Der demografische Wandel bringt das Pflegesystem an seine Grenzen. Eine Neuorientierung ist nötig, lokal vernetzt und gemeinschaftlich gedacht. Professor Reiner Feth weiß, wie Pflege im Sozialraum neu gestaltet werden kann.

Herr Professor Feth, der demografische Wandel stellt die Gesellschaft und vor allem den gesundheitlichen Bereich vor große Herausforderungen. Angesichts dieser Veränderungen – wie sehen Sie die Entwicklung der Pflege und welche Anpassungen sind Ihrer Meinung nach notwendig?
Die Kommunalisierung der Pflege ist ein entscheidender Wandel in der Organisation und Wahrnehmung von Pflege. Traditionell galt Pflege oft als individuelle oder familiäre Verantwortung, ausgeführt durch private Pflegekräfte oder in stationären Einrichtungen. Doch der demografische Wandel, der Fachkräftemangel und die steigenden Pflegekosten erfordern ein neues Modell. Kommunalisierung bedeutet, dass Pflege zunehmend in die Verantwortung der Kommunen übergeht, als kleinste politische Einheit, die am besten in der Lage ist, auf lokale Bedürfnisse einzugehen. Pflege muss nah am Menschen organisiert werden, im sozialen Raum, ergänzt durch Netzwerke aus professionellen und ehrenamtlichen Strukturen.
Gerade im Hinblick auf diese Veränderungen: Wie kann sichergestellt werden, dass Pflege als gesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen wird und nicht nur als individuelle Verantwortung der Familien?
Damit Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen wird, müssen Städte und Gemeinden aktiv in die Steuerung der Pflege integriert werden. Pflege darf nicht als private Last einzelner Familien betrachtet werden, sondern muss als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge fungieren, genauso wie Bildung oder Infrastruktur. Verbindliche Strukturen, wie etwa Pflegekompetenzzentren, sind notwendig, um nicht nur pflegerische Dienstleistungen anzubieten, sondern auch Angehörige zu beraten, ehrenamtliche Initiativen zu fördern und die Bürgerbeteiligung zu stärken. Sensibilisierung der Bevölkerung durch Bildungsangebote, Aufklärungskampagnen und die Integration des Themas in Schulen und andere gesellschaftliche Bereiche sind ebenfalls essenziell, um die Wahrnehmung der Pflege als Gemeinschaftsaufgabe zu fördern.
Mit der breiten Beteiligung der Kommunen: Welche praktischen Schritte können Städte und Gemeinden konkret unternehmen, um eine funktionierende „Caring Community“ zu schaffen und die Pflege weiter zu stärken?
Städte und Gemeinden sind der Schlüssel, um eine Caring Community zu schaffen. Sie haben die Möglichkeit, durch gezielte Maßnahmen ein Umfeld zu gestalten, das ältere Menschen unterstützt und ihre soziale Teilhabe fördert. Dazu gehören altersgerechte Wohnformen, barrierefreie öffentliche Räume und gut vernetzte soziale Infrastrukturen. Ebenso wichtig ist die Förderung von Nachbarschaftshilfen, Mehrgenerationenhäusern und ehrenamtlichen Initiativen, die älteren Menschen Unterstützung im Alltag bieten. Eine Caring Community lebt von der Kombination aus professioneller Pflege und informeller Hilfe durch freiwillige Bürger. Kommunen sollten die Pflege- und Sozialdienste stärker vernetzen, um eine ganzheitliche Versorgung zu ermöglichen, die es Pflegebedürftigen erlaubt, möglichst lange selbstbestimmt zu leben.
Welche politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sind erforderlich, um eine nachhaltige Kommunalisierung der Pflege zu ermöglichen?
