Antisemitismus hat unterschiedliche Gründe und unterschiedliche Formen, aber eine verbindende Klammer, sagt Jörn Didas vom Adolf-Bender-Zentrum. Machtlos ist man nicht gegen Menschenfeindlichkeit, „aber es braucht viel Arbeit und Energie“.
Herr Didas, wie ordnen Sie das ein, was wir derzeit in deutschen Städten an gewalttätigen Eruptionen erleben?
Wenn wir auf Israel sehen und die schrecklichen Massaker, hat das natürlich etwas Eruptives, aber letztlich haben wir das immer: Wenn sich die Konfliktsituation und die kriegerischen Auseinandersetzungen verschärfen, sehen wir diese Bilder von Demonstrationen, die sich „pro Palästina“ auf die Fahnen schreiben. Das haben wir in den letzten Jahren immer wieder gesehen. Jetzt ist es aufgrund der Bilder und der Massaker von besonderer Vehemenz. Das haben wir im Bundesverband RIAS (Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus) ganz klar gesehen. Im Umfang und der Massivität ist es ein Stück weit auch eine neue Dimension.
Eruptiv vor dem Hintergrund einer ohnehin latent vorhanden Stimmungslage?
Ja. Die gab es immer schon. Der Antisemitismus, den wir jetzt auf unseren Straßen sehen, ist nicht neu. Der hat sich immer schon aus unterschiedlichen Facetten zusammengesetzt. Es gab immer schon den Antisemitismus, der sich aus dem Rechtsextremismus speist. Es gibt aber auch den Antisemitismus, der aus muslimischen Kontexten kommt. Das war immer schon eine der Aufgaben auch von RIAS Saarland, das im Blick zu haben. Das ist das, was man jetzt auch sieht.
Ist das in der Vergangenheit unterschätzt worden? Haben wir zu sehr auf den Antisemitismus aus anderen Bereichen der Gesellschaft geschaut?
Ich glaube, dass es letztendlich auch etwas mit der Historie der Bundesrepublik zu tun hat, dass der Blick in erster Linie auf den Antisemitismus von Rechts geht. Wenn man sich die Statistiken ansieht, sowohl aus dem strafrechtlichen Kontext, aber auch andere, dann ist Antisemitismus im Rechtsextremismus ein vorherrschendes Element gewesen. Wenn man sich den Antisemitismus im muslimischen Kontext ansieht, ist es so, dass er eine hohe Komplexität aufweist, weil er auch anders begründet ist. Das beginnt bei uns in der Gesellschaft schon mit der Frage, wer sich überhaupt schon mal ernsthaft mit dem Nahostkonflikt auseinandergesetzt hat. Ich glaube deshalb, dass man diese Formen des Antisemitismus an vielen Stellen einfach ausgeblendet hat; auch weil die Bearbeitung nicht so einfach ist, wie wir es uns oft machen, indem wir etwas zum Nationalsozialismus machen, wenn es um Antisemitismus geht. Eine Herangehensweise, die übrigens auch nicht unbedingt hilft, denn die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kann nicht die einzige Antwort auf die aktuelle Herausforderung sein.
Es gibt also nicht „den“ Antisemitismus, sondern verschiedene Ausprägungen?
So ist es. Gleichzeitig bedingen diese sich gegenseitig und hängen zusammen. Antisemitismus hat unterschiedliche Formen, er kommt aus unterschiedlichen Sichtweisen daher, aber er hat auch verbindende Klammern. Wenn Sie sich mit der Historie beschäftigen, ist das ganz spannend zu sehen. Der Antisemitismus der Hisbollah hängt natürlich sehr eng mit dem Staat Israel zusammen, aber er ist zu großen Teilen auch islamistisch begründet. Da landen Sie in der Historie auch beim Großmufti von Jerusalem (Anm. d. Red.: Islamischer Rechtsgelehrter, der Gutachten, die Fatwas, abgibt) und der Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus. Da schließt sich die Klammer auch wieder. Das heißt: Die Beweggründe sind ähnlich, die Hintergründe und Ausprägungen können unterschiedlich sein, aber es gibt auch verbindende Klammern.
Wenn es um jahrhundertelange Entwicklungsstränge geht, also eine tiefe Verwurzelung, stellt sich die Frage, ob man dem in gewisser Weise machtlos gegenüber steht?
Machtlos darf man bei Menschenfeindlichkeit nie sein. Dann hätten wir als Demokratie nicht nur das massive Problem, das wir aktuell haben, sondern würden gleichzeitig aufgeben, kapitulieren. Von daher bleibt es eine stete Aufgabe für die Gesellschaft, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Antisemitismus vorzugehen. Mit Artikel 1 des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – muss es eine Aufgabe sein, dagegen anzugehen. Was wir in der aktuellen Situation wahrnehmen müssen: Menschen jüdischen Glaubens haben Angst, in diesem Land zu leben. Es muss eine Aufgabe einer jeden Gesellschaft, einer jeden Demokratie sein, dass sich die Menschen sicher fühlen. Machtlos ist man nicht, aber man muss viel Arbeit und Energie investieren und auf den unterschiedlichsten Ebenen gegen den Antisemitismus vorgehen.
Wir haben von unseren Institutionen ein klares Bekenntnis. Gleichzeitig gibt es eine Diskussion, dass dahinter oft ein Komma und ein „Aber“ kommt. Drückt sich damit eine Verunsicherung aus?
