Solch ein kurioses Pokal-Halbfinale hat es noch nie gegeben. Mit Bayer Leverkusen steht nur ein Bundesligist in der Vorschlussrunde, dazu zwei Zweitligisten und der 1. FC Saarbrücken als Drittligist. Der Pokalsieger dürfte damit quasi feststehen. Oder doch nicht?
Irgendwie sind sie dann doch alle vier auf Augenhöhe. Sie stehen alle im Halbfinale des DFB-Pokals, alle haben auf dem Papier erst mal eine 50-prozentige Chance auf das Endspiel in Berlin und eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit eines Titelgewinns im DFB-Pokal. Stellvertretend dafür schätzt auch der vermeintlich ganz klare Favorit den vermeintlich größten Außenseiter sehr hoch. Xabi Alonso, als Spieler Weltmeister, zweimal Europameister und zweimal Champions-League-Sieger und heute als Trainer von Bayer Leverkusen gerade Baumeister einer der spannendsten Mannschaften Europas, sollte eigentlich über das Europa-League-Spiel gegen Karabach Agdam aus Aserbaidschan sprechen. „Ich liebe diese Pokal-Spiele, wenn es um alles oder nichts geht“, sagte Alonso mit leuchtenden Augen. Und dann schlug er, ohne danach gefragt zu werden, den Bogen zum Pokalspiel am Abend zuvor. „Die Stimmung im Pokal in Saarbrücken war unglaublich“, sagte Alonso: „Das ist keine Überraschung. Aber sie war wieder unglaublich.“
„Ich liebe diese Pokalspiele“
Würde Alonso mit dem klaren Favoriten beim klaren Außenseiter ranmüssen, wäre also auch er gewarnt. Obwohl Leverkusen, noch ohne ihn, 2020 die erste wunderbare Halbfinal-Reise von Saarbrücken stoppte. Damals durch ein 3:0 im Halbfinale, wegen Corona aber ohne Zuschauer. Diesmal treffen die beiden nicht aufeinander, sondern es gibt zwei echte Derbys im Halbfinale. Am 2. April empfängt Saarbrücken als Drittligist den Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern. Einen Tag später der souveräne Bundesliga-Tabellenführer Leverkusen den anderen Zweitligisten Fortuna Düsseldorf. Zwischen den Arenen in Saarbrücken und Kaiserslautern liegen gerade mal 70 Kilometer, zwischen denen der rheinischen Rivalen gerade mal 38.
Das gibt dem Ganzen noch mal einen ganz besonderen Reiz, denn es hat eben nicht nur der Pokal seine eigenen Gesetze, sondern eben auch Derbys. Doch natürlich ist das mit der gleich großen Chance für alle Teilnehmer Quatsch. Beim größten deutschen Wettanbieter bekäme man für einen Pokalsieg von Leverkusen vor dem Halbfinale gerade mal 1,22 Euro pro gesetzten Euro zurück. Die Quote auf Kaiserslautern steht bei 9:1, die auf Saarbrücken bei 11:1 und die auf Düsseldorf auf 15:1. Die Fortuna ist als Aufstiegskandidat der Zweiten Liga nominell die zweitbeste Mannschaft im Topf. Aber sie muss im Halbfinale eben in Leverkusen ran.
Traum von Berlin teuer bezahlt
Düsseldorfs Trainer Daniel Thioune war bei der Auslosung extra ins „Aktuelle Sportstudio“ gereist und verfolgte das schwerstmögliche Los mit bitterer Ironie. „Es war unser Wunschlos“, sagte er. Und sein Blick sagte, dass er natürlich genau das Gegenteil meinte. Bayer ist der eindeutige Platzhirsch in diesem Halbfinale, doch auch für die Leverkusener wäre der Pokalsieg etwas Besonderes. Seit ihrem Finalsieg 1993 gegen die Hertha-Amateure haben die Rheinländer überhaupt gar keinen Titel mehr gewonnen. Der im Pokal scheint nun der leichteste, doch wenn die Leverkusener zuvor ihre zehn Punkte Vorsprung auf den FC Bayern in der Meisterschaft verspielt haben und das Finale in der Europa League verpasst haben sollten, wäre ein Gewinn des Pokals am Ende nur ein schwacher Trostpreis. Doch von den ersten 38 Pflichtspielen der Saison haben sie 33 gewonnen und keines verloren. Vor dem Pokalspiel liegt noch ein Heimspiel gegen Hoffenheim in der Liga. Aber es wäre schon kurios, wenn die Serie ausgerechnet im 39. Spiel zu Hause gegen einen Zweitligisten in einem K.-o.-Spiel reißen würde.
Die Fortuna hat das Halbfinale und den Traum von Berlin übrigens möglicherweise teuer bezahlt. Denn als Vierter hätte sie den Aufstieg in die Bundesliga Stand jetzt knapp verpasst. Und nach allen vier bisherigen Pokalrunden verlor die Fortuna entkräftet das nächste Liga-Spiel, dreimal davon zu Hause. Aber die Düsseldorfer haben eine sehr bunte Pokal-Geschichte. Sie standen 1937, 1957, 1958 und 1962 im Endspiel, verloren aber jedes Mal. Ebenso 1978, doch dann folgte Historisches: 1979 gewann Düsseldorf den Pokal und wiederholte das Ganze 1980. Fast drei Jahre lang und bis heute einmalige 18 Spiele hintereinander war die Fortuna im DFB-Pokal ungeschlagen. Die Serie endete 1981 im Viertelfinale gegen die Hertha. 1987 und zuletzt 1996 stand Düsseldorf noch mal im Halbfinale, danach nie wieder. Zwei Viertelfinals wurden 1990 gegen Kaiserslautern und 2020 gegen Saarbrücken verloren, also die beiden möglichen Finalgegner.
