Der Druck auf allen Ebenen wächst. Angesichts der angespannten Flüchtlingssituation wird auf allen Ebenen nach Lösungen gesucht, in Europa, den Mitgliedsstaaten, in Ländern und Kommunen. Eine Reform des europäischen Asylrechts würde kurzfristig nichts an den aktuellen Herausforderungen ändern.
Die Bundesregierung hat nach langen Diskussionen ihren Widerstand gegen eine Reform des europäischen Asylrechts aufgegeben. Eine Nachricht, die an vielen Stellen für Aufatmen sorgte. Nur, ganz so einfach liegt die Sache nicht. Und das nicht nur, weil jetzt andere wie beispielsweise das aktuell besonders betroffene Italien Bedenken haben gegen das, was als Reform auf dem Tisch liegt.
Unabhängig davon würde auch eine schnelle Änderung des europäischen Asylrechts keine sofortige Erleichterung für die Kommunen bringen, die sich schon lange überfordert und im Stich gelassen fühlen. Dass sich die Situation in den nächsten Monaten noch weiter verschärfen wird, gilt als wahrscheinlich. Erfahrungsgemäß sind die Herbstmonate die Zeit, in der die Zahlen weiter steigen.
Eine andere europäische Asylpolitik würde allenfalls auf mittlere Sicht wirken. Aber die in Etappen vereinbarte Reform ist längst noch nicht in trockenen Tüchern. Dabei hatte eigentlich alles wie eine beschlossene Sache ausgesehen. Nach jahrelangem Ringen hatten die EU-Innenminister im Juni bei einem Treffen in Luxemburg den Weg frei gemacht für eine Reform des europäischen Asylrechts. Es war ein Mehrheitsbeschluss, den viele, auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, damals als „historisch“ feierten, historisch „für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten“.
Nur daran wurden Zweifel bereits unmittelbar am Tag nach der „historischen“ Einigung immer lauter, je deutlicher wurde, wie das neue Asylrecht aussehen sollte. An den EU-Außengrenzen sollen zentrale Aufnahmeeinrichtungen eingerichtet und dort binnen weniger Wochen geprüft werden, ob Anspruch auf Asyl besteht. Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ sollen unmittelbar abgeschoben – und weitere Länder zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt werden. Dabei handelt es sich um Staaten, bei denen davon ausgegangen wird, dass Menschen aufgrund der Menschenrechtslage so sicher sind, dass sie keinen Schutz in einem anderen Land benötigen. Asylanträge werden folglich in aller Regel als „offensichtlich unbegründet“ zurückgewiesen.
Zähes Ringen um Asylpolitik
Die Forderung, mehr Staaten als sichere Herkunftsländer anzuerkennen, ist seit jeher in der deutschen Politik heftig umstritten. Befürworter (insbesondere CDU/CSU, FDP) versprechen sich davon eine Entlastung, die sich dann auch auf die Kommunen auswirken würde. Deshalb findet die Forderung auf der kommunalen Ebene und Länderebene Unterstützung.
Allerdings ist die Zahl der Schutzsuchenden, die aus Ländern kommen, die gegenwärtig in der Diskussion stehen, als sicher anerkannt zu werden, vergleichsweise gering. Nach einer vom ZDF veröffentlichten Statistik waren es im vergangenen Jahr weniger als zwei Prozent aller Schutzsuchenden, die aus Algerien, Georgien, Indien, Marokko, Moldau, Mauretanien oder Tunesien nach Deutschland kamen. Markus Engler vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung kommt daher zu dem Schluss: „Man sieht daran sehr deutlich, dass es da eher um innen- und zum Teil außenpolitische Fragen geht und nicht um rein asylrechtliche Einschätzungen.“
Es ist aber nicht nur eine Frage der Symbolpolitik, sondern hat durchaus weitreichendere Folgen. Viele Menschen aus anderen Staaten, die versuchen, auf der Flucht nach Europa zu gelangen, kommen zu einem großen Teil durch diese Länder, die möglicherweise als sicher eingestuft werden. Was zur Folge haben könnte, so befürchten Kritiker, dass sie aufgrund ihrer Einreise aus einem sicheren Land schneller abgeschoben werden könnten.
Die bloße Anerkennung als sicheres Herkunftsland nutzt aber auch dann wenig, wenn dieses Land sich weigert, Menschen zurückzunehmen, weshalb es die Bemühungen zu Rückführungsabkommen wie beispielsweise mit Tunesien gibt.
