Der ungewöhnliche Dokumentarfilm über eine Eiche und ihre Bewohner kommt ganz ohne gesprochenen Kommentar aus. „Die Eiche – Mein Zuhause“ lässt eindrucksvolle Bilder für sich sprechen.
Der Dokumentarfilm „Die Eiche – Mein Zuhause“ feierte 2022 Premiere, Anfang 2023 lief er in den deutschen Kinos. Dabei entwickelte er sich zu einem Publikumsliebling. Nicht nur, dass Dokumentationen eher selten überhaupt im Kino gezeigt werden, der Film wählte auch einen anderen Ansatz als andere Dokus. In Naturdokumentationen sind Orte wie Wälder, Steppen, Flüsse oder Berge oft zwar Kulisse – aber nicht mehr. „Die Eiche“ hingegen rückt, wie der Titel schon vermuten lässt, einen ganz konkreten Schauplatz ins Rampenlicht und macht kurzerhand die namensgebende Eiche zur Hauptdarstellerin.
Faszinierende Aufnahmen
Gezeigt wird in 80 Minuten das Leben auf, über, unter, in und neben ebenjener Eiche im Laufe eines Kalenderjahres. Gedreht wurde in einem Wald in der Sologne in Zentralfrankreich am Ufer eines Sees. Dort wächst die Eiche seit dem Jahr 1810 und hat im stolzen Alter von 214 Jahren mittlerweile eine Höhe von knapp 18 Metern und ein Gewicht von neun Tonnen erreicht. Was die Eiche in ihren über 200 Jahren im Wald wohl alles erlebt hat, mag man sich fragen. Denn schon in dem einen Jahr, das im Film gezeigt wird, passiert unfassbar viel. In ihrer Krone, an ihren Wurzeln, unter ihrer Rinde leben die unterschiedlichsten Tiere und auch die Eiche selbst verändert sich stetig. Gezeigt werden in faszinierenden und teils dramatischen Aufnahmen alle Teile des Baums sowie das emsige Tun von Eichhörnchen und Eichelhähern in den Ästen der Eiche, von Wildschweinen und Rehen an ihrem Fuß, einer im Wurzelwerk lebenden Familie von Waldmäusen, von Fuchs, Natter und allerlei weiteren Vögeln, Insekten und Ameisen. Vom Kleinen bis zum Großen, bei Tag und Nacht, bei Sonnenschein und Gewitter hat das Team um Dokumentarfilmer Laurent Charbonnier und Regisseur Michel Seydoux (er ist der Großonkel von Bond-Girl Léa Seydoux und hat sich zuvor eher als Produzent einen Namen gemacht) den Lauf der Jahreszeiten dokumentiert. Die Zuschauenden tauchen ein in den Lebensraum Eiche, einen faszinierenden Mikrokosmos, in dem jedes Lebewesen seinen Platz hat.
Der Film zeigt mit teils sehr aufwändigen und zeitintensiven Aufnahmen die Eiche und ihre Bedeutung für kleinste und große Tiere. Sie ist Lebensraum, Futterquelle, sie spendet Schatten und ein Dach über dem Kopf, wenn der Gewitterregen niederprasselt. Im Film wechseln sich faszinierende Detailaufnahmen mit Kameraeinstellungen ab, die den Baum immer wieder aus allen Perspektiven und auch den Wald als Ganzes zeigen. Sie begleiten Tiere bei ihren alltäglichen Beschäftigungen und springen immer wieder zwischen den einzelnen Einstellungen und Protagonisten hin und her. Manchmal geht es so schnell vom Eichhörnchen zum winzigen Eichelbohrer-Käfer, dass man als Zuschauer überhaupt erst ein Bewusstsein dafür bekommt, was da alles tatsächlich gleichzeitig im Wald passiert. Bei manchen Aufnahmen fragt man sich zudem unweigerlich, wie sie zustande gekommen sind. Etwa, wenn während eines Gewitters die Kamera bei einer Mäusefamilie verweilt, die unter der Eiche zwischen den Wurzeln in einem verzweigten Gängesystem wohnen. Während des Unwetters sitzen die Mäuse zusammengedrängt in einem ihrer Gänge und legen mit großen Augen wie abgesprochen alle gleichzeitig die Ohren an, als es donnert. Aufnahmen wie diese, die besonders, selten und einfühlsam sind, machen den Film aus und erzählen kleine und große Geschichten.
Film ganz ohne Audiokommentar
Bemerkenswert ist, dass der Film über seine ganze Länge völlig ohne Voice-over oder Kommentar auskommt. So erhält der Wald seine ganz eigene Stimmung, für die keine Erklärung nötig ist, auch wenn man sich an der einen oder anderen Stelle tatsächlich einen Hinweis zum jeweiligen Tier wünschen würde. Dass die einzelnen Tiere dann aber im Abspann nochmals aufgezählt werden, stimmt versöhnlich. Ganz ohne akustische Untermalung geht es im Film aber auch ohne gesprochenen Kommentar nicht zu. Neben typischen Naturgeräuschen wie Blätterrauschen und Tierstimmen gibt es einen durchaus markanten Soundtrack. Hier haben die Macher augenzwinkernden Humor bewiesen, wenn etwa Käfer zum smoothen Klassiker „Sway“ kopulieren oder Tierkinder zum instrumentalen „In the Mood“ von Glenn Miller herumtollen. Am Ende des Films schwebt die Kamera noch einmal am Baum und dem Wald entlang zu den Klängen des mit Klavier und Streichern instrumentierten „Et tu restes“. Geschrieben hat dieses Lied Tim Dup eigens für den Film. Im Text heißt es auf Französisch: „Du hast gesehen, was bleibt, was ist, was vergeht. Das Knarren, die Risse, das Leben unter der Oberfläche. Wo die stillen Zufluchtsorte des Herbstes leuchten. Die Tänze der Eichelhäher unter den tanzenden Blättern. (…) Und du bleibst.“ In der letzten Szene fällt eine Eichel vom Baum in die Erde und entfaltet zu den Klängen des Lieds ihre Wurzeln in der Erde.