Mit ihrer ersten Laufstegshow für den Winter 2024/2025 begeistert Chemena Kamali, die neue Kreativchefin von Chloé, die Fashion-Kritiker. Sie verbindet die verspielte Leichtigkeit der Marke mit einem modernen Bohème-Chic und bringt so die Wurzeln von Chloé zurück auf die Bühne.
Als am 9. Oktober 2023 die Ernennung der 41-jährigen Chemena Kamali zur Kreativdirektorin des Pariser Modehauses Chloé bekannt gegeben wurde, war die Resonanz in den deutschen Medien von Stolz geprägt. Kamalis Name war jedoch außerhalb von Modekreisen weitgehend unbekannt, sodass viele erst einmal ihre biografischen Daten recherchieren mussten. Geboren 1981 in Düsseldorf, aufgewachsen in Dortmund, hatte Kamali bereits über 20 Jahre Erfahrung in renommierten Modehäusern gesammelt, war jedoch bislang nicht in den vordersten Reihen der Branche präsent gewesen.
Rückkehr in den Olymp der Mode
Dass eine deutsche Designerin nun die kreative Leitung eines der traditionsreichsten Pariser Häuser übernimmt, war eine kleine Sensation. Seit den Zeiten von Karl Lagerfeld hatten keine Deutschen mehr eine solche Position in der Modewelt inne. Die „FAZ“ bemerkte dazu treffend: „Eigentlich schienen die Zeiten, in denen Deutsche im Olymp der Mode eine Rolle spielten, vorbei zu sein.“ Namen wie Jil Sander, die in den 1980er- und 1990er-Jahren Frauen weltweit neu einkleidete, oder Tomas Maier, der in den 2000er- und 2010er-Jahren als Chefdesigner von Bottega Veneta eine dezente Alternative zu auffälligen Designs bot, dominierten einst die Szene. Und natürlich Karl Lagerfeld, der ab 1965 für Fendi und ab 1983 für Chanel arbeitete. Nach dem Rückzug dieser großen drei Designer schien es, als hätten Deutsche ihre führende Rolle in der Modewelt verloren – bis jetzt. Merkwürdigerweise hatte die „FAZ“ Karl Lagerfelds erfolgreiche Zeit als Chefdesigner bei Chloé von 1963 bis 1983 übersehen – ein Hinweis, der im Zusammenhang mit Chemena Kamali besonders relevant gewesen wäre. In einem Interview mit der deutschen „Vogue“ erklärte Kamali nämlich, dass Lagerfeld für sie eine „Ikone, ein Held“ gewesen sei: „Ich fühlte mich von seiner Arbeit bei Chloé angezogen.“ Während ihres Studiums an der Hochschule Trier, wo sie ihr Diplom in Modedesign machte, träumte Kamali davon, in Lagerfelds Fußstapfen zu treten. Nach ihrem Abschluss wechselte sie an die renommierte Central Saint Martin’s School of Art and Fashion in London, wo sie 2007 ihren Master of Arts im Bereich Mode abschloss.
In ihrem „Vogue“-Interview beschreibt Kamali, dass sie während des Studiums ein Praktikum absolvieren musste. Während ihre Kommilitonen zahlreiche Bewerbungen an große Modehäuser in Paris, Mailand und London verschickten, reichte Kamali keine einzige ein. „Ich wollte nur zu Chloé – wegen Karl und auch, weil es der Beginn von Phoebe Philos Zeit dort war.“ Entschlossen reiste sie ohne Termin nach Paris, wartete stundenlang am Chloé-Firmensitz und erzwang so ein Vorstellungsgespräch mit dem Studiodirektor. Zwei Wochen später erhielt sie die Zusage für ein Praktikum.
