Tausend Tage sind längst vorbei, in wenigen Wochen jährt sich die russische Vollinvasion in die Ukraine bereits zum dritten Mal. Das Wort „Verhandlungen“ macht immer mehr die Runde. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler skizziert die möglichen Rahmenbedingungen und Ziele.
Drei Jahre unter Dauerbeschuss zermürben die Menschen, die noch in der Ukraine leben. Vor dem russischen Überfall zählte die Ukraine noch knapp 42 Millionen Einwohner, fast sieben Millionen sollen nach UN-Angaben seit dem 24. Februar 2022 vor dem Krieg ins Ausland geflohen sein, gut fünf Millionen Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Gezielte russische Angriffe haben weite Teile der Infrastruktur, insbesondere die Strom- und Fernwärmeversorgung zerstört.
An der Front steht die Ukraine unter massivem Dauerdruck. Russische Truppen sind im vergangenen Jahr immer weiter vorgerückt, langsam, aber stetig, und unter Inkaufnahme hoher Verluste. So sollen sie 2024 Geländegewinne etwa in der eineinhalbfachen Größe des Saarlandes erzielt haben. Nach Angaben der unabhängigen ukrainischen Analyseplattform „Deep State“ hatten russische Truppen zu Beginn des Jahres 2024 insgesamt 17,98 Prozent ukrainisches Staatsgebiet besetzt, Ende 2024 waren es demnach 18,46 Prozent.
Hoffnung auf Verhandlungen
Für diesen vergleichsweise geringen Geländegewinn hat Russland einen hohen Preis bezahlt. Das Institute for the Study of War (ISW) geht von Gesamtverlusten von knapp 430.000 Soldaten (Tote und Verwundete) aus. Der Einsatz von über 10.000 nordkoreanischen Soldaten kommt also nicht von ungefähr.
Trotzdem sieht sich Kriegsherr Putin selbst in einer starken Position, das Wort Friedensverhandlungen ist auch im Kreml kein Tabu mehr – natürlich zu russischen Bedingungen. Die lauten unter anderem: „Anerkennung der Realitäten“. Das bezieht sich auf die völkerrechtlich nicht anerkannten Scheinreferenden in den Gebieten der selbsternannten Volkrepubliken Luhansk und Donezk, sowie Saporischschia. Die Krim hatte Russland bereits 2014 annektiert.
Kurz vor Weihnachten sorgte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico für Ärger bei den EU-Kollegen, als er Putin einen Besuch im Kreml abstattete und schließlich die Slowakei als Ort möglicher Verhandlungen ins Gespräch brachte. Für Putin natürlich eine willkommene Gelegenheit. „Warum nicht?“, sagte der Kreml-Chef, schließlich habe die Slowakei eine „neutrale Haltung“. Ein knappes halbes Jahr vor Fico war bereits der ungarische Regierungschef Victor Orbán in selbsternannter Friedensmission nach Moskau aufgebrochen. Auch diese Eigenmächtigkeit hatte die EU-Kollegen empört.
Wirklich ernst werden dürfte es aber wohl nach dem 20. Januar, dem Tag, an dem Donald Trump in den USA offiziell seine zweite Präsidentschaft antritt. Das vollmundige Wahlgetöse, den Krieg in der Ukraine noch vor Amtsantritt binnen eines Tages zu beenden, hallt noch nach. Dem Vernehmen nach könnte es aber wenige Tage nach Amtsübernahme zur Sache gehen. Dann will die neue Administration ihren „Friedensplan“ vorlegen. Und was darüber gerüchteweise bislang zu hören ist, klingt sehr nach einem Entgegenkommen gegenüber dem russischen Kriegsherrn: Verzicht der Ukraine auf die besetzten Gebiete und einen Nato-Beitritt, Stationierung europäischer Truppen zur Sicherung. Ob es so kommt, ist noch offen.
Wie die russische Politik und die derzeitige Ausgangslage einzuschätzen sind und was das wiederum für eine neue Weltordnung bedeuten würde, damit haben sich Herfried Münkler, angesehener Analytiker und Politikwissenschaftler, und Christian Hacke, ebenfalls Politikwissenschaftler und Historiker, kurz vor Jahreswechsel bei der Stiftung Demokratie Saarland auseinandergesetzt.