Vor diesem Hammer-Los hatte die Fortuna in Bezug auf die Gegner tendenziell eher Los-Glück und musste als einziger Halbfinalist keinen Erstligisten ausschalten. Im Gegenzug musste Düsseldorf aber schon alle vier bisherigen Spiele auswärts bestreiten. Was die Leistung wieder beachtlich macht, zumal die Aufgaben bei den heimstarken Magdeburgern oder dem in der Zweiten Liga daheim noch ungeschlagenen Tabellenführer FC St. Pauli alles andere als Selbstläufer waren.
Dass eben nur ein Erstligist im Halbfinale steht, überrascht auf den ersten Blick vor allem, wenn man sieht, dass die vier Halbfinalisten zusammen gerade einmal fünf Bundesliga-Clubs ausschalten mussten. Dabei tat sich ausgerechnet Drittligist Saarbrücken hervor, der FC Bayern, Eintracht Frankfurt und Borussia Mönchengladbach bezwang – und das jedes Mal ohne Verlängerung und Elfmeterschießen! Leverkusen und der FCK räumten auf dem Weg in die Runde der letzten Vier je einen Erstligisten aus dem Weg.
FCS das dritte Mal im Halbfinale
Die anderen stolperten entweder an schlechten Tagen bei starken Außenseitern wie eben Serienmeister Bayern oder Europacup-Dauergast Frankfurt. Oder sie schalteten sich wegen einer in dieser Saison wirklich sehr kuriosen Auslosung unterwegs selbst aus. So scheiterte der Liga-Dritte Stuttgart an Leverkusen, nachdem er vorher den Vierten Dortmund ausgeschaltet hatte, der sich davor gegen den Achten Hoffenheim durchgesetzt hatte. Leipzig, der Pokalsieger der vergangenen beiden Jahre, schied schon in der zweiten Runde in Wolfsburg aus, die Wolfsburger erwischte es in der Runde darauf in Gladbach. Der Tabellensiebte Augsburg verlor beim Drittligisten Unterhaching, der Neunte Freiburg daheim gegen Zweitligist Paderborn, der Zehnte Bremen beim Drittligisten Viktoria Köln.
So steht unter dem Strich, dass es in diesem Jahrtausend einen neuen Pokalsieger geben wird. Denn während Saarbrücken das dritte Mal im Halbfinale steht und vom ersten Endspiel überhaupt träumt, liegen auch die Lauterer Pokal-Märchen schon etwas länger zurück. Nach 2000 erreichten die Pfälzer dreimal mindestens das Viertelfinale, sowohl 2002 ebendort, als auch 2003 im Endspiel oder 2014 im Halbfinale war dann immer der FC Bayern Endstation. Der letzte Pokalsieg datiert aus dem Jahr 1996 und war ein ganz bitterer, weil die Pfälzer eine Woche zuvor erstmals aus der Bundesliga abgestiegen waren. Nachdem sie zwischenzeitlich bis an den Rand der Viertklassigkeit abstürzten, bietet der Pokal in einer ansonsten frustrierenden Saison mit schon drei Cheftrainern die große Chance, bundesweit mal wieder ein Ausrufezeichen zu setzen. Und der 70 Jahre alte Trainer-Routinier Friedhelm Funkel hat durchaus eine lebendige Pokal-Geschichte. 1985, bei der ersten Austragung nach der Festinstallierung in Berlin, feierte er mit Uerdingens Finalsieg gegen die Bayern eine der größten Überraschungen. Nun könnte er für das 40. Endspiel zurückkehren. Es wäre sein viertes, nachdem er 1998 im MSV Duisburg und 2005 mit Frankfurt schon als Trainer dabei war. Auch dabei wurden jeweils die Bayern zum Spielverderber.
Funkel kennt den Pokal gut
In diesem Jahr ärgerten die Bayern nur den Drittligisten Preußen Münster in der ersten Runde, dann war in Saarbrücken schon Schluss. Die Euphorie im Saarland ist seitdem riesig. Die Tickets für das Halbfinale sind begehrter als Karten für Taylor-Swift-Konzerte in den USA. Beim Bäcker, beim Metzger und im Supermarkt ist der FCS wieder Gesprächsthema Nummer eins. Und kurz nach dem Halbfinale wird ein Magazin aus der bundesweiten Serie „Mehr als ein Spiel“ erscheinen. Die Saarländer schwammen in einer ansonsten mäßigen Saison auf einer Pokalwelle und sorgten für ein absolutes Kuriosum. Nachdem er 2020 als erster Viertligist der Geschichte das Halbfinale erreicht hatte, taucht der FCS nur vier Jahre später schon wieder dort auf. Und erreichte somit in diesem Zeitraum tatsächlich häufiger die Vorschlussrunde als die Bayern oder der BVB. Und selbstredend auch als jeder der anderen drei verbliebenen Rivalen.
Das macht Eindruck. Nicht nur bei Xabi Alonso. Sondern auch bei Funkel. „Die Favoritenrolle liegt ganz klar beim 1. FC Saarbrücken“, sagte er: „Sie haben Bayern München geschlagen, eine der besten Mannschaften in Europa geschlagen. Sie haben Eintracht Frankfurt geschlagen, sie haben Mönchengladbach geschlagen und den Karlsruher SC, gegen den wir zu Hause 0:4 verloren haben.“ Ist das Taktik von Trainer-Fuchs Funkel? Ein Stück weit sicher. Doch Funkel sagt: „Das ist keine pessimistische Einschätzung, sondern eine vollkommen realistische.“ Denn in diesem verrücktesten Pokal-Jahr, das es je gab, ist ja sowieso nichts normal und niemand vor niemandem sicher.