Die Lanzo-Täler in den südlichen Grajischen Alpen nordwestlich von Turin sind eine hochalpine Region. Für Winterurlauber herrlich, doch der Schnee bleibt immer öfter aus. Deshalb wurde das Projekt „Beyond Snow“ ins Leben gerufen.

In den frühen Morgenstunden umhüllt der Nebel das Tal Val di Ala. Doch sobald die ersten Sonnenstrahlen ihn sanft berühren und er sich langsam auflöst, spürt man eine erfrischende Kühle in dem Tal, das im Westen an Frankreich grenzt. Seit Jahrhunderten läuten die Kirchenglocken zuverlässig den Beginn eines neuen Tages für die Bewohner ein. Die Steinhäuser in der Gemeinde Ala di Stura reihen sich um den Dorfplatz, wie in einem lebendigen Freilichtmuseum. Sonnenuhren an den Hauswänden zeigen die Zeit an und kunstvolle Fresken in kleinen Kapellen lassen die Geschichte lebendig werden. Am Rande des Dorfes erhebt sich hoheitsvoll ein Jugendstilhotel, das trotz sorgfältiger Restaurierung den Eindruck erweckt, als sei es direkt den 20er-Jahren entsprungen. Mit seinen antiken Möbeln und funkelnden Kronleuchtern versetzt es seine Besucher in die Ära eines alten Schwarz-Weiß-Films. Die Gemälde im prunkvollen Foyer zeigen elegante Gäste vergangener Epochen, die mit steifen Hüten und langen Kleidern posieren. Heutzutage strömen Gäste aus aller Welt herbei, um dieses einzigartige Ambiente zu erleben.
Übernachten im Jugendstilhotel

Pfadwege schlängeln sich durch den dichten Wald, hin und wieder unterbrochen von einem einsamen Gehöft, wo die Hunde lautstark ihr Revier verteidigen. Auf der saftig grünen Wiese tummeln sich die Saanenziegen von Cinzia und Renata, als ob sie die Stars des Berges wären. Ihre Hufe versinken sanft im weichen Gras, während sie anmutig über die Wiese schreiten. Das Sonnenlicht lässt ihr dichtes Fell glänzen und betont ihre majestätischen Hörner, die stolz in die Höhe ragen. Mit ihren Lippen pflücken sie geschickt und behutsam die saftigen Blätter zwischen den spitzen Dornen des Brombeerstrauches. Im kleinen Laden werden köstliche Käsesorten angeboten, deren Herstellungsverfahren seit Jahrhunderten unverändert geblieben sind.
In den Wintermonaten findet man noch Schnee

Das Dorf Balme strahlt zwar nicht den königlichen Glanz vergangener Zeiten aus, doch als erstes Bergdorf im Piemont ist es reich an Geschichte. Im örtlichen Museum zeugen verblasste Fotos von riesigen Schneemassen, die einst das Dorf im Winter bedeckten und die Bewohner tagelang in ihren Häusern einschlossen. Die Hirten mussten beschwerliche Wege durch die Berge nehmen, um für den Lebensunterhalt der Familien zu sorgen. Salz aus den Salzminen der Provence wurde gegen Reis aus dem Piemont getauscht, später folgten Tabak, Kaffee, Schokolade, Schießpulver, Seidentaschentücher und Olivenöl. Im 19. Jahrhundert wurden die Hirten angesehene Bergführer und begannen mit dem Skifahren. Die Bewohner der Täler beobachteten mit Neugier die Entwicklung und wahrscheinlich auch die Stürze der ersten Skifahrer. Wer in den Wintermonaten das Dorf besucht, kann noch immer Abenteuer im Schnee erleben, auch wenn der Schnee sich rar gemacht hat und im Tal bereits alles weggetaut ist. Ein steiler Pfad am Rande des Ortes windet sich durch den dichten Lärchenwald, 300 Höhenmeter in Serpentinen nach oben. Das Knirschen unter den Schneeschuhen begleitet jeden Schritt. Beim Vorwärtsstapfen kann man sich ein wenig in die Vergangenheit versetzen, als die Hirten mit ihren Holzleisten an den Füßen und ihren Ziegen mutig steile Schneehänge erklommen und gefährliche Schluchten sowie Gletscher überquerten, um schwere Lasten zu transportieren. Guide Alessandro berichtet von den heimischen Wildtieren, die hier ebenfalls ihre Wege ziehen. Mit einem geschulten Blick weiß er genau, an welchen Stellen es sich lohnt, genauer hinzuschauen, denn er kennt ihre Lieblingsplätze. Als Begleiter von Gästen ist er oft in der Natur unterwegs. Plötzlich ruft er aufgeregt: „Seht ihr das? Da klettert ein Steinbock auf dem Felsen. Und dort noch einer!“ Er zeigt auf eine Stelle an der Felswand direkt neben dem Wasserfall, wo zunächst nur dunkle Punkte zu erkennen sind.
Dem Hütehund bei der Arbeit zuschauen

Doch mit einem scharfen Blick lassen sich die Tiere deutlich ausmachen. Selbst junge Steinböcke bewegen sich mühelos und leichtfüßig in den steilen Wänden auf und ab. Nach dem anstrengenden Aufstieg wird die Umgebung sanfter und Lärchen erstrecken sich so weit das Auge reicht. In der Ferne glitzern die schneebedeckten Gipfel der umliegenden Felskämme. Plötzlich taucht ein Steinadler auf und gleitet elegant über die Köpfe, um zu beobachten, was die Schneeschuhwanderer in seinem Revier suchen. Dann verschwindet er wieder lautlos im dichten Wald. Alessandro zeigt auf die Bäume mit den verschlungenen Wurzeln und erzählt begeistert davon, wie er im Wald seine innere Ruhe findet. „Einen Monat weniger Schnee hat Auswirkungen auf die Angebote im Wintertourismus. Doch zunehmend sind Mountainbike-Touren im Spätherbst gefragt“, so die Feststellung der Experten des Projekts Beyond Snow. „Die Bergregion Colle de Lys bietet ideale Bedingungen, um mit dem Bike neben kulturellen Sehenswürdigkeiten und dichten Wäldern auch Neues zu entdecken.“

Friedlich grast eine Schafherde, bis plötzlich Aufregung aufkommt, als der Geländewagen von Riccardo Borronium um die Kurve biegt. Der Hütehundezüchter öffnet die Tür und sein Border Collie Bubi springt sofort auf die Weide, um sicherzustellen, dass seine Schafe sich anständig benehmen. Die geduckte Haltung und der fixierende Blick des schwarz-weiß gefleckten Bubi lässt die Schafe sofort regungslos stehen. Tägliches Training ist wichtig. Gemeinsam nähern sich der Hundezüchter und Bubi den Schafen auf einem Abstand von 20 bis 30 Metern. Riccardo gibt präzise Anweisungen. Der Border Collie flankiert in perfektem Winkel und wird dann mit einem ruhigen Seitenkommando losgeschickt, um die Schafe zu treiben. Er behält stets den Überblick und stoppt bei Bedarf, um erneut anzusetzen. Dabei achtet er darauf, alle Tiere zu umkreisen und keine Abkürzungen zu nehmen. Schließlich muss er den Schafen zeigen, wer der Boss ist. Denn er ist dafür verantwortlich, die Herde zu schützen. Mit zunehmender Präsenz von Wölfen in der Gegend wird diese Aufgabe immer wichtiger. „Der Border Collie gilt heute als einer der fähigsten Hütehunde der Welt“, erzählt Riccardo den Besuchern. Denn einige haben ihr Mountainbike abgestellt und sind zur Unterrichtsstunde dazugekommen.