Die 48. Hamburger Ballett-Tage sind eine Hommage an das vielfältige choreografische Werk John Neumeiers – zwischen Handlungsballett, sakralem Tanz und kongenialer Deutung sinfonischer Vorlagen.
Wenn sich in wenigen Tagen der Vorhang für die traditionellen Hamburger Ballett-Tage öffnet, dann ist dies trotzdem ein ganz besonderes Ereignis. Denn es steht im Zeichen eines Jubiläums, das in der Welt des Theaters und besonders der des Tanzes fast einzigartig ist: John Neumeier beendet damit an der Staatsoper Hamburg seine 50. Spielzeit als Ballettleiter, der sich mittlerweile, der Sparte Oper ebenbürtig, Ballettintendant nennen darf. Gefeiert wird das Saisonende nicht, wie üblich, mit einem 14-tägigen Defilee hauseigener und geladener Aufführungen, sondern mit einem gleich vierwöchigen Festival, das an Glanz seinesgleichen suchen dürfte. Diesen Glanz besorgen hier nicht etwa extravagante, glamourös veräußerlichte Inszenierungen. Vielmehr fächern sie ein an psychologischer Tiefgründigkeit, sensiblem Gefühlsreichtum, menschlicher Beobachtungsgabe und ästhetischer Ausgewogenheit beispielhaftes Repertoire auf. Nicht in chronologischer Entstehungsfolge findet es sich im Programm, vielmehr mäandert es durch das schöpferische Halbjahrhundert, das John Neumeier als Choreograf der Elbstadt und der Welt geschenkt hat. Eingeleitet werden die nunmehr 48. Hamburger Ballett-Tage am 11. Juni mit der Wiederaufnahme von „Romeo und Julia“, einem Shakespeare-Ballett, das Neumeier bereits 1971 als Ballettdirektor in Frankfurt am Main kreiert hatte und das zu einer seiner markanten Wegmarken geworden ist.
Auftakt mit Shakespeare-Ballett
Thematisch und stilistisch ungemein vielfältig sind die im Festival folgenden nahezu 20 Stücke aus seinem Werkkorpus, etwa seine Klassiker-Inszenierungen. Typisch für sie ist der dramaturgisch höchst geschickte Neuansatz. So ist Pate Droßelmeier in „Der Nussknacker“ ein Ballettmeister, Marie seine Elevin. In „Illusionen – wie Schwanensee“ deutet sich schon im Titel die eigene Sichtweise an: Hier rankt sich die Geschichte um Ludwig II., um seine Schwanenträume, seine wie auch Tschaikowskys Suche nach Liebe. Auch Neumeiers „Dornröschen“, entstanden 1978, behält einige überlieferte Tanzszenen bei, fügt sie jedoch in ein neues Konzept ein: als zeitlose Lovestory zweier Jugendlicher.
Eine gleichermaßen glückliche Hand hat Neumeier auch stets bei der Adaption theatraler und literarischer Stoffe bewiesen. So ist ihm mit „Endstation Sehnsucht“ nach einem Drama von Tennessee Williams der tänzerisch fulminante Zusammenprall extrem unterschiedlicher Charaktere gelungen: der gescheiterten, überempfindsamen Südstaatenlehrerin Blanche und ihres proletarisch zupackenden Brutalo-Schwagers Stanley. Was 1983 beim Stuttgarter Ballett Premiere hatte, wird während des Festivals vom Tschechischen Nationalballett als Gastkompanie gezeigt. Eingeladen ist auch das Stuttgarter Ballett mit einem weiteren Neumeier-Klassiker, „Die Kameliendame“. Neumeier kehrte nochmals zu Tennessee Williams zurück, als er 2018 dessen Theaterstück „Die Glasmenagerie“ für den Tanz gewann, Williams Hommage an seine kranke Schwester. Zwei andere Schauspiele regten Neumeier ebenfalls zur choreografischen Auseinandersetzung an. Sein „Hamlet 21“ von 2021 ist die Frucht vieljähriger Beschäftigung mit dem Geschehen um den zaudernden Dänen-Prinzen, hier auf der Basis intensiver Quellenrecherche und versehen mit einem zeitgemäßen Rahmen. In „Liliom“, als Ballettlegende klassifiziert, wird auf der Grundlage des Schauspiels des Ungarn Ferenc Molnár das widrige Schicksal armer Liebesleute aus dem Schaustellermilieu erzählt. „Nijinsky“ schließlich, ebenfalls im Programm der Ballett-Tage, setzt jenem genialen Tänzer und revolutionären Choreografen des vergangenen Jahrhunderts ein Denkmal; Nijinskys Wirken und Verdämmern hat Neumeier lebenslang nachgespürt und zahllose Originaldokumente zusammengetragen. Das gleichnamige Ballett gehört in seiner Eindringlichkeit zu den bedeutendsten Schöpfungen des Hamburger Choreografen.
