Laut Klaus Wiegandt weiß die Mehrheit der Menschen nicht, was eine Erderwärmung um drei Grad bedeutet. Mit seinem Buch will er Abhilfe leisten. Ein Gespräch über die Finanzierbarkeit von Klimaschutz und den Glauben an die Vernunft der Menschen.
Herr Wiegandt, die ganze Klimathematik kann sehr ermüdend sein. Wir wissen, dass wir in Sachen Klima quasi kurz vor dem Abgrund stehen. Über Probleme und Lösungsansätze wird in diversen Formaten gesprochen. Trotzdem ändert sich nur wenig. Wieso sollte jemand dennoch Ihr Buch „3 Grad Mehr“ lesen?
Das ist aus meiner Sicht relativ einfach zu beantworten: Wir haben bisher nicht den richtigen Ansatz gefunden, wie diese Klimapolitik erfolgreich umgesetzt werden kann. Denn in Demokratien werden gravierende Veränderungen der Rahmenbedingungen – und die sind notwendig, um unser Klima noch in den Griff zu bekommen – nur vorgenommen, wenn die Politiker keine Angst haben, dass sie dafür abgewählt werden. Das ist im Grunde das Problem der letzten 30 Jahre. Wir haben Jahr für Jahr unsere Klimaziele verfehlt und keine Regierung in einer Demokratie ist dafür abgestraft worden. Da kommt die Frage auf: Warum nicht? Der Grund ist: Die Mehrheit der Menschen hat keine Vorstellung davon, was ein unbegrenzter Klimawandel, etwa in der Größenordnung drei Grad plus, bedeutet. Die Medien, einschließlich des Weltklimarates, haben sich in den letzten 30 Jahren darauf konzentriert, zu untersuchen und diskutieren, was bei 1,5 bis zwei Grad plus passiert. Die Ergebnisse: Es werden Teile von Bangladesch überspült, es werden einige Inseln im Pazifik untergehen, die Meeresspiegel steigen bis zum Ende des Jahrhunderts um 45 Zentimeter und das Grönlandeis wird in 150 bis 200 Jahren möglicherweise abschmelzen. Politiker wussten, dass sie von jetzt an in ihrer Klimapolitik daran gemessen werden. Keiner wagte aufzuzeigen, dass das im Prinzip nicht die wesentlichen Folgen im Klimabereich sind, sondern jene, die die gesamte Menschheit bedrohen. Sie werden in meinem Buch beschrieben.
Und welche Folgen sind das?
Eine Drei-Grad-Erderwärmung, was an Land sechs Grad bedeutet – weil die Ozeane, die zu 70 Prozent unseren Globus bedecken, diesen Durchschnitt nach unten ziehen – hat völlig andere Dimensionen: Es kommt zu einer heute kaum vorstellbaren Radikalisierung des Wettergeschehens. Und das zusammen mit dem starken Temperaturanstieg hat verheerende Folgen für die gesamte Menschheit sowie für alle Bereiche der Gesellschaften. Vor allem die Landwirtschaft wird zehn Milliarden Menschen nicht mehr ernähren können. Wir können auf Vieles verzichten, aber keine zehn Tage auf Brot und Wasser. Darüber hinaus verursacht die Radikalisierung astronomisch hohe, immer wiederkehrende wirtschaftliche Schäden an den weltweiten Infrastrukturen, den Wohn- und Geschäftsgebäuden sowie den ständigen Unterbrechungen der Lieferketten der Industrie. Die jährlichen Gesamtschäden werden in der Größenordnung von zehn Prozent des Weltsozialproduktes liegen. Zudem macht der Anstieg der Temperatur an Land um sechs Grad viele Regionen der Erde unbewohnbar und führt zu Massenmigrationen.
Wenn man den Menschen erklärt, dass ein Großteil ihrer Enkelkinder mit Sicherheit verhungern und verdursten wird, dass kriegerische Auseinandersetzungen um die letzten Ressourcen stattfinden werden und die großen Mächte sicherstellen, dass zunächst ihr Volk abgesichert wird, dann – dieser Auffassung bin ich – entsteht ein völlig anderer Druck auf die Politik.
Sie selbst haben ein Kapitel über Lösungsansätze und ihre Finanzierbarkeit geschrieben. Wenn es Lösungen gibt, die sogar finanzierbar sind, warum setzt sie keiner um?
Weil darüber bisher gar nicht diskutiert wird. Wir haben die Erbschaftssteuer, wo wir inzwischen jährlich einen Erbübergang von 400 Milliarden Euro Erbvermögen haben. Das absolute Steueraufkommen daraus beträgt etwas acht Milliarden. Das sind zwei Prozent Erbschaftssteuer. Die Steuer verdient den Namen nicht. Keine Partei hat den Mut, dieses Thema anzupacken. Dabei geht es hier nicht um „Omas Häuschen“. Es geht um ein Prozent der Bevölkerung, die wirklich Reichen. Ich bin beispielsweise gegen eine Vermögenssteuer, sie ist international wettbewerbsbehindernd, weil sie nur in wenigen Ländern erhoben wird.
30 Prozent seines Erbes dem Staat zu geben und 70 Prozent steuerfrei zu bekommen, das ist doch ein großes Geschenk. Oft heißt es dann, dies wäre doch bereits einmal versteuert worden. Wenn wir richtige Steuersätze gehabt hätten, wären solche Vermögenskonzentrationen jedoch gar nicht möglich gewesen. Das Vermögen dieser Superreichen baut sich darüber hinaus auf Preisen auf, deren ökologische Folgekosten in die Zukunft verlagert sind. Diese über die Erbschaftssteuer einzufordern, halte ich für einen fairen Prozess.