Für eine erfolgreiche Kommunalisierung der Pflege müssen klare gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die Pflegekompetenzzentren sollten als kommunale Pflichtaufgabe verankert werden, wobei auch die finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder notwendig ist. Zudem braucht es eine Reform der Pflegeversicherung, die ambulante Pflege, präventive Maßnahmen und quartiersnahe Versorgungsangebote stärker unterstützt. Auch bürokratische Hürden für alternative Wohnformen, Pflegegenossenschaften oder gemeinwohlorientierte Projekte müssen abgebaut werden. Um eine ganzheitliche Versorgung sicherzustellen, ist die stärkere Vernetzung von Pflege und Gesundheitsversorgung nötig, sodass beispielsweise Hausärzte, Pflegedienste und soziale Dienste enger zusammenarbeiten.
Wie lässt sich die Kommunalisierung der Pflege effektiv mit den bestehenden Strukturen des Gesundheitswesens verknüpfen?
Eine enge Vernetzung von Pflege und Gesundheitswesen ist für die Kommunalisierung unerlässlich. Durch die Zusammenarbeit von Pflegekompetenzzentren mit medizinischen Versorgungszentren, Hausarztpraxen und Krankenhäusern kann eine effiziente, integrierte Versorgung gewährleistet werden. Digitale Lösungen, wie Telemedizin, ermöglichen es Pflegefachkräften, schnell mit Ärzten zu kommunizieren und unnötige Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Digitale Pflegedokumentationen können den Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren verbessern, was wiederum eine bedarfsgerechte Versorgung sichert. Wichtig ist, dass Pflege nicht isoliert betrachtet wird, sondern als Bestandteil eines ganzheitlichen Versorgungsmodells, das medizinische und soziale Aspekte vereint.
Wie kann Pflege stärker in den Sozialraum eingebettet werden, um informelle Hilfe zu fördern und die Pflege insgesamt zu verbessern?
Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung ist die Förderung von quartiersbezogenen Strukturen, die die Pflegebedürftigen in ihren gewohnten Umfeldern halten. Mehrgenerationenhäuser, Nachbarschaftsnetzwerke oder organisierte Besuchsdienste können dazu beitragen, soziale Isolation zu verhindern. Ebenso wichtig ist die Schulung von pflegenden Angehörigen, um diese als informelle Pflegekräfte zu stärken und ihnen Sicherheit im Umgang mit Pflegebedürftigen zu geben. Ein weiterer Baustein ist der Ausbau von digitalen Plattformen, die Pflegeangebote effizient koordinieren und so Unterstützungsbedarfe schnell decken können.

Welche Maßnahmen können Städte und Gemeinden ergreifen, um mehr Bürger zur aktiven Beteiligung in der Pflege zu bewegen?
Bürgerschaftliches Engagement in der Pflege kann durch finanzielle oder strukturelle Anreize gefördert werden. Denkbar sind Rentenpunkte für pflegende Angehörige oder ehrenamtlich Engagierte, steuerliche Vorteile für Menschen, die regelmäßig Pflegeleistungen erbringen, oder kommunale Zeitkonten, bei denen ehrenamtliche Hilfe später selbst genutzt werden kann. Wichtig ist auch, dass das Ehrenamt in der Pflege attraktiver gestaltet wird, indem Unterstützungsstrukturen geschaffen werden und niedrigschwellige Angebote bestehen, bei denen sich Menschen flexibel engagieren können.
Gibt es bereits Beispiele für eine funktionierende Caring Community, die als Modell dienen könnten?
Ja, es gibt einige erfolgreiche Beispiele. In Dänemark etwa ist die Kommunalisierung der Pflege weitgehend umgesetzt, wobei die Pflege vorwiegend ambulant erfolgt und Kommunen eine zentrale Steuerungsfunktion übernehmen. In Freiburg existiert ein Pflegekompetenzzentrum, das die Zusammenarbeit zwischen Pflege- und Gesundheitsakteuren bündelt und pflegende Angehörige aktiv einbindet. In Baden-Württemberg hat die Gemeinde Mutlangen ein Modell entwickelt, bei dem ältere Menschen gezielt in das soziale Leben eingebunden werden. Diese Beispiele zeigen, dass eine Caring Community nicht nur sozial, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll ist.