Es wäre aber einengend, Neumeier nur auf seine Handlungsballette, die er so brillant zu aktualisieren versteht, reduzieren zu wollen. Im selben Maß ist er ein großartiger choreografischer Ausdeuter sinfonischer Vorlagen. Das bezieht sich etwa auf das Œuvre von Gustav Mahler, dessen „Dritte Sinfonie“ getanzt zu sehen sein wird, 1975 als Neumeiers erste sinfonische Kreation voller grandioser Körperskulpturen entworfen und seither weltweit bejubelt. Neueren Datums ist sein „Beethoven-Projekt II“, das verschiedene Musiken des Wiener Klassikers zu biografischen Fragmenten oder reinem Tanz verschweißt. Als geradewegs singulär gilt, was Neumeier als bekennender Christ auf dem Gebiet des sakralen Tanzes geleistet hat. Davon zeugt, seinerzeit durchaus ein Risiko, sein Bilderfries zu Bachs „Matthäus-Passion“, uraufgeführt 1980 in Hamburgs Hauptkirche St. Michaelis und nun dort auch wieder gezeigt. In den gleichen Zyklus monumentaler Werke gehört „Dona Nobis Pacem“, von Neumeier zu den choreografischen Episoden gezählt.
Abschluss ist die „Nijinsky-Gala“
Wie kreativ John Neumeier, der 1939 in Milwaukee geborene Wahlhamburger, bis heute ist, dafür stehen zwei Glanzlichter aus jüngerer Zeit. Während der Corona-Einschränkungen schuf er unter den geltenden Abstandsregeln für die 60 Tänzerinnen und Tänzer seiner Kompanie in Kleingruppen „Ghost Light“, einen so leisen wie emotionalen Tanz um das Licht der Hoffnung. Nicht zu sehen bei den aktuellen Ballett-Tagen: Neumeiers aufwühlende Erinnerungscollage an während der Nazi-Diktatur verfemte Tanzschaffende, erarbeitet mit dem Bundesjugendballett, seiner 2011 formierten Jugendkompanie zur Förderung von Nachwuchstalenten.
Ihren Auftritt beim Festival haben die aufstrebenden Begabten dennoch: mit einem Zweiteiler aus Neumeiers eigens für sie choreografierter Molière-Komödie „Der Bürger als Edelmann“ sowie dem „BJB Songbook“ nach Titeln berühmter Singer-Songwriter. Dass auch die Ballettschule John Neumeier, situiert in einem gemeinsamen Probenzentrum mit dem Hamburg Ballett, „Erste Schritte“ zeigen darf, versteht sich.
Den Abschluss aller Ballett-Tage bildet die beliebte, international stets hochkarätig besetzte „Nijinsky-Gala“, deren Ausgabe XLVIII am 9. Juli besonders strahlen dürfte. Das konkrete Programm bleibt noch geheim. Kein Geheimnis ist, dass im Festival nur ein Bruchteil von Neumeiers Schaffen gezeigt werden kann. In seinem mehrere Hundert Stücke umfassenden Gesamtwerk breitet er nicht nur eindrucksvoll seine klassisch, neoklassisch und freierfinderisch geprägte Tanzästhetik aus, sondern hinterlässt zugleich ein bedeutsames Zeitdokument zur Entwicklung des Bühnentanzes vom 20. hin zum 21. Jahrhundert. Doch Neumeier, der weltweit Bepreiste, war auch im Kleineren aktiv. In schier unglaublichen, teils vom Fernsehen übertragenen 237 Ballett-Werkstätten hat er vor ausverkauftem Auditorium Wissen über Tanz vermittelt und das Publikum ebenso charmant wie unterhaltsam in seinen Gedankenkosmos eingeführt. Gastspiele haben den Ruf des Hamburg Balletts rund um den Globus getragen. Noch eine Spielzeit bleibt Neumeier beim Hamburg Ballett. Die diesjährigen Ballett-Tage sind also eine der letzten Gelegenheiten, einen umfassenden Einblick in sein jahrzehntelanges Schaffen zu bekommen.