Die erfolgsverwöhnte deutsche Wirtschaft ächzt unter hohen Strompreisen, der Inflation, das Wachstum rutscht ins Minus. Und die Konkurrenz aus China wird selbstbewusster.

Der Ballsaal des „Hotel Adlon“, die edle Stube des Fünf-Sterne-Hotels direkt am Brandenburger Tor in Berlin, wird seit zwei Tagen von Technikern beherrscht. Eine große Bühne wird aufgebaut, mit einem gigantischen LED-Show-Board. Die Internationale Funkausstellung (IFA) wirft ihre Schatten voraus. Doch hier wird geklotzt, nicht gekleckert. Messegelände kann jeder, Ballsaal im „Adlon“ nur die Besten. Und dazu zählt sich das chinesische Unternehmen für Unterhaltungselektronik „Baseus“. Bei der Vorstellung der neuen „Baseus“-Produkte am Vorabend der Internationalen Funkausstellung erscheint jedoch kein hölzern wirkender chinesischer KP-Funktionär in Anzug und Krawatte, mit Parteiabzeichen am Revers. Es erscheint Shiyou He, in bunten Turnschuhen, verwaschenen Jeans und schwarzem Sweatshirt mit gelbem Firmenlogo: die asiatische Antwort auf Steve Jobs, wenn auch mit zwei Jahrzehnten Verspätung. Er präsentiert Sport-Ohrhörer und ein Hightech-Ladegerät für Elektroautos.
Hightech und Vorträge auf Mandarin
Ähnliche Bilder gibt es auch von der IAA-Mobility-Automesse, die wenige Tage später in München eröffnet wird. Das Selbstbewusstsein der Topmanager aus dem Reich der Mitte geht mittlerweile so weit, dass die CEOs ihre Vorträge generell auf Mandarin halten. Das chinesische Zeitalter hat also auch auf den deutschen Industriemessen unüberseh- und auch -hörbar Einzug gehalten. Sie dominieren die Hallen des diesjährigen Messegeschäfts. Es ist ein Paradigmenwechsel. Bislang ließen deutsche Unternehmen die benötigten Komponenten in China produzieren, aus Kostengründen in Drittländern zusammenbauen, um sie dann in Deutschland in die Endfertigung zu nehmen. Doch warum sollten die chinesischen Unternehmen nicht gleich das Ganze als ihr Produkt auf dem europäischen Markt mit eigenen Marken anbieten, wenn sie bereits das Know-how besitzen?
Die deutsche Industrie steht unter Druck – nicht nur durch die chinesische Konkurrenz, sondern auch durch vielfältige Faktoren, auf die sie derzeit kaum Einfluss hat. Während auf der IFA in Berlin und der IAA in der bayerischen Landeshauptstadt chinesische Unternehmen den Takt vorgeben und zukünftige Markt-Claims abstecken, streitet die deutsche Politik erst untereinander und anschließend mit Verbänden aus Industrie und Gewerbe etwa über einen Industriestrompreis. Dieser wird die Probleme nicht auf lange Sicht lösen, zumal er nur zeitlich begrenzt eingeführt werden soll, aber er könnte aus Sicht der Wirtschaft die größte Not lindern.