Möglicherweise könnten solche Maßnahmen die Zahlen verringern, an den eigentlichen Fluchtursachen würde das aber nichts ändern.
Was die EU nach wie vor nicht wirklich schafft, ist, ein solidarisches Konzept zu entwickeln. Solidarisch insbesondere mit den Ländern an den EU-Außengrenzen, an denen hauptsächlich Menschen ankommen, also vor allem die Mittelmeer-Anrainer. In Folge der krisenhaften Situation 2015/2016 war intensiv über einen Verteilschlüssel zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union diskutiert worden – ergebnislos, weil sich einige (Ungarn, Polen, Tschechien) ganz verweigerten.
Immer wieder versuchte Brüssel, die Mitgliedsstaaten zu einer gemeinsamen solidarischen Asylpolitik zu bewegen. Dazu wurden die unterschiedlichsten Vorschläge für Mechanismen vorgelegt in der Hoffnung, die teils völlig konträren Vorstellungen und Interessen doch noch miteinander in Einklang bringen zu können. Einer dieser Vorschläge schaffte es, in Deutschland zum „Unwort des Jahres“ (2020) zu werden: „Rückführungspatenschaften“. Zur Begründung hieß es, dieser Begriff sei „zynisch und beschönigend“. Länder, die sich weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen, sollten ihrer „Solidarität“ dadurch gerecht werden, dass sie die Verantwortung für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber übernehmen würden.
Neue Mechanismen umstritten
In der jetzt geplanten Reform wird ein neuer Anlauf für einen „Solidaritätsmechanismus“ unternommen. Freiwillig, aber verbindlich sollen Mitgliedsländer Flüchtlinge aufnehmen, um andere, aktuell insbesondere Italien und Griechenland, zu entlasten. Wer keine Geflüchteten aufnehmen will, soll stattdessen zahlen. In Luxemburg wurde eine Zahl von 20.000 Euro pro nicht aufgenommener Flüchtling genannt.
Der „historischen“ Vereinbarung von Luxemburg im Sommer folgte ein weiterer monatelanger Streit, nicht zuletzt auch wegen der Blockadehaltung aus Deutschland, die letztlich durch ein Machtwort des Bundeskanzlers beendet wurde.
Es ging um den sogenannten „Krisenmechanismus“. Der gilt als ein Kernstück der geplanten gesamten EU-Asylrechtsreform und soll Ländern, in denen besonders viele Flüchtlinge ankommen, Erleichterung verschaffen. Denn die angekommenen Flüchtlinge können länger abgeschottet (in eigenen Einrichtungen) festgehalten werden und einige Standards bei der Unterbringung können abgesenkt werden.
Der Widerstand Deutschlands brachte das gesamte Asylrechtsreformpaket der EU in Gefahr. Die Verärgerung bei den besonders betroffenen Staaten, vor allem Italien, war unübersehbar.
In diesem Zusammenhang sorgte die deutsche Unterstützung für private Seenotrettung im Mittelmeer für zusätzlichen Ärger, der Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sogar zu einem deutlichem Schreiben an Bundeskanzler Olaf Scholz veranlasste. Darin heißt es, sie habe „mit Erstaunen“ erfahren, dass die deutsche Regierung (über das Auswärtige Amt) Nichtregierungsorganisationen unterstütze, bei Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer aber auch bei der Betreuung von Migranten auf italienischem Boden, und zwar ohne sich mit der italienischen Regierung abzustimmen. Das betrachtet die Regierung in Rom offensichtlich als eine Form der Einmischung in innere Angelegenheiten. Der Diskussion auf europäischer Ebene hat dieser Vorgang sicherlich keinen Gefallen getan.
Selbst ein Elon Musk fühlte sich berufen, sich zu diesem Thema zu äußern. Der Tesla-Gründer und Milliardär kritisierte die deutsche Unterstützung für die Seenotrettung auf seiner Internetplattform X. Das Auswärtige Amt verteidigte darauf die Unterstützung mit der Feststellung: „Das nennt man Leben retten.“
Die Spanische Ratspräsidentschaft hatte vor diesem Hintergrund vorsorglich das Thema Asylrechtsreform erst gar nicht auf die Tagesordnung gesetzt, weil unklar war, ob es eine Mehrheit für den „Krisenmechanismus“ geben würde, und war dann vom Machtwort des Kanzlers überrascht.
