Reality-TV ist das beliebteste Fernseh-Genre der Deutschen. Immer mehr Formate entstehen und versuchen, sich mit moralisch strittigen Situationen zu überbieten. Aber warum ist „Trash-TV“ so beliebt?
Während die eine kein Foto bekommt, hat die andere die Rose angenommen. Und wer bei Sophia Thomalla sein „Perfect Match“ gefunden hat, der findet sich vielleicht ganz bald auch bei „Ex on the Beach“ wieder. Um sich mit Krokodilpenis und Stinkfrucht im Dschungel herumschlagen zu „dürfen“, muss man da schon etwas mehr geleistet haben. Wer jetzt weiß, um was es geht, dem wird dieses Wissen in der Regel ein wenig peinlich sein. Ja, die Reality-TV-Branche in Deutschland boomt wie nie. Überall erscheinen neue Formate und erfreuen sich großer Zuschauerzahlen – doch dazu stehen wollen die wenigsten. Aber warum?
Unterhaltung mit Schamgefühl
„Es könnte sein, dass Menschen ihre grundlegenden ethischen Werte verletzt sehen“, erklärt Philosophin Carmen Krämer gegenüber dem Schweizer Sender SRF. Wenn sie sich von Beleidigungen, Demütigungen oder Streitereien unterhalten fühlten, würden sie sich schämen. Dieses Phänomen gäbe es nicht nur hinsichtlich der Unterhaltung. „Beispiel Umwelt: Wir kaufen die Avocado, obwohl wir wissen, dass sie von weit her eingeflogen ist“, so Krämer.
Doch: Drama unterhält. „Natürlich wollen wir sehen, wie eine Situation eskaliert“, weiß auch Katrin Müller, die nur unter diesem Pseudonym mit uns sprechen wollte. Die ehemalige Casting Producerin ist an Verträge gebunden, die ihr verbieten, einen zu detaillierten Einblick in die Welt des oft auch abfällig als „Trash TV“ bezeichneten Kosmos zu gewähren. „Das erfahren wir doch schon im Privatleben: Wenn jemand neuen Tratsch und neues Drama hat, dann wollen wir das natürlich hören!“ Aber wie weit darf dieses Drama gehen?
„Wenn man sich als Mensch im Reality-TV so gibt, wie man wirklich ist, kann einem nichts passieren“, behauptet hingegen Rainer Laux. Laux produzierte bereits die „Mutter des Reality-TV“: die erste Staffel „Big Brother“. Zehn Menschen, die über den kompletten Tag in einem Container von einer Vielzahl Kameras verfolgt wurden. Damals, 2000, ein Konzept, das sehr kontrovers diskutiert wurde – aber wahnsinnigen Erfolg hatte. Aber ist es wirklich so einfach mit dem „Einfach-man-selbst-Sein“?
Nicht, wenn man auf ehemalige Teilnehmer oder Teilnehmerinnen hört, wie jüngst Lijana Kaggwa, die nach ihrer Teilnahme bei „Germany’s Next Topmodel by Heidi Klum“ große Kritik übte – und sogar mit Pro7 vor Gericht zog. Ihr Vorwurf: Die Show würde absichtlich manipulieren, sei es bei der Darstellung verschiedener Teilnehmerinnen oder auch im Wettkampf selbst, bei dem teilweise üble Verletzungen in Kauf genommen werden sollen. Mithilfe aus dem Kontext gerissener Aussagen, Suggestivfragen und einem unvorteilhaften Schnitt des Videomaterials sei sie in die Rolle der Zicke gedrängt worden. „Ich selber hab mich nicht wiedererkannt“, resümierte sie im Anschluss bei der ARD. „Die Szenen wurden so geschnitten, dass ich in die Rolle gepasst habe. Viele positive Momente wurden einfach weggelassen. Der Hass aus dem Netz ist dann irgendwann auch in das reale Leben übergeschwappt. Die Leute haben meine Joggingrunde gepostet, mir aufgelauert und versucht, meinen Hund zu vergiften. Zum Schluss stand ich sogar unter Polizeischutz.“ Dieses Cybermobbing habe sie in eine tiefe Depression gestürzt. Aus diesem Loch habe die 28-Jährige es nur mit professioneller Hilfe und dank ihrer Familie hinaus geschafft.
Im Mai 2023 veröffentlichte sie dann ihr erstes Youtube-Video mit Kritik an der Produktion. Das Video wurde mehr als drei Millionen Mal geklickt, und es folgten weitere Ex-Teilnehmerinnen, die ähnliche Vorwürfe erhoben. „Ich weiß noch, das war die Diskussion Nummer eins danach im Netz, weil es dann natürlich auch viele andere ‚Germany’s Next Topmodel‘-Kandidatinnen gab, die meinten, nee, es wurden nie die Füße eingecremt, andere wieder: doch, es wurden sogar Absätze angesägt, und es war mir so wichtig, dass das einfach mal klargestellt wurde“, so Lijana.
Auch Katrin Müller sind Teile dieser Ausführungen nicht fremd: „Wir scripten nicht im klassischen Sinne. Aber natürlich versuchst du vonseiten der Produktion, gewisse Situationen herbeizuführen, die für das Publikum interessant sind.“ Doch gerade bei „Reality-Neulingen“ würde Müller sich hier mehr Aufklärung durch die Produktionen im Vorfeld einer Sendung wünschen. „Oft wissen sie gar nicht, was auf sie zukommt. Sie wurden über Social Media oder auf der Straße angesprochen und haben teilweise idealisierte Vorstellungen, unterschätzen den Stress der Kameras und wissen oftmals nicht, wie Dinge, die sie tun oder sagen, rüberkommen –
oder auch aus dem Kontext gerissen werden könnten“, so Müller. „Wenn du es hingegen mit erfahrenen Darstellerinnen und Darstellern zu tun hast, spielen diese auch für gewöhnlich sehr bereitwillig dabei mit.“ Denn hier ginge es am Ende in jedem Format um Sendezeit – und die ist für den Erfolg unerlässlich.