Welche Aufgaben übernehmen Pflegekompetenzzentren konkret? Und wie tragen sie zur Verbesserung der Pflegequalität bei?
Pflegekompetenzzentren fungieren als zentrale Anlaufstellen für alle Pflegefragen. Sie koordinieren professionelle Pflegeangebote, beraten Angehörige, fördern ehrenamtliches Engagement und vernetzen soziale Dienste. Darüber hinaus haben sie eine Bildungs- und Qualifizierungsfunktion, indem sie Schulungen für pflegende Angehörige und Fachkräfte anbieten. Durch diese Vernetzung und Bündelung von Ressourcen können Pflegekompetenzzentren die Qualität der Pflege steigern und eine nachhaltige Versorgung sicherstellen.
Wie können Pflegekompetenzzentren finanziert werden, und wer sollte sich an der Finanzierung beteiligen?
Die Finanzierung der Pflegekompetenzzentren sollte durch verschiedene Quellen gesichert werden. Kommunen und Länder sollten Mittel bereitstellen, da Pflege eine kommunale Daseinsvorsorge darstellt. Ebenso sollten Pflege- und Krankenkassen einen Teil der Finanzierung übernehmen, da eine gut koordinierte Pflegeversorgung langfristig Kosten senkt, indem sie Krankenhausaufenthalte reduziert und ambulante Pflege stärkt. Zudem könnten Genossenschaftsmodelle eine weitere Möglichkeit bieten, bei denen sich Bürger frühzeitig finanziell beteiligen und später auf Pflegeleistungen zugreifen können.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung in der Arbeit von Pflegekompetenzzentren und wie kann sie sinnvoll genutzt werden?
Digitalisierung spielt eine zentrale Rolle in der Pflege und ermöglicht eine effizientere Organisation und Koordination von Pflegeleistungen. Digitale Plattformen zeigen in Echtzeit die verfügbaren Pflegekapazitäten an, und durch Telemedizin können Pflegefachkräfte direkt mit Ärzten kommunizieren, um unnötige Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Intelligente Pflege-Technologien, wie Sturzsensoren oder smarte Pflegebetten, erleichtern den Pflegealltag und reduzieren die körperliche Belastung der Pflegekräfte. Gleichzeitig ermöglichen digitale Pflegedokumentationen eine präzisere und schnellere Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren der Pflege, was die Koordination und Qualität der Versorgung verbessert. Es ist jedoch entscheidend, dass digitale Lösungen nicht als Ersatz für persönliche Pflege und menschliche Interaktionen verstanden werden, sondern als unterstützende Werkzeuge, die den Pflegekräften mehr Zeit für die eigentliche Pflege und den persönlichen Austausch mit den Patienten ermöglichen.
Wie können Pflegekompetenzzentren den Fachkräftemangel in der Pflege abmildern?
Pflegekompetenzzentren spielen eine entscheidende Rolle im Abmildern des Fachkräftemangels. Sie können Quereinsteiger und geringqualifizierte Kräfte für den Pflegeberuf gewinnen, indem sie gezielte Schulungs- und Weiterbildungsangebote anbieten. Dies kann insbesondere für Menschen, die bisher wenig Berührung mit der Pflege hatten, neue berufliche Perspektiven schaffen. Außerdem können die Pflegekompetenzzentren den Einsatz von Pflegetechnologien fördern, die den körperlichen Aufwand für Pflegekräfte reduzieren, wodurch der Beruf insgesamt weniger belastend und damit auch langfristig attraktiver wird. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Vernetzung der Pflegekräfte innerhalb der Kompetenzzentren, die eine effizientere Arbeitsorganisation und den Austausch von Best Practices ermöglicht. Dadurch wird nicht nur die Arbeit selbst erleichtert, sondern auch das Arbeitsumfeld verbessert, was wiederum die Bindung von Pflegekräften an den Beruf stärkt.
Welche Widerstände gibt es gegen die Einführung solcher Kompetenzzentren, und wie können sie überwunden werden?
