Saarbrücken ist eine Autostadt. Nur wenige Menschen fahren mit dem Fahrrad. Das hat unseren Autor Jakob Hartung zeitweise sehr traurig gemacht. Bis er dem Verkehr auf den Grund gegangen ist.
An einem Donnerstagmorgen im Sommer des Jahres 2021 saß ich auf dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit. Der Radweg war links von einer Autobahn und rechts von der gemächlich dahinfließenden Saar gesäumt. Die Sonne schien, ich hatte Musik auf den Ohren und trat kräftig in die Pedale, um eine Anhöhe zu erklimmen. Dahinter ging es bergab, ich nahm Tempo auf und plötzlich wurde ich von einem unglaublichen Gefühl ergriffen. Die Welt raste an mir vorbei.
Dieses Gefühl hatte ich schon monatelang nicht mehr empfunden. Anfang des Jahres lag ich in meiner Wohnung und fühlte mich leer. In meinem Kopf drehte sich eine Gedankenspirale um alles Negative in der Welt. Diagnose: eine mittelschwere Depression. Und dann wehte durch das offene Fenster ein neues Problem herein, dem ich mich fortan mit großer Intensität widmen sollte. Es war ein konstantes Rauschen, das manchmal extrem laut war und manchmal verstummte: Autolärm.
Tagsüber Stau, zur Nacht Raser
Der Lärm kam von einer mehrspurigen Straße vor meiner Haustür. Aus meinem Fenster konnte ich beobachten, wie sich dort tagsüber Autos stauten. Nachts war etwas weniger los. Dann nutzten Autofahrer die freie Strecke, um kräftig aufs Gas zu drücken. Die enge Häuserschlucht verstärkte den Schall und der Verbrennerlärm riss mich aus dem Schlaf. Verkehrslärm kann gesunde Menschen krankmachen. Besonders, wenn dieser nachts den Schlaf stört, wie eine Studie des Robert Koch-Instituts ergeben hat. In Deutschland ist etwa jeder Fünfte von Lärm aus Straßen-, Eisenbahn- und Flugverkehr betroffen.
Ich war einer davon. Der Lärm wurde zu einem riesigen Problem für mich und damit auch die Autos in der Stadt. Davon gibt es in Saarbrücken ziemlich viele. Das Saarland hat mit 660 Pkw pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner die höchste Autodichte in der Bundesrepublik. In der Landeshauptstadt werden mehr als 60 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt. Das machte mich traurig. Ich selbst hatte kein Auto und fuhr nur mit dem Fahrrad. Dabei stieß ich weder Lärm noch Abgase aus. Warum machten das nicht alle so? In meiner von der Depression verzerrten Weltsicht begann ich, den Verkehr vor meiner Haustür persönlich zu nehmen und Autolärm zu hassen.
Dabei stand ich Autos davor gleichgültig gegenüber. Eins besessen hatte ich nie. Ich war aufgewachsen in Berlin und da war das schlicht nicht notwendig. Längere Strecken legte ich mit dem ÖPNV zurück, doch am liebsten fuhr ich Fahrrad. Das Gefühl, Wege aus eigener Kraft zurückzulegen und dabei die Umwelt zu erleben, fand ich fantastisch. Ich radelte täglich die Sonnenallee rauf und runter. Auf der Neuköllner Lebensader gibt es keinen richtigen Radweg und viel Autoverkehr, sodass ich oft in brenzlige Situationen geriet. Doch das nahm ich mit einer Mischung aus großstädtischer Blasiertheit und jugendlichem Leichtsinn hin. Außerdem war ich nicht alleine, denn viele Menschen um mich herum fuhren auch Fahrrad.
Berlin liegt im Vergleich zu Saarbrücken am anderen Ende der Mobilitätsstatistik. Nur 337 von 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner haben ein Auto. Jedes Jahr werden weniger Wege mit dem Auto zurückgelegt, zwischen 2023 und 2019 betrug der Rückgang 14 Prozent. Auf kurzen bis mittellangen Strecken ist das Fahrrad meist der schnellste Weg, um von A nach B zu kommen.