Eskalation bis hin zu Mobbing und Gewalt
Oft verloren gehe dabei die Authentizität der Teilnehmer verloren, weiß auch Walentina Doronina. In einer Vielzahl von Produktionen polarisierte die 23-Jährige durch ihre direkte, teils provokante Art und hat sich so – wie sie selbst sagt – zu einem „Hochkaräter im Business“ hochgearbeitet. „Die Zuschauer merken sofort, wenn eine Person schauspielert oder sich verstellt! So kann man langfristig weder auf Social Media, noch im TV erfolgreich werden“, sagt sie. Und 90 Prozent der Branche seien „leider nicht authentisch“: „Das macht die Branche meiner Meinung nach leider sehr kaputt. Auffallen um jeden Preis ist das Motto und das ist einfach nur Fake. Da zieh ich nicht mit!“ Auffallen würde sie stattdessen durch ihren „unverwechselbaren Charakter“: „Dass ich kein Blatt vor dem Mund nehme und im TV keine Freunde suche. Mich gibt es nur einmal“, so Walentina. Doch das kommt nicht bei jedem gut an. „Wenn du gegen den Strom schwimmst, hast du automatisch Menschen, die dich kritisieren, aber auch genug Leute, die dich dafür feiern. Wichtig ist, dass man nicht vergessen darf, dass man keinem Rechenschaft schuldig ist oder gefallen muss. Schlussendlich schneidet der Sender einen so, wie er will.“ Das habe sie gerade auch bei ihrer Teilnahme im „Sommerhaus der Stars“ erfahren, bei dem Promi-Paare in einem Häuschen zusammenleben und in Wettkämpfen gegeneinander antreten. Für Walentina und ihren Partner Can wurde der Aufenthalt zu einem ständigen Streit mit den Mitkandidaten – und endete später in einer Handgreiflichkeit gegen die beiden. Doch auch sie mussten als Folge die Show verlassen. Der Vorwurf: Sie hätten im Vorfeld provoziert und für schlechte Stimmung gesorgt. Es folgte viel Hass im Netz und der Ausschluss von der Prime-Video-Produktion „The 50“. Doch Walentina lässt das kalt: „Über einige Hate-Nachrichten oder Kommentare kann ich so oder so nur lachen, weil die ganze Branche für mich eine absolute Doppelmoral ist. Leute, die zuschlagen, werden gefeiert. Sagt man ein schlechtes Wort, ist man der Buhmann? Von daher kann ich das Ganze sowieso nicht ernst nehmen.“
Und wieder stellt sich die Frage: Wie viel Drama ist okay? Für Reality-TV ist es oft ein Spiel, die Grenzen des guten Geschmacks auszutesten. 2019 wurde Unternehmerin Claudia Oberst in „Promis unter Palmen“ bis zu ihrem vorzeitigen Auszug gemobbt. Der Verein Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen bestand im Nachgang darauf, die entsprechende Folge aus der Sat1-Mediathek zu entfernen. „Formate, die nicht mehr mit der Zeit gehen und hängen bleiben, will keiner mehr schauen. Dann werden sie auch nicht produziert“, nimmt Big-Brother-Vater Laux auch ein Stück weit die Zuschauer in die Verantwortung.
Und solange die Klicks stimmen, ist die Moral zweitranging. „Wenn wir aktuell sehen, wie in einem Format wie ‚Make Love, Fake Love‘ dem Publikum signalisiert wird, dass es vollkommen okay ist, einer Frau Gefühle vorzuspielen, solange es als Spiel, als Wettbewerb gesehen wird – und dazu schaut ein paar Villen weiter dann auch die noch die Freundin dem munteren Treiben zu, weil es winkt ja Preisgeld –, dann finde ich das schon bedenklich. Gerade auch für junge Menschen“, kritisiert auch Katrin Müller.
Aber wie kann eine Branche, die so viel Kritik abbekommt, überhaupt derart boomen? „Reality-TV schauen befriedigt unser aller Bedürfnis, über andere zu urteilen“, hatte Kara Alloway, Teilnehmerin der amerikanischen Reality Show „The Real Housewives of Toronto“ mal gesagt. Und tatsächlich: „Generell gilt beim Reality-TV das grundlegende menschliche Interesse am Leben der Anderen. Wir erhalten quasi voyeuristische Einblicke in das Leben von Menschen“, sagte auch Joan Bleicher vom Institut für Medien und Kommunikation in Hamburg gegenüber dem NDR. „Außerdem ist immer wieder auch der soziale Vergleich entscheidend: Ich sehe Menschen, die häufig in sehr prekären Situationen leben, und ich fühle mich dadurch im sozialen Vergleich bestätigt, in meiner eigenen Normalität.“ Am spannendsten findet Bleicher hierbei übrigens das „Dschungelcamp“, also „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“: „Man kann sehen, mit welchen Strategien Menschen versuchen, die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu lenken“, erklärt sie. Und tatsächlich erfreut sich das oft eklige Dschungel-Abenteuer noch immer großer Beliebtheit: Nach Angaben von Statista von 2023 ist es das beliebteste Reality-Format der Deutschen. Kein Wunder also, dass RTL für diesen Sommer eine Allstar-Edition mit ehemaligen Kandidaten ankündigte. Und wenn man die 17 Staffeln einmal Revue passieren lässt, verspricht diese auch hinreichend Unterhaltung – und moralische Dilemmas.