Die Einführung von Pflegekompetenzzentren stößt auf mehrere Widerstände. Ein wichtiger Punkt ist die finanzielle Belastung, die viele Kommunen befürchten. In Zeiten knapper Haushaltsmittel fällt es schwer, neue Strukturen zu etablieren, die zunächst hohe Investitionen erfordern. Eine Möglichkeit, diese Bedenken auszuräumen, ist eine klare Kosten-Nutzen-Analyse, die die langfristigen Einsparungen durch reduzierte Krankenhausaufenthalte und bessere ambulante Pflege aufzeigt. Ein weiterer Widerstand kommt aus der politischen Ebene, wo bestehende Strukturen und Machtverhältnisse häufig infrage gestellt werden. Hier hilft es, Pilotprojekte und Modellprojekte umzusetzen, die die praktische Wirksamkeit der Kompetenzzentren unter Beweis stellen und so den Widerstand auf politischer Ebene abbauen können.
In der Pflegebranche gibt es Bedenken, dass digitale Lösungen und neue Organisationen die Arbeit der Pflegekräfte erschweren oder den persönlichen Kontakt mit den Pflegebedürftigen verringern könnten. Diese Ängste können durch Schulungen, Transparenz und durch die aktive Beteiligung der Pflegekräfte am gesamten Umgestaltungsprozess gemildert werden. Es ist wichtig, dass Pflegekräfte nicht als Empfänger von Veränderungen betrachtet werden, sondern als aktiver Teil des Veränderungsprozesses.
Welche Rolle spielen intergenerationelle Konzepte in der Gestaltung altersfreundlicher Städte und Gemeinden?
Intergenerationelle Konzepte sind ein zentraler Bestandteil bei der Gestaltung von altersfreundlichen Städten und Gemeinden, da sie den Austausch zwischen den Generationen fördern und soziale Isolation verhindern. Durch die Verknüpfung von Jung und Alt können ältere Menschen ihre Erfahrungen und ihr Wissen weitergeben, während jüngere Menschen mit neuen Ideen und Technologien dazu beitragen, die Pflege- und Betreuungsbedürfnisse der Älteren zu unterstützen. Solche Konzepte schaffen gemeinschaftliche Bindungen und stärken den sozialen Zusammenhalt.

Ein gutes Beispiel für intergenerationelle Projekte sind Mehrgenerationenhäuser oder intergenerative Wohnprojekte, bei denen alle Altersgruppen zusammenleben und sich gegenseitig unterstützen. Auch Patenschaftsmodelle, in denen ältere Menschen als Mentoren für Schüler oder junge Erwachsene fungieren, fördern diesen Austausch und die gegenseitige Unterstützung. Diese Modelle sind nicht nur sozial sinnvoll, sondern können auch zur Prävention von Einsamkeit und Isolation beitragen und bieten eine wertvolle Unterstützung für die Pflege.
Wie können Kommunen aktiv dazu beitragen, Einsamkeit und soziale Isolation älterer Menschen zu verhindern?
Kommunen können eine zentrale Rolle dabei spielen, Einsamkeit und soziale Isolation bei älteren Menschen zu verhindern, indem sie soziale Begegnungsräume schaffen. Seniorencafés, Gemeinschaftszentren und Stadtteilbüros bieten den Menschen Möglichkeiten zum Austausch und zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Diese Orte sind nicht nur für den sozialen Kontakt wichtig, sondern auch für die aktive Partizipation der älteren Bevölkerung, die so weiterhin als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft eingebunden werden kann.
Ein weiterer wichtiger Ansatz sind mobile Angebote, wie Besuchsdienste, Nachbarschaftshilfen oder ehrenamtliche Begleitdienste, die insbesondere für diejenigen Menschen von Bedeutung sind, die nicht mehr mobil sind. Auch digitale Lösungen, wie virtuelle Begegnungsplattformen oder einfache Videoanrufsysteme, spielen eine immer wichtigere Rolle, um ältere Menschen mit ihren Familien und Freunden in Kontakt zu halten.