Es wurden einige Zugeständnisse an Deutschland gemacht, bei denen es sich eher um Klarstellungen handelte. So sollen Verfahren für Familien mit Kindern beschleunigt behandelt werden. (Im Juni hatte Deutschland beim Thema Verfahren für Familien mit Kindern nachgeben müssen). Und die Kriterien für die Beantragung einer Krisensituation wurden genauer festgelegt. Mitgliedsstaaten müssen gegenüber Brüssel die Notsituation darlegen, um die Ausnahmen des Krisenmechanismus anwenden zu können. Das soll vorbeugen, dass sich einzelne Staaten vorschnell aus eigener Verantwortung zurückziehen.
Die spanische Ratspräsidentschaft (und nicht nur die) war sichtbar erleichtert, dass Deutschland nun nachgegeben hat, und zeigte sich zudem überzeugt, „dass demnächst auch zwischen Europäischem Rat, Parlament und Kommission Verhandlungen beginnen können“. In diesem „Trialog“ soll dann endgültig über die Reform des EU-Asylrechts entschieden werden. Ziel ist, dass es vor der Europawahl im kommenden Jahr unter Dach und Fach ist, damit der jahrelange mühsame Prozess abgeschlossen ist.
Schließlich kann niemand wissen, wie die Europawahl im Juni 2024 ausgeht. In allen Mitgliedsstaaten liegen offensichtlich die Nerven blank in Sachen Flüchtlingspolitik. Rechtspopulisten und -extremisten versuchen, sich dieses Thema zunutze zu machen, und wie Umfragen zeigen, durchaus mit Erfolg.
Auch in Deutschland hat sich die Diskussion in den letzten Wochen zunehmend verschärft. Der Tonfall mag teilweise auch den beiden Landtagswahlen in Bayern und Hessen geschuldet sein. Dass sich die Diskussion nach dem Wahltag deutlich versachlichen würde, ist allerdings kaum zu erwarten.
Flüchtlingsthema instrumentalisiert
Das liegt sowohl an der objektiven Situation und den erwartbaren Entwicklungen als auch daran, dass die hohen emotionalen Wellen, die dieses Thema inzwischen ausgelöst hat, nicht einfach wieder verflachen werden, eher im Gegenteil, wenn die Entwicklungen den Lauf nehmen, wie er vielfach vorausgesagt wird. Die wirtschaftliche Situation wird schwieriger, die ohnehin bekannten Probleme, ob in Schulen, Kitas oder am Wohnungsmarkt, werden sich nicht in ein paar Monaten verbessern.
Die Äußerungen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, die heftige Reaktionen ausgelöst haben, sind ein Hinweis darauf, dass sich Verteilungsfragen verschärfen werden und dass dabei das Flüchtlingsthema vielfach instrumentalisiert werden wird.
Der Druck in den Kommunen wird weiter steigen. Die Forderungen an den Bund liegen schon lange auf dem Tisch und werden beständig wiederholt. Hauptprobleme seien ausreichender Wohnraum, Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft, Sprachkurse, Betreuungs- und Unterrichtsplätze, betont unter anderem der Saarländische Städte- und Gemeindetag. Forderungen, die bereits im Frühjahr zu einem Flüchtlingsgipfel auf dem Tisch lagen, bei dem es aber nach Auffassung von Städten und Gemeinden kaum wirklich Bewegung gab. Im Gegenteil. Geplante Mittelkürzungen bei Integrationsangeboten werden als völlig kontraproduktiv angesehen. Auch das eine Frage der Solidarität zwischen den staatlichen Ebenen.
Das sehen auch die Integrationsminister der Länder so. Die Vorsitzende der Integrationsministerkonferenz, Stefanie Drese (Mecklenburg-Vorpommern, SPD), fordert von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Familienministerministerin Lisa Paus (Grüne), sich für eine Rücknahme der geplanten Kürzungen in Millionenhöhe einzusetzen. Dabei hat sie die Liga der Freien Wohlfahrtsverbände an ihrer Seite. Diakonie und Caritas fordern nicht nur eine Rücknahme der Kürzungen, sondern einen Ausbau der Angebote. Alles andere sei kurzsichtig, kontraproduktiv und werde die Gesellschaft auf Dauer teuer zu stehen kommen.