Der Einstieg bei Chloé, unter der Führung der Design-Ikonen Phoebe Philo und ihrer Stellvertreterin Hannah MacGibbon, die später Philos Nachfolgerin als Kreativchefin werden sollte, war für Kamali prägend. Innerhalb kurzer Zeit stieg sie von der Praktikantin zur Junior-Designerin auf. Kamali beschrieb ihre Erfahrung mit Philo als äußerst inspirierend: „Phoebe verkörperte diese mühelose, natürliche Weiblichkeit der späten 70er-Jahre ... Es ging um Fluidität, Bewegung und Energie, das fühlte sich so natürlich an.“ Diese intuitive Art des Designs, bei der Mode eine Leichtigkeit ausstrahlen sollte, war für Kamali charakteristisch für Chloé. „Das war es immer, worum es bei Chloé ging – und was es von anderen Modehäusern unterschied.“
Weltweite Begeisterung
Nach ihrem mit Auszeichnung abgeschlossenen Master-Studium zog Kamali für einige Jahre nach Nördlingen, wo sie bei Strenesse unter Gabrielle Strehle arbeitete. „Das war die Zeit vor der großen Insolvenzwelle in den deutschen Modebetrieben, als Rena Lange, Escada und Strenesse noch gute Kollektionen ablieferten“, schrieb die „FAZ“. Nach dieser Phase beschloss Kamali, ihre beruflichen Verbindungen nach Deutschland zu kappen und sich wieder der Seine zuzuwenden. 2012 kehrte sie zum zweiten Mal zu Chloé zurück, um dort unter der Leitung von Kreativchefin Claire Waight Keller bis 2015 zu arbeiten. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Lucio Finale entwarf sie die Herbst-Winter-Kollektion 2016 für das Maison Lanvin, das nach dem Ausscheiden des Kreativdirektors Alber Elbaz kurzfristig führungslos war.
Ab 2016 übernahm sie die Position des Women’s Ready to Wear Design Directors bei Saint Laurent unter Kreativchef Anthony Vaccarello. Anfang 2023 nahm sie sich eine Auszeit, um mit ihrem Ehemann und ihren zwei kleinen Kindern nach Los Angeles zu ziehen, wo sie bereits als Teenager vier Jahre verbracht hatte. Dennoch wollte sie die kalifornische Sonne nicht völlig ohne Beschäftigung genießen und übernahm einen Nebenjob als Creative Consultant für die Herbst-Winter-Kollektion 2023/2024 der Denim-Marke Frame.
Im Juli 2023 gab Gabriela Hearst ihren Abschied als Chloé-Kreativchefin nach der Präsentation der Herbst-Winter-Kollektion 2023/2024 bekannt. Daraufhin verdichteten sich in Pariser Modekreisen schnell die Gerüchte über ihre mögliche Nachfolge, wobei vor allem der Name Chemena Kamali gehandelt wurde. Diese Spekulationen erhielten zusätzlichen Auftrieb, da Kamali seit ihrem Debüt bei Chloé immer wieder ihre tiefe Verbundenheit und Bewunderung für das Traditionshaus öffentlich zum Ausdruck gebracht hatte. Sie träumte davon, „Chloé wieder mit seiner Seele zu verbinden, denn die Marke hat eine sehr warme Ästhetik.“ Im Gespräch mit der „Vogue“ erinnerte sich Kamali: „Als ich bei Saint Laurent tätig war, schlug ich Anthony Vaccarello manchmal etwas vor, und er sagte: ‚Oh nein, das ist zu feminin, zu weich. Behalte das für Chloé!‘“ Es schien, als würde sich ihr Traum bald erfüllen, als im Sommer 2023 in Paris die Gerüchte kursierten, dass Kamali bereits ein separates Chloé-Zweitstudio neben der offiziellen Hearst-Kommandostelle an der Seine eingerichtet habe.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1952 durch die jüdisch-ägyptische Schneiderin Gaby Aghion lagen die kreativen Geschicke von Chloé fast ausschließlich in den Händen von Frauen, darunter Mode-Ikonen wie Phoebe Philo und Stella McCartney. Die Entscheidung für Chemena Kamali sorgte weltweit für Begeisterung, da sie einen Kontrapunkt zu dem in den sozialen Medien heftig kritisierten Trend setzte, vakante Kreativ-Positionen überwiegend mit männlichen Designern zu besetzen. Im Jahr 2023 war Chloé diesbezüglich die einzige erfreuliche Ausnahme. Nachdem schon bei Marken wie Tod’s, Rochas, Ann Demeulemeester, Moschino, Blumarine und Lacoste weibliche Kandidatinnen im Wettbewerb gegen ihre männlichen Kollegen oft das Nachsehen hatten, wurde das ohnehin schon dünne weibliche Spitzenpersonal in der Modebranche weiter ausgedünnt. Die kontrovers diskutierte Frage, warum in der Mode, einem Geschäft, das hauptsächlich für und über Frauen gestaltet ist, vor allem männliche und zudem größtenteils weiße Designer das Sagen haben, bleibt indes mehr als berechtigt.
