International beobachteten Presse und Politik die Kanzlerwahl in Berlin sehr genau. Von ihr und den folgenden vier Jahren hängt vieles ab.
Europa blickt einen ganzen Tag lang gebannt auf Deutschland. Als Friedrich Merz morgens im ersten Wahlgang durchfällt, folgt ihm der Dax: Dieser büßt sofort 481 Punkte innerhalb von zweieinhalb Stunden ein und zieht den europäischen Eurostoxx mit nach unten. Auch die internationale Presse ist konsterniert, trotz der stehenden Ovationen nach dem zweiten Wahlgang am Nachmittag: „Der Jubel kann die ernste Warnung nicht auslöschen“, titelt die dänische Zeitung „Politiken“ denn auch am Tag nach der Kanzlerwahl. Die „unerwartete Demütigung“ gerät zum schwierigen Start einer Koalition, von der die Koalitionäre selbst immer wieder sagen, sie sei keine Traumhochzeit. Entsprechend warnt die Londoner „Financial Times“ auch: „Die Abstimmung war das anschaulichste Beispiel für die Herausforderungen, mit denen Merz während seiner Amtszeit konfrontiert sein wird. Der 69-jährige Kanzler steht vor der Aufgabe, die größte Volkswirtschaft Europas in einer Zeit des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs zu reformieren – und er ist dabei auf eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit angewiesen.“ Die EU-Ausgabe des Magazins „Politico“ ist davon überzeugt: „Merz ist von Tag eins an geschwächt. Europa wird die Zeche zahlen.“ Denn das wirtschaftlich stärkste Land Europas zeige tiefe Risse in einer Zeit, in der Einheit dringend geboten sei und in der auch das zweitwichtigste Land, Frankreich, aufgrund innenpolitischer Fliehkräfte so gut wie gelähmt sei.
„Merz von Tag eins an geschwächt“
Die französische „Le Monde“ diagnostizierte denn auch „Unmut“ in einer „unruhigen Koalition“. Dennoch erhofft man sich in Paris viel von einem guten Verhältnis zwischen Macron und Merz: „Die beiden Männer, beide ehemalige Finanzmanager mit einer Vorliebe für spontane Bemerkungen, haben viel gemeinsam.“ Man habe im Élysée-Palast mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass im deutschen Koalitionsvertrag der „Reflex“, die deutsch-französischen Zusammenarbeit wiederzubeleben, angelegt sei. „Ein Reflex, der dem Team von Olaf Scholz, dem ehemaligen Kanzler, schmerzlich fehlte.“ Auch in Polen erwartet man einen Neustart. Der öffentlich-rechtliche Hörfunk in Polen, „Polskiego Radia“, zitiert den Politikwissenschaftler Arkadiusz Stempin mit den Worten: „Die Christdemokratie ist seit der Zeit von Helmut Kohl traditionell näher an Polen als die SPD.“ Das derzeit bürgerlich-liberal regierte Polen, das Merz am gleichen Tag wie Frankreich besuchte, hofft entsprechend, in Merz einen wohlwollenderen Zuhörer als in Scholz gefunden zu haben. Russland erwartet keinerlei Änderungen im diplomatischen Verhältnis, kaum verwunderlich, da der neue Kanzler die generelle Linie Deutschlands gegenüber dem Angriffskrieg in der Ukraine nicht ändern wird. Dagegen gratulierte der ukrainische Präsident Selenskyj: „Wir hoffen aufrichtig, dass Deutschland noch stärker wird und dass wir mehr deutsche Führung in europäischen und transatlantischen Angelegenheiten erleben werden.“ Mehr Führung als von Scholz, mag man zwischen den Zeilen lesen. Merz, der auf außergewöhnliche außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen trifft, könnte außenpolitisch erfolgreich agieren, das schreiben Jeremy Cliffe und Jana Puglierin vom europäischen Think-Tank ECFR, dem European Council of Foreign Relations. Sie sehen drei Gründe: Merz schätze Vergangenes im Großen und Ganzen richtig ein, habe eine bessere Aussicht, seine Agenda auf Europaebene politisch zu koordinieren, und mehr finanziellen Spielraum als Scholz. Risiken sehen sie „angesichts der knappen Mehrheit, rivalisierender Pole in der CDU/CSU, der wenig begeisterten SPD, des Aufstiegs der AfD und der stagnierenden Wirtschaft“ sowie in Merz’ Impulsivität. Was davon zutrifft, werden Beobachter wohl bereits in den kommenden Monaten erfahren.