Robert Habeck kann nichts für die kolossalen Versäumnisse der letzten zwei Jahrzehnte in der deutschen Wirtschaftspolitik. Er will in seiner politischen Not der Wirtschaft einen Rettungsanker zuwerfen. Die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Tanja Gönner, sieht das mehr als kritisch und fordert mehr Weitsicht. Eine temporäre Strompreisbremse für die großen Unternehmen ist aus ihrer Sicht viel zu kurz gesprungen und widerspricht auch der Einheitsfront der Ministerpräsidenten, die gerade bei der EU vorgesprochen haben. „Eine kurzfristige Lösung hilft den Unternehmen doch nicht weiter, sondern wir müssen wissen, wie sieht das Stromsystem der Zukunft aus. Die Unternehmen müssen wissen, wie sehen die Preise nach 2030 aus, das ist entscheidend. Die Investitionen, die heute geplant werden, sind mitentscheidend für die Produktionsbedingungen im kommenden Jahrzehnt.“ Gönner sieht die Bundesregierung hier in der Pflicht: Die Stromsteuer müsste einfach nur gesenkt werden, da diese um das 20-fache über dem europäischen Minimallevel liegt. „Ein Paket für den Wirtschaftsstandort Deutschland muss daher für alle Verbraucher die Senkung der Stromsteuer auf das EU-Mindestniveau vorsehen, dazu befristet einen Industriestrompreis für besonders energieintensive Unternehmen enthalten und die Verlängerung eines Energiesteuer-Spitzenausgleichs erneut sicherstellen.“ Die BDI-Hauptgeschäftsführerin mahnte, es seien nicht nur die großen Unternehmen, sondern sehr viele Mittelständler, die ebenfalls sehr energieintensiv arbeiten und im weltweiten Wettbewerb stehen. Auch sie müssten bei den Energiekosten entlastet werden, so Gönner.
Wer Waren fertigt, muss sie auch transportieren. Hier schlagen seit Wochen die verschiedenen deutschen Logistikverbände Alarm. Sie leiden schon seit Jahren unter den hohen Spritkosten. Nun soll sich zum 1. Januar die Lkw-Maut erhöhen, ab 1. Juli müssen dann auch 3,5-Tonner Maut zahlen. „Das trifft nicht nur den klassischen deutschen Mittelstand, sondern auch tausende von Familienunternehmen, das Rückgrat des deutschen Transportwesens“, so Konstantin Popow im FORUM-Gespräch. Der Vorsitzende des Bundesverbandes Logistik & Verkehr (BLVpro) sieht für das kommende Jahr nicht nur für seine Branche eine sehr düstere Zukunft. „Als würde die Verdopplung der Lkw-Maut nicht ausreichen, wird der CO2-Preis pro Tonne von derzeit 25 auf 35 Euro zum 1. Januar erhöht. Das heißt, nicht nur die Spritpreise werden staatlich gelenkt steigen, sondern alle anderen Energieträger sind ebenfalls betroffen.“
„Zu abhängig von Russland und China“

Nicht nur Konstantin Popov macht sich erhebliche Sorgen um die Zukunft seines Logistikunternehmens. Auch in der Baubranche sieht man ohne staatliches Eingreifen keinen Ausweg aus der derzeitigen Flaute, so der Geschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Tim-Oliver Müller. Er warnt vor einer Insolvenzwelle im kommenden Herbst, gerade bei den mittelständischen Bauunternehmen.
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW), Marcel Fratzscher, sieht die deutschen Unternehmen aber auch in der Pflicht. Diese hätten sich in den vergangenen 20 Jahren auf ihren wirtschaftlichen Erfolgen ausgeruht und erhebliche Fehler gemacht. „Die Wirtschaft hat sich zu sehr abhängig gemacht von den beiden großen Playern auf dem Weltmarkt, von Russland als Energielieferant und von China als Produktionsstandort. Das haben wir in den letzten anderthalb Jahren schmerzlich erfahren müssen. Dann haben unsere Unternehmen die ökologische Transformation nicht ernst genommen. Beispiel: Die Automobilindustrie hat sich auf ihrem Erfolgsmodell Verbrenner ausgeruht und nun auf dem Weltmarkt das Nachsehen. Dazu wurde die Digitalisierung von vielen Firmen auf die lange Bank geschoben, auch da hinken wir jetzt hinterher. Das zu korrigieren ist aber zu schaffen.“
Fratzscher räumt im Gespräch mit FORUM jedoch ein, dass dieser Prozess nicht von heute auf Morgen zu schaffen sei, sondern Jahre, wenn nicht ein Jahrzehnt brauchen werde. Im Klartext: Die kommenden Jahre werden für die Industrieproduktion sehr schwierige werden.