Für Kamali selbst war ihr drittes Engagement bei Chloé eine Art Heimkehr und eine Herzensangelegenheit. Diese Empfindung spiegelte sich in ihren Dankesworten während ihrer offiziellen Vorstellung wider: „Chloé hat schon immer einen besonderen Platz in meinem Herzen eingenommen. Es fühlt sich an, als wäre ich nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder nach Hause gekommen. Ich fühle mich sehr geehrt, diese Rolle zu übernehmen und auf der Vision aufzubauen, die Gaby Aghion und Karl Lagerfeld zu Beginn der Geschichte des Hauses festgelegt haben. Ich hoffe, Chloés emotionale Verbindung und Essenz in die heutige Zeit übertragen zu können.“
Die Verantwortlichen bei Chloé, angeführt von CEO Riccardo Bellini, waren von Beginn an optimistisch. Bellini sagte über Kamali: „Ihr außergewöhnliches kreatives Talent, ihre umfangreiche Erfahrung und ihre einzigartige Verbindung zum Erbe und den Werten der Marke machen Chemena zu einer natürlichen Wahl für das Haus. Ihre Vision, inspiriert von ihrer Liebe zur Marke, wird die einzigartige DNA von Chloé wirklich feiern. Chemena ist sowohl die künstlerische Leiterin von Chloé als auch die Verkörperung des Chloé-Geistes. Ich freue mich darauf, zu sehen, wie ihre Vision zum Leben erweckt wird.“ Ähnliche Vorschusslorbeeren erhielt Kamali von Philippe Fortunato, dem CEO des Bereichs Mode und Accessoires bei Richemont: „Chemena Kamalis Rückkehr ist angesichts ihrer Leidenschaft für das Erbe der Marke und ihrer starken Verbindung zu Chloé ein aufregendes neues Kapitel für das Haus.“
Ikonische Kleidungsstücke
Kamali hatte wenig Zeit, um sich einzuarbeiten, da sie unmittelbar die Pre-Herbst-Kollektion 2024, die im Januar 2024 präsentiert werden sollte, sowie die Herbst-Winter-Kollektion 2024/2025, die im Februar auf der Pariser Fashion Week vorgestellt werden würde, entwerfen musste. Dank ihrer tiefen Vertrautheit mit den Codes und der DNA von Chloé sollte dies jedoch kein größeres Problem darstellen. Sie hatte geschickt Überschneidungen zwischen den beiden Kollektionen in Kauf genommen. Der Vorgeschmack auf die Pre-Kollektion, der durchsichtige Kleider, wunderschöne Capes, High-Waist-Jeans und superlange Stiefel umfasste, war bereits äußerst vielversprechend. „Ich wollte einen Neuanfang in Bezug auf Leichtigkeit, Bewegung, Schwung, starke Proportionen und großartige Oberbekleidung – zeitlose, ikonische Kleidungsstücke, die unverkennbar Chloé sind“, erklärte Kamali gegenüber der „Vogue“. Dabei schenkte sie auch den legendären Chloé-Taschen die nötige Aufmerksamkeit: „Das Besondere am Erfolg der Taschen von Chloé war, dass sie keine Logos hatten – sie waren nie kostbare Objekte.“