Es zeigt, wo ein Teil des Problems liegt. Einen Begriff wie „Israelkritik“ gibt es in Bezug auf kein anderes Land dieser Welt. Der Begriff hat sogar Eingang in den Duden gefunden. Es zeigt, dass in Deutschland immer schon mit einem besonderen Blick auf Israel geschaut wird. Das zeigt sich auch in den Diskursen, die geführt werden. Man muss sich vor Augen führen: Wir hatten ein Massaker einer islamistischen Gruppe in Israel mit der Ermordung von weit über 1.000 Menschen. Da gibt es kein Komma dahinter. Es muss in der Bundesrepublik möglich sein, sehr klar die Solidarität auszusprechen, ohne ein Komma und ein Aber zu setzen. Das haben wir in anderen Kontexten auch nicht gemacht. Bei 9/11 hat keiner ein Komma und ein Aber gemacht. Was den Staat Israel zudem auszeichnet: Es ist die einzige Demokratie in der Region. Die Politik der Regierung Netanjahu ist ja auch massenhaft öffentlich in Israel kritisiert worden – was übrigens in keinem der drumherum liegenden Länder der Fall war oder denkbar wäre. Das müssen wir auch anerkennen. Dass das in Deutschland so schwer fällt, ist auch Teil des Problems. Und jetzt der Regierung Israels eine Quasi-Mitschuld an dem Massaker zu geben, das ist ein gefährliches Glatteis.
Wenn wir jetzt feststellen: Vor eineinhalb Jahren haben wir überall in Deutschland ukrainische Fahnen gesehen. Das ist mit der israelischen Fahne nicht der Fall. Was sagt es aus, dass wir uns damit beschäftigen müssen?
Das Problem ist etwas komplexer und zeigt, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Ein Beispiel: Einem Mann aus Frankfurt, der auf dem Nachhauseweg von einer Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Massakers war, wurde von der Polizei geraten, die israelische Fahne aus Sicherheitsgründen einzupacken und nur in Gruppen den Veranstaltungsort zu verlassen. Für die Menschen zeigt das, dass es offenbar ein Sicherheitsproblem gibt. Und wenn Sie sich die Befragungen der „Mitte-Studie“ und andere Studien zur Einstellung gegenüber dem Staat Israel ansehen, fällt das massive kritische Verständnis auf. Ich würde in Klammern dazu sagen: mit einer großen Unwissenheit. Da zeigen sich massive Ressentiments. Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine gab es auch beispielsweise an Schulen ganz viele Friedensaktionen, was es jetzt so nicht gibt. Da hören wir, dass es vielfach gar nicht einfach umzusetzen wäre, weil es viel mehr Widerstand gibt, mitzumachen.
Wir stehen jetzt kurz vor dem 9. November. Haben wir nach wie vor Klärungsbedarf, wie wir mit unserer Geschichte umgehen?
Es ist ein Grundpfeiler im Selbstverständnis dieser Republik, sich dessen gewahr zu sein und daraus die Verantwortung für die Gestaltung unserer Demokratie zu tragen. Jetzt haben wir aber eine Gesellschaft, in der ein nicht unwesentlicher Teil sagt: Das ist lange her. Und das ist ein Problem. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben zum Teil als Opfer des Nationalsozialismus die Grundstrukturen unserer Demokratie genau so geschaffen und ich glaube, wir werden sie in diesen sehr turbulenten Zeiten auf Dauer nicht erhalten können, wenn wir uns dieser Verantwortung nicht bewusst sind. Und das bedeutet auch, einen besonderen Aspekt zu legen auf die Bearbeitung aller Formen von Antisemitismus, die wir in unserer Gesellschaft sehen.
Was kann Präventionsarbeit dabei leisten? Und wie muss sie sich verändern?
Sie hat sich schon stark verändert und muss sich noch stärker verändern. Antisemitismus ist auch ein Bildungsthema, das an Schulen bearbeitet werden muss, wobei man lange darüber diskutieren kann, in welcher Form das gemacht werden soll. Was uns ein Stück weit fehlt: Wir argumentieren im Bereich Antisemitismus mit unserer Geschichte und unserer Verantwortung. Jetzt sind wir aber eine Gesellschaft, die sehr divers und sehr vielfältig ist. Für Menschen, die jetzt unser Bildungssystem durchlaufen, ist der Nationalsozialismus nicht mehr ihre familiäre Geschichte, erst recht nicht ihre eigene. Sie bringen andere Geschichten mit. Das bedeutet für die Bildung, dass wir uns verstärkt anderen Formen des Antisemitismus zuwenden müssen und der Frage, woraus der sich speist, damit wir auch verantwortungsvoll in den Bildungseinrichtungen die jungen Menschen begleiten können, sich damit auseinanderzusetzen. Zu denken, wenn man den Nationalsozialismus bearbeitet, hätte man das seinige zum Thema Antisemitismus getan – dieser Automatismus funktioniert nicht.
Was bedeutet das jetzt konkret?
Konkret bedeutet das, junge Menschen mit ihrer familiären Biografie anzunehmen, dabei auch ganz klare Grenzen zu setzen: Massaker kann man nicht gutheißen. Aber dass Menschen aus muslimischen Ländern mit anderer Sichtweise kommen, muss man erst einmal so anerkennen und darauf dann die pädagogischen Konzepte entwickeln.
Es ist ja immer mal wieder diskutiert worden, den Besuch einer Gedenkstätte zur Pflicht zu machen. Ein kluger Vorschlag?
Dafür gibt es Für und Wider. Ich glaube, Gedenkstättenbesuche sind eine Möglichkeit der Bearbeitung, wenn es dabei nicht stehen bleibt. Was es nicht geben darf, ist so was wie ein Gedenkstättentourismus. Es geht um verantwortungsvolle pädagogische Arbeit. Es kann ein guter Ausgangspunkt sein, um zu lernen, warum wir in der Bundesrepublik bestimmte Positionen haben und danach handeln.