Philipp Lahm wird 40. FORUM blickt zurück auf eine bewegte Karriere, einen klasse Fußballer und einen Menschen, der ein besonderes Gefühl für Zeitpunkte hatte.

Ein Lautsprecher war Philipp Lahm noch nie. Sachlich, nüchtern, analytisch – diese Wörter beschreiben ihn besser. Doch stille Wasser sind ja bekanntlich tief, und wie Machtspielchen funktionieren, hat Lahm im Laufe der Jahre perfekt gelernt. Bestes Beispiel, die WM 2010 in Südafrika, wo er ohne Ballacks Wissen an seinem Thron sägte: „Es ist einfach so. Es ist meine ehrliche Meinung, und ich werde nach dem Turnier nicht zum Bundestrainer gehen und die Kapitänsbinde ihm wieder zurückgeben.“