Dabei räumte Herfried Münkler ein, den russischen Präsidenten Putin lange für einen „rationalen Nutzenmaximierer“ gehalten zu haben, einen „Homo oeconomicus“, der Kosten und Ertrag abwägt. Das aber sei eine „anthropologische Unterstellung“ entsprechend dem „Zeitgeist des Westens“, der alles unter ökonomischen Blickwinkeln betrachtet und von rationalen Akteuren ausgeht.
„Putin hat andere Rationalität“
Bei Putin handele es sich aber um eine „ganz andere Rationalität“. Putin habe gesehen, wenn er kleine, überschaubaren Kriege führt, hat das innenpolitische Effekte, seine Beliebtheitswerte sind gestiegen, mit dem zweiten Tschetschenien-Krieg 1999–2009, Georgien 2008, dann der Annexion der Krim 2014 und der Schaffung der Separatistengebiete im Osten der Ukraine und schließlich dem Einsatz in Syrien. Das sei nie mit allzu großen Verlusten einhergegangen, habe letztlich aber der „gedemütigten russischen Seele“ das Gefühl gegeben, der Präsident sorge wieder dafür, „dass wir wieder wer sind“. Münkler erinnerte auch an die Kränkung durch die Äußerung des ehemaligen US-Präsidenten Obama, der Russland als „Regionalmacht“ bezeichnete.
Mit der Ukraine habe sich Putin allerdings „verkalkuliert“. Dem Einwand, dass die Geheimdienste den Kremlchef davor hätten warnen können und müssen, dass die Ukraine nicht in zwei, drei Wochen zu überrennen sei, hält Münkler den Hinweis auf eine berühmte Szene entgegen. Putin hatte vor dem Angriff vor laufender Kamera den damaligen Geheimdienstchef regelrecht zusammengefaltet. Wer also sollte ihm widersprechen?
Herfried Münkler hat für derartige Entwicklungen ein „Gesetz der progredierenden Selbstverdummung eines Autokraten“ formuliert, weniger wissenschaftlich übersetzt: Je länger Autokraten herrschen und sich mit „Speichelleckern“ und „Liebesdienern“ umgeben, umso weniger erfahren sie von den wirklichen Verhältnissen. Christian Hacke stimmt zwar zu, dass sich „Putin total verschätzt“ habe. Sicher habe Putin gewusst, dass er mit wenigen Hunderttausend Soldaten die Ukraine nicht besetzen kann. Putin habe im Zuge des Aufmarschs seiner Truppen (ab Sommer 2021) dem Westen Verhandlungsangebote gemacht, „natürlich mit Maximalforderungen“. Als der Westen nicht reagiert habe, hätte Putin „aus seinem Rational heraus an Ansehen verloren, wenn er nicht angegriffen hätte“.
Was heißt das nun alles für den weiteren Verlauf und Möglichkeiten, den nunmehr bald dreijährigen Krieg zu beenden?
Herfried Münkler formuliert als entscheidende Fragen: Ist der Völkerrechtsbruch Putins (Führen eines Angriffskriegs) und die „Gleichgültigkeit gegenüber der OSZE“ (kein gewaltsames Verschieben von Grenzen in Europa) „für die Russen tragbar, oder schlimmer: Ist das für andere vorbildhaft?“ Oder hat Putin unterm Strich mehr reingesteckt, als er rausbekommen hat, also ein Verlustgeschäft gemacht? – Münklers Schlussfolgerung: „Ist Letzteres der Fall, ist es ok.“
Ist der Völkerrechtsbruch Vorbild für andere?