Die Präsentation der Herbst-Winter-Mode 2024/2025, betitelt „Intuition Collection“, war ein Paukenschlag und wurde von Kritikern begeistert aufgenommen. „Ich möchte damit das Gefühl zurückbringen, das ich hatte, als ich vor 20 Jahren zum ersten Mal hier durch die Türen trat und mich in den Geist der Chloé-Frau verliebte“, heißt es in Kamalis Shownotes. Und weiter: „Ich möchte ihre Gegenwart wieder spüren, ihren Beat, ihre natürliche Schönheit, ihr Gefühl von Freiheit.“ In ihrer Rückkehr zu den Wurzeln und Codes der Marke verwies sie auch auf ihre Inspirationsquelle Gaby Aghion, die als Erfinderin der Prêt-à-Porter gilt und 1952 einen krassen Gegenpol zur damals dominierenden, damenhaften Haute Couture schuf. Aghions fließend feminine Kleider, durchsichtige Blusen in sanften Farbtönen und eleganten Mänteln ermöglichten es Frauen, sich wohlzufühlen. Die Gründerin hatte mit ihren spielerischen Archetypen die perfekte Vorlage geschaffen, auf der Karl Lagerfeld in seiner kreativen Amtszeit bei Chloé aufbauen konnte. Besonders in den späten 1970er-Jahren perfektionierte der Ausnahmedesigner diese mit komplizierten Rüschen, Stickereien und scharfen Schnitten.
Die aufregende Epoche Ende der 1970er-Jahre, geprägt von Lagerfelds bewunderten Kreationen, diente Kamali als Inspirationsquelle für ihr Chloé-Laufsteg-Debüt. Dieses fand in einer ungewöhnlichen Pariser Location, einer Baustelle in einer ehemaligen Telefonzentrale im neunten Arrondissement, statt und wurde von legendären Chloé-Musen wie Jerry Hall, Pat Cleveland, Sienna Miller und Doutzen Kroes besucht. Ein Höhepunkt der Show war die Seidenbluse, das fraglos ikonischste Teil der Chloé-DNA. Für die bekennende Blusen-Sammlerin Kamali, die in ihrem Kleiderschrank 600 Exemplare aufbewahrt, war dies beinahe selbstverständlich. Ihre Kollektion beinhaltete romantische, teils transparente Blusen mit Rüschen und Volants, die mit hüfthohen Hosen oder Steppshorts kombiniert wurden oder unter kragenlosen Jacken hervorlugten.
Über der gesamten Kollektion lag ein spielerischer, zeitgemäß modernisierter Bohème-Chic, der von Karl Lagerfeld geprägt wurde. Sie umfasste fließende Volantkleider, wallende Rüschenkleider, Babydolls, seidene Minikleider, transparente Kaftan-Dresses, Tuniken, Trenchcoats, Pferdedecken-Mäntel und voluminöse Cape-Mäntel. Ein Eyecatcher war ein elfenbeinfarbenes Minikleid mit Rüschen, das unter einem kurzen schwarzen Poncho flatterte und mit flachen Schuhen mit quadratischer Spitze kombiniert wurde. Schwere Schmuckstücke verzierten Lederjacken und sorgten beim Publikum für Must-Have-Gefühle ebenso wie Patchwork-Jeans, Organza-Hemden, goldene Chloé-Gürtel, charmante Statement-Halsketten, nietenbesetzte Ballerina-Schuhe und glänzende Overknee-Stiefel. Neben der 2002 von Phoebe Philo entworfenen und aktualisierten Bracelet-Bag verhalf Chemena Kamali auch der trapezförmigen Paraty-Bag mit ihren ungewöhnlichen Griffen und goldenen Beschlägen zu neuer Ehre.
Mit ihrem neuen Boho-Look scheint Kamali tatsächlich den Nerv des Zeitgeistes getroffen zu haben, was sich möglicherweise auch in den kommenden Kollektionen von Paco Rabanne und Isabel Marant widerspiegeln wird. „In dieser Kollektion geht es um Intuition und um weibliche Energie, und ich würde mich wirklich freuen, wenn Frauen das spüren würden“, sagt Chemena Kamali.