Der zweite Bereich betrifft die fehlende Mehrwertsteuer im Finanzsystem. Wir zahlen auf nahezu alles Mehrwertsteuer auf Milch oder Brot sieben, auf Schuhe 19 Prozent. Wenn ich mir dagegen eine Aktie kaufe, zahle ich null Prozent Mehrwertsteuer. Bei einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft kam vor einigen Jahren heraus, dass Deutschland 40 Milliarden Euro im Jahr einnähme, würde man 0,1 Prozent Mehrwertsteuer auf Aktien und Anlagen und 0,01 Prozent im Hochfrequenzhandel erheben. Dies würde natürlich gegen bestimmte Kapitalinteressen gehen. Vielleicht fürchten Parteien, deren Unterstützung zu verlieren. Daher müssen wir die Zivilgesellschaft mobilisieren.
Laut Luisa Neubauer lässt Ihr Buch noch immer die Frage offen, wie all die Informationen so vermittelt werden können, dass sie eine Wirkung entfalten. Was ist Ihre Antwort darauf?
Die Basis ist mit dem Buch jetzt gegeben. Gerade junge Menschen sollten es lesen und auf ihre Parteien und Bundestagsabgeordneten zugehen und sie mit diesen Fragen konfrontieren. Warum ist es möglich, dass reiche Menschen an der Börse kaufen können, was sie wollen und nichts zahlen? Es gibt mehrere Wege, die ich versuchen werde zu beschreiten. Einer der wichtigsten Wege wäre, insbesondere für junge Menschen Influencer zu gewinnen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir müssen versuchen, mit dem Buch in Podcasts präsent zu sein. Fridays For Future ist eine tolle Bewegung. Aber sie hat das Handicap, dass sie zum Großteil aus Menschen besteht, die noch gar nicht wählen dürfen. Der einfachste Weg wäre, wenn etwa 200.000 junge Klima- und Umweltaktivisten in Parteien einträten, beispielsweise in die SPD und die CDU/CSU. Etwa zwei Drittel der jeweils 400.000 Mitglieder sind nur passive Beitragszahler. So ließe sich politisch viel bewegen.
Ich habe darauf geachtet, ein Buch für die Zivilgesellschaft zu schaffen, gut verständlich mit wissenschaftlicher Grundlage. Natürlich müssen auch die Medien versuchen, die Versäumnisse der letzten 30 Jahre aufzuzeigen.
Sie sprechen von „ökologischen Fundamentalisten“, die es für unverantwortlich halten „korrupten Ländern“ Geld zu zahlen, damit diese aufhören den Regenwald abzuholzen. Prof. Dr. Weizsäcker plädiert für eine „neue Aufklärung“. Müssen die Nordstaaten nicht auch ihren Anteil an den Zuständen dieser „korrupten Länder“ sehen?
Seit knapp zehn Jahren vertrete ich klar die These, dass wir im Prinzip für die Entwicklungs- und Schwellenländer das Geld aufbringen müssen, damit sie die Regenwälder schützen können. Heute erhalten diese Länder von der Industrie weltweit Gelder, damit sie abgeholzte Flächen für ihre wirtschaftlichen Interessen wahrnehmen können. Ob das Sojaplantagen, Palmölplantagen oder Viehzucht sind. Das muss man ihnen ersetzen. Der Regenwald fragt nicht, woher das Geld kommt, das ihn schützt. Wir müssen sehen: Heute fließen die Gelder zu korrupten Leuten, aber die holzen dafür den Regenwald ab. Wir würden Gelder zur Verfügung stellen, damit die Abholzung stoppen und knapp fünf Milliarden Tonnen CO2 im Jahr einsparen. Dies sind Größenordnungen, die in der Wirtschaft zusätzlich zum Klimavertrag gar nicht machbar sind. Dafür bräuchten wir 15 bis 20 Jahre und es würde das Zehnfache kosten.
Lula da Silva hat die Präsidentschaftswahl in Brasilien für sich entschieden. Was bedeutet das für den Regenwald?
Lulas Sieg ist ein Segen für den Regenwald. Denn er erkennt, welche Katastrophe entsteht, wenn wir so weitermachen. Da habe ich große Hoffnung. Aber man müsste dann Lula unterstützen und Brasilien einen Großteil von dem, was es durch die Abholzung des Regenwaldes an Geld verdient hat, ersetzen. Lula würde ja das Geld nehmen und auch schon abgebrannte und degradierte Regenwälder wiederaufforsten.
Glauben Sie, dass all die Szenarien, die in Ihrem Buch beschrieben werden, noch ernsthaft zu vermeiden sind?
Ich glaube an die Vernunft der Menschen. Ich bin Jahrgang 1939, kurz vor dem Krieg geboren und habe die ganze Phase nach dem Krieg miterlebt. Die Menschen, die die Ärmel hochgekrempelt und Dinge bewältigt haben, die man gar nicht für möglich gehalten hat. Wir Menschen sind zu Vielem fähig. Wir müssen nur eine Zukunft sehen, und Alternativen haben. Wenn man sagen würde, es ist zu spät, wir schaffen es nicht – das wäre eine Katastrophe. Wir könnten sogar noch 1,5 Grad schaffen, wenn wir uns richtig anstrengen. Aber zwei Grad sind sicher machbar.