20. bis zum letzten Spieltag nie besser als auf Rang 15 gestanden hatte. Platz 17 hätte den Abstieg in die Regionalliga bedeutet. Doch jeder wusste: Diese zusammengewürfelte Truppe überhaupt in der Liga zu halten, war ein kleines Meisterstück. Und gleichzeitig aufgrund der schon wieder angespannten finanziellen Lage auch unfassbar wichtig.

In dieser Saison kam dann durch kluge Transfers und beharrliche Aufbauarbeit der große Schritt nach vorne. In der Liga hält die Arminia den Kontakt zu den Aufstiegsplätzen. Im Pokal schien schon der Sieg gegen Zweitligist Hannover 96 in der ersten Runde ein Coup. Dann kamen Erfolge gegen den SC Freiburg, Union Berlin und Werder Bremen. Leverkusen, Stuttgart und RB Leipzig hießen die möglichen Rivalen im Halbfinale. Als es ausgerechnet Meister und Titelverteidiger Leverkusen wurde, erklärte Mutzel, das sei von drei schweren Losen das schwerste. Und nahezu jeder dachte, dass diese tolle Reise nun aber wirklich vorbei sein würde. Schließlich hatte Leverkusen seit 30 Spielen oder knapp zwei Jahren in der Bundesliga und im Pokal kein Auswärtsspiel verloren.
Doch Kniat versprühte öffentlich unerschütterlichen Optimismus. Er glaube ans Finale und den Pokalsieg, versicherte der Trainer. Und ließ sein Team auch entsprechend agieren. Als nach guter Anfangsphase das 0:1 nach einer Ecke fiel, dachten wieder die meisten, das Spiel werde nun seinen normalen Verlauf nehmen. Doch Bielefeld kam zurück. Und nach dem – obendrein hochverdienten – 2:1-Sieg gegen das Star-Ensemble von Weltstar-Trainer Xabi Alonso bebte die ehrwürdige Schüco-Arena in ihren Grundfesten.
„Saufen“, antwortete Kniat auf die Frage, was sein erster Gedanke sei. Schon nach dem Viertelfinale hatte er angekündigt, „dass wir jetzt alle im ‚Café Europa‘ aufdribbeln“ und es keine Sperrstunde für seine Spieler gebe. Nach dem Leverkusen-Coup seien manche wohl erst um acht Uhr morgens nach Hause gekommen, berichtete Kniat am Tag danach lachend. Er selbst war zwar recht früh gegangen, hatte aber dennoch bei einer selbst auferlegten eisernen Regel eine Ausnahme gemacht. „Normalerweise trinke ich nie mit der Mannschaft oder auf Weihnachtsfeiern, denn für mich bleibt das Beruf. Aber heute? Heute lassen wir mal fünfe gerade sein. Da gönne ich mir auch mal ein halbes Bier. Vielleicht auch ein ganzes.“
Die Dimension dieses Final-Einzugs werden sie in Bielefeld so richtig erst in ein paar Jahren begreifen. Emotional versetzt die Teilnahme am „deutschen Wembley“ jeden Verein in einen Ausnahmezustand. Zigtausend Fans werden die Straßen von Berlin säumen. Die, die dabei waren – und nicht nur die – werden noch ihren Enkeln davon erzählen. Bundesweit wird die Arminia damit verknüpft sein, Millionen Menschen werden das Spiel vor dem Fernseher verfolgen, in Vertragsgesprächen wird das alles ein zusätzliches Pfund sein.
Geld wird nicht sinnlos ausgegeben
Zumal im Pokal, zumindest wenn man weit kommt, ja auch extrem viel Geld zu verdienen ist. 6,5 Millionen waren es beim Halbfinal-Einzug, 2,88 Millionen kommen für den Einzug ins Endspiel hinzu, weitere 1,44 Millionen würde ein Sieg bringen. Hinzu kommen rund 45 Prozent der Ticketeinnahmen des Endspiels, bei dem 74.000 Zuschauer sein werden. Alles in allem auf jeden Fall ein zweistelliger Millionenbetrag. Davon gehen zwar Unkosten und Prämien ab. Doch bei einem Saison-Etat von rund 6,5 Millionen Euro bedeutet das Einnahmen für fast zwei Drittliga-Spielzeiten. Der FC Bayern müsste dafür fast eine Milliarde einnehmen.

Das wird nicht dafür sorgen, dass in Ostwestfalen nun der Kaufrausch ausbricht. „Jeder denkt jetzt, wir nehmen das Geld und können es einfach ausgeben. Das ist aber nicht so“, sagte Mutzel der dpa. „Uns geben die Prämien aus dem Pokal extrem viel Luft zum Atmen. Aber wir haben das Geld nicht auf der hohen Kante.“ Dennoch sei die Arminia, so Mutzel schon vor dem Final-Einzug, jetzt „deutlich gesünder“ als noch vor einem Jahr: „Wir haben das Geld genutzt, um viele Probleme zur Seite zu schieben.“
Und sollte das nächste kleine Fußball-Wunder gelingen und die Bielefelder als erster Drittligist sogar den Pokal holen– die drei bisherigen Final-Underdogs schossen noch nicht mal ein Tor – dann würde die Arminia in der kommenden Saison sogar das erste Mal in der Vereinsgeschichte im Europacup spielen. Was in Sachen Image und Einnahmen noch mal ganz neue Dimensionen bedeuten würde.
Langfristig genauso wichtig ist freilich der Aufstieg. Dass man schnell von der 3. in die 1. Liga kommen kann, hat die Arminia schon einige Male erlebt. Schon 1995 war erstmals der Durchmarsch gelungen. Wichtig wäre diesmal aber vor allem, dass dem Gipfelsturm nicht bald wieder der nächste denkwürdige Absturz folgt.