Markus Stein aus Winterbach/Rheinland-Pfalz, heute Abgeordneter des rheinland-pfälzischen Landtags, kam mit acht Jahren in eine Pflegefamilie – anfangs eine Zeit voller Traurigkeit und Unsicherheit. Seine Geschichte zeigt, wie wichtig und erfolgreich das Modell „Pflegeeltern“ sein kann.

Herr Stein, Sie kamen mit acht Jahren in eine Pflegefamilie. Wie schwer war das für Sie?
Es war eine Achterbahn der Gefühle. Mit acht Jahren ist man alt genug, die Trennung von der einzigen Bezugsperson, in meinem Falle die Trennung von meiner leiblichen Mutter, bewusst wahrzunehmen. Verstehen kann man es in einem solchen Alter allerdings nicht. Die Gründe für die Lebensveränderung waren noch viel zu „erwachsen“, um sie als Kind wirklich zu durchblicken. Die Traurigkeit wurde vermischt mit der Unsicherheit des Fremden. Eine neue Umgebung, andere Menschen: Das gesamte Leben verändert sich. Nichts ist, wie es war. Das war eine sehr aufreibende und emotionale Zeit.
Aus welchen Gründen kamen Sie in eine neue Familie?
Meine Mutter war alleinerziehend. Um den Lebensunterhalt zu bestreiten, musste sie einer Arbeit nachgehen. Sie brauchte also auch eine Betreuung für mich. Tagesmütter und -familien waren für mich – soweit ich mich erinnern kann – schon im Alter eines Kleinkindes der Normalfall. Es gab auch Bekannte meiner Mutter, die sich gelegentlich um mich kümmern konnten. Eine der wichtigsten Bezugspersonen war damals eine Bekannte meiner Mutter und deren Familie. Zu dieser Familie habe ich bis heute immer wieder mal Kontakt. Letztlich hatte die Entscheidung meiner Mutter, mich in eine Pflegefamilie zu geben, wohl vor allen Dingen damit zu tun: der Vereinbarkeit zwischen dem Berufsleben und der Betreuung eines schulpflichtigen achtjährigen Kindes, das in einer großen Stadt weder alleine für sich sorgen noch ständig bei verschiedenen Betreuenden sein sollte.
Was war am Anfang am schwierigsten für Sie? Und wie lange hat es etwa gedauert, bis Sie sich im neuen Umfeld eingelebt hatten?
Am schwierigsten war die unmittelbare Zeit nach dem Gespräch mit meiner Mutter, in dem ich erfahren habe, dass ich künftig zu einer anderen Familie komme. Ich kann mich an den Tag, an dem mir meine Mutter davon erzählte, noch heute sehr gut erinnern. Dieser und die Tage danach waren wirklich nicht leicht. Doch der Prozess, bis man bei einer neuen Familie „ankommt“, ist ja ein fließender – sowas passiert ja nicht von heute auf morgen. Vom ersten Kennenlernen, über stundenweise Besuche, den ersten vollständigen Tagen miteinander und schließlich immer längeren gemeinsamen Zeiten wächst man letztlich zusammen. Monate, nachdem klar wurde, wie sich mein Leben verändern würde, kannte ich bereits meine neue Familie und auch viele Menschen im neuen Umfeld. Das machte es von Woche zu Woche leichter. Der Umstand, dass meine neue Familie und das gesamte Umfeld meiner neuen Heimat so herzlich und aufgeschlossen waren, machte es natürlich auch einfacher.

Waren Sie das einzige Kind/Pflegekind in der Familie?
Nach mir gab es vereinzelte vorübergehende Betreuungszeiten für Pflegekinder. Ich war/bin allerdings das einzige dauerhafte und letztlich adoptierte Pflegekind in meiner Familie.
Haben Sie Ihre Pflegeeltern mit „Mama“ und „Papa“ angesprochen?
Nein, dazu kam es nie. Mit acht Jahren war es noch zu früh und letztlich hat es sich nie etabliert.
Würden Sie sagen, dass Sie dieselbe Verbindung zu Ihren Pflegeeltern hatten und haben wie andere Kinder zu Ihren leiblichen Eltern?
Unbestritten: Ja! Ich meine: Wer die „Eltern“ für einen Menschen sind, wird sich nach meiner Auffassung nie am biologischen oder rechtlichen Hintergrund bemessen. Für mich waren meine Eltern immer diejenigen Menschen, die sich um mich gesorgt haben, mich begleitet haben und mich und meine Familie bis heute so maßgeblich unterstützen. Das waren seit meinem achten Lebensjahr meine Pflegeeltern, die für mich heute nichts anderes sind als Mama und Papa für andere Kinder: meine Eltern.
An welche besonders glücklichen Momente mit Ihrer Familie denken Sie gern zurück?
Persönliche Highlights meiner Kindheit waren immer die Feierlichkeiten, die ich aus Mannheim so nicht kannte und kennen konnte: Kindergeburtstage, gemeinsame Ausflüge, Übernachtungspartys mit Freunden, Weihnachts- und Osterfeiertage – all das war für mich eine neue Welt und hat mich Kind sein lassen. Dafür haben meine Eltern und die Familie gesorgt. Und meine Eltern sind heute Oma und Opa. Unsere beiden Töchter leben mit meiner Frau und mir nur ein paar Häuser weiter in derselben Straße. Wir erleben jeden Tag als Familie gemeinsam und haben eine großartige Zeit zusammen. Und ich kann meinen Eltern heute natürlich auch etwas zurückgeben, indem ich mit meiner Familie auch für sie da bin.
Ihre Eltern sind mit Sicherheit sehr stolz auf Sie …
Kein Geheimnis ist es, dass meine Eltern sehr stolz auf alles sind, was ich im Leben erreichen konnte. Das war nicht erst mit meiner politischen Laufbahn so, sondern schon mit dem sehr mühsamen, aber letztlich erfolgreichen Lernen des Fahrradfahrens, des Schwimmens, den verschiedenen Schulabschlüssen und der ersten Berufsausbildung, meinem Studium und nicht zuletzt der Gründung meiner Familie. Sie waren immer stolz auf das, was ich als ihr Sohn machte – bis heute.

War das in der Schule oder unter Freunden manchmal ein Thema, dass Sie bei Pflegeeltern aufwachsen?
Ständig. Es begann schon damit, dass ich als Pflegekind noch einen sehr schwer zu schreibenden Nachnamen hatte, der durch meine Vorfahren aus Polen/Schlesien geprägt war. Jedes Mal, wenn ich in einer neuen Klasse ankam, stand die Frage im Raum, warum meine Eltern anders heißen als ich – die Schwierigkeit des Nachnamens hat das natürlich befeuert. Damit war das Thema in meiner Kindheit aber meist erledigt. Alle kannten meine Geschichte, niemand hat mich aber deshalb anders oder ungerecht behandelt. Es gehörte zu mir, das war es schon.
Heute rückt meine „Geschichte“ natürlich mehr in den Vordergrund, da ich vor allen Dingen in meiner Funktion als Politiker auch oft über meine Vergangenheit und meinen Lebensweg gefragt werde. Und ich spüre, dass es viele Menschen gibt, die sich sehr dafür interessieren.
Hatten Sie während Ihrer Kindheit/Jugend und später auch Kontakt zu Ihrer leiblichen Mutter?
Ja. Regelmäßige Briefe, gegenseitige Besuche und Telefonate sind selbstverständlich. Das tut sicherlich allen Seiten gut – mich inbegriffen.
Würden Sie sagen, dass Pflegefamilien für viele Kinder die letzte Rettung sind?
Das würde ja unterstellen, dass andere Einrichtungen der Jugendhilfe außerhalb von Pflegefamilien keine Rettung sein können. Das würde den vielen Heimeinrichtungen und Institutionen, die sich um Kinder und ihren Schutz kümmern, in unserem Land nicht gerecht. Dort wird eine unglaublich gute Arbeit geleistet, die natürlich auch zum Beispiel für Heimkinder eine gute Lebensperspektive öffnen kann (und soll). Zudem muss eine Pflegefamilie auch nicht per se die richtige Lösung sein. Für den Erfolg eines solchen Lebensmodells kommt es meines Erachtens vor allen Dingen darauf an, ob sich das Kind und die Pflegeeltern gemeinsam wohlfühlen. Die Chemie muss passen und auch das Umfeld. Bei mir war es von Anfang an so – ein sehr positives Beispiel, was auch die Behörden immer wieder herausstellten. Ob und wie es klappt, hängt aber immer am individuellen Einzelfall.
Konnten Sie sich politisch schon für Heim- und Pflegekinder einsetzen?

Tatsächlich konnte ich das direkt zu Beginn meiner Zeit im Landtag. Gemeinsam mit dem damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden und heutigen Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer sowie den Kolleginnen und Kollegen der rheinland-pfälzischen Ampel haben wir uns in Richtung Bundespolitik für die Abschaffung der sogenannten Kostenbeiträge für Heim- und Pflegekinder eingesetzt. Diese Kostenbeiträge mussten geleistet werden, sobald ein Kind in der Jugendhilfe (Heim-/Pflegekinder) einen eigenen Verdienst erhielt (zum Beispiel aus Ausbildung oder anderen Jobs) – 75 Prozent des Verdienstes waren weg und mussten an den Staat geleistet werden. Ein Umstand, den wir als höchst ungerecht empfanden und deshalb auch gemeinsam in Rheinland-Pfalz mit einem Entschließungsantrag im Landtag aufgegriffen haben. Meine Jungfernrede im Parlament hielt ich auch zu diesem Thema (www.youtube.com/watch?v=6va5JnQcnPs). Besonders stolz bin ich, dass das Ansinnen von damals zwischenzeitlich umgesetzt wurde und Heim- und Pflegekinder seither massiv entlastet wurden.
Müsste sich Ihrer Ansicht nach hierzulande noch etwas für Pflegekinder verbessern?
Wir brauchen mehr Menschen, die bereit sind, Pflegeeltern zu werden. Hierfür braucht es ausreichend Personal in den Behörden, eine transparente und breite Information und Aufklärung, letztlich aber auch finanzielle Rahmenbedingungen, die es den Menschen ermöglicht, überhaupt eine solche verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen.

Wie sieht das bei Pflegefamilien aus? Müssten diese Ihrer Ansicht nach in manchen Bereichen noch besser unterstützt werden oder gibt es bereits gute Unterstützung?
Diejenigen, die sich bewusst dafür entschieden haben, eine solch verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, sollten daher auch die bestmögliche Unterstützung erhalten, um dies umzusetzen. Hierbei handelt es sich nicht nur um die notwendige finanzielle Unterstützung, sondern auch um ein breit gefächertes Angebot an anderweitigen Unterstützungsmaßnahmen, insbesondere in schwierigen Situationen, wie zum Beispiel auf der zwischenmenschlichen Ebene. Sollten eben Schwierigkeiten dieser Art auftreten, haben Pflegeeltern einen rechtlichen Anspruch auf Beratung, Unterstützung und Begleitung in diesem Prozess. Das ist richtig und enorm wichtig. Finanziell werden Pflegeeltern bereits sehr gut mit Beihilfen und Zuschüssen begleitet. So gibt es, neben dem Pflegegeld, welches die Basis der finanziellen Unterstützung darstellt, unter anderem eine Unterstützung für eine altersgerechte Erstausstattung des Kinderzimmers, Unterstützung bei besonderen Feierlichkeiten des Pflegekindes, bei Klassenfahrten, Ferienfreizeiten, aber auch, wenn nötig, zum Beispiel für Nachhilfeunterricht.