Dann zog ich von Berlin nach Saarbrücken. Dort fielen mir als Radfahrer sofort große Unterschiede auf. In Berlin sind viele Radwege in kläglichem Zustand, doch in Saarbrücken gibt es häufig gar keine. So fuhr ich auf der Straße, dort war ich einigen Autofahrern ein Dorn im Auge. Ich wurde angehupt, in großer Geschwindigkeit und mit wenigen Zentimetern Abstand überholt und aus offenen Autofenstern heraus beleidigt.
Davon ließ ich mich aber nicht beirren, war ich doch die raue Berliner Schnauze gewöhnt. Herausfordernder waren dagegen die Hügel um die Saarbrücker Tallage. Um beispielsweise zur Universität oder meinem Arbeitgeber zu kommen, musste ich Berge hochfahren. Oben angekommen stellte ich mein Rad an meist leeren Fahrradständern ab, um dann von Kommilitonen und Arbeitskollegen wie ein Olympiasieger begrüßt zu werden. „Da bist du echt hochgefahren?“, schlug es mir entgeistert entgegen.
Entwicklung im Schneckentempo
Bald bemerkte ich, dass viel weniger Menschen das Fahrrad als alltägliches Verkehrsmittel nutzen. 2021 fuhren gerade mal sieben Prozent täglich Rad, wie der Fahrrad-Monitor für das Saarland feststellte. Mindestens ein paarmal im Monat schwangen sich 2021 immerhin 51 Prozent der Saarländer aufs Fahrrad. Für diesen Verkehr ist die Infrastruktur in Saarbrücken jedoch nicht ausgelegt. Weil Radwege fehlen, fahren viele Zweiräder oft kreuz und quer. „Saarbrücken erscheint mir manchmal wie die Welthauptstadt der Gehwegradler“, sagt Thomas Fläschner, Saar-Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC).
So kann es nicht bleiben, dachte nicht nur ich. Wie fast überall in Deutschland hat es sich auch die Saarbrücker Kommunalpolitik zur Aufgabe gemacht, die Situation für Radfahrende zu verbessern. In den letzten Jahren wurden eine Fahrradzone im Nauwieser Viertel eingerichtet, neue Radwege markiert und Abstellanlagen aufgestellt. Doch die Entwicklung geht im Schneckentempo voran. Und an der Situation vor meiner Haustür änderte sich nichts.
Die mehrspurige Straße, die den Lärm durch mein Fenster trug, verbindet die City mit der Stadtautobahn. Die Ost-West-Tangente verläuft an der Saar entlang und durchschneidet die Stadt einmal in der Mitte. Sie wurde in den 50er-Jahren gebaut, vor über 60 Jahren offiziell eingeweiht und ist ein Paradebeispiel für das Konzept der autogerechten Stadt. Grünflächen wurden betoniert, die alte Schlossmauer versetzt und viele Häuser abgerissen, um Platz fürs Auto zu schaffen.
Heute fahren täglich 100.000 Autos über die Saarbrücker Stadtautobahn. Um den Verkehr aufzufangen, gibt es Zehntausende Parkplätze in der City. Für Radwege und Grünflächen ist nicht mehr Platz. Alle Versuche, die Stadtautobahn einzudämmen, sind in den letzten Jahrzehnten gescheitert. Das Infrastruktur-Monster ist schlicht zu praktisch, um die City davon zu lösen und den allgegenwärtigen Autoverkehr zu reduzieren.
Ich brauchte eine Weile, aber am Ende des Jahres 2021 hatte ich mich damit abgefunden. Nach dem Glücksmoment auf dem Radweg zur Arbeit dauerte es noch einige Monate, bis die Depression endlich verschwand. Ich lernte, den Autolärm zu ignorieren, wie es auch alle anderen Saarbrücker tun. Bis ich vor Kurzem umgezogen bin, wieder zurück nach Berlin. Dort lässt die Radinfrastruktur zwar auch zu wünschen übrig, aber immerhin dröhnt kein Verkehrslärm mehr durch mein Fenster.