Ist aber Ersteres der Fall, dr Ukriane-Krieg also eine Vorlage dafür, dass sich militärische Aggression lohnt, dann müsste man gleich auf eine ganze Reihe von Schauplätzen blicken, von denen aus das sehr genau beobachtet wird. Man muss da gar nicht bis nach China blicken, das natürlich aus geostrategischer Sicht und eigener Interessenlage die Entwicklung genauestens verfolgt. Der Blick müsste sich etwa auf die Türkei richten, wo nach Analyse von Münkler „die AKP eine neo-osmanische Politik macht, ähnliche Vorstellungen von der Wiederherstellung eines stärkeren Akteurs“ hat – und durch die Entwicklung in Syrien zusätzliche Chancen sieht. Oder auf Victor Orbán mit Groß-Ungarn-Ideen. Oder auf Serbien mit Präsident Aleksandar Vučić im Hinblick auf Kosovo und Teile Bosnien-Herzegowinas. „Können die sagen: Was Putin kann, können wir auch, und letzten Endes wird es ein schwacher Westen akzeptieren?“
Es stellt sich aber auch noch eine weitere hochbrisante Frage: Was, wenn „alle zu der Ansicht kommen: Wer keine Atomwaffen besitzt, ist irgendwie dumm dran?“ Schließlich: „Hätte die Ukraine nicht das Budapester Memorandum akzeptiert, hätten sie also Atomwaffen behalten, hätte sich Putin eine andere Politik überlegen müssen.“ In diesem Memorandum erklärten die Ukraine und weitere ehemalige Sowjetrepubliken den Verzicht auf eigene (zuvor auf ihrem Boden stationierte) Atomwaffen, im Gegenzug garantieren die USA, Großbritannien und Russland die Sicherheit dieser Staaten. Schon die Annexion der Krim durch Russland 2014 hat Fragen bezüglich dieser Sicherheitsgarantien aufgeworfen.
Nun dürften sich, meint Münkler, „Kim in Nordkorea oder die Mullahs das genau ansehen“. Dann könnten sich die Saudis sagen: Es kann nicht sein, dass Iran die Bombe hat und wir haben keine. Und dann könnte die Türkei nachziehen. „Das ist eine bittere Schlussfolgerung“, unterstreicht Münkler und ergänzt: Wir können das, was passiert ist, nicht mehr zurückdrehen, der Geist ist aus der Flasche. Aber was es beeinflussen kann, sind Lerneffekte politischer Akteure.“
Das gilt auch für die Rolle Europas und der Bundesrepublik. Nach Münklers Überzeugung ist „ein sehr schönes Projekt“ gescheitert, nämlich die Idee, dass mit wirtschaftlicher Verflechtung wirtschaftliche Macht an die Stelle von militärischer Macht treten könnte und dass es möglich ist, internationale Konflikte und Streitigkeiten zu „juridifizieren“, etwa durch Einsetzung von Schiedsgerichten, und damit „kostengünstig zu beenden“. Das aber hieße, dass alle großen Akteure diese Gerichte akzeptieren müssten. „Da muss man sich ehrlich machen und zur Kenntnis nehmen, dass es Akteure gibt, die nur den zur Kenntnis nehmen, der die Fähigkeit hat, militärisch zurückzuschlagen.“ Das ist eine Frage an Deutschland und die gesamte Europäische Union. Zumal vor dem Hintergrund des Amtswechsels in den USA. „Ich würde nicht sagen, dass man das bei Trump in irgendeiner Weise etwas vorhersagen kann“, führt Münkler aus. „Normalerweise gibt es in den USA eine Grand Strategy, die zumindest die Essentials vorschreibt. Trump hört da nicht zu. Kann sein, weil er ein Dealmaker ist, und sowas würde seine Handlungsspielräume einengen.“ Er nutze opportunistisch Gelegenheiten, von denen er annimmt, dass es Gelegenheiten für einen guten Deal sind. Ob das dann so ist? Bei Kim (Nordkorea), mit Afghanistan oder dem „Abraham-Abkommen“ (Naher Osten) habe sich Trump in seiner Amtszeit verrechnet, wie die Folgen jeweils gezeigt hätten.
In der Ukraine selbst gibt es zu Jahresbeginn den spürbaren Wunsch nach einem Ende des Krieges, was Präsident Wolodymyr Selenskyj auch in seiner Neujahrsbotschaft aufgriff: „Möge 2025 unser Jahr sein. Das Jahr der Ukraine. Wir wissen, dass uns der Frieden nicht geschenkt wird, aber wir werden alles tun, um Russland zu stoppen und den Krieg zu beenden.“
Der skeptische Analytiker Münkler sagt: „Wir müssen hoffen, dass der russische Erfolg in der Ukraine überschaubar bleibt, und zwar so überschaubar, dass er keinen Vorbildcharakter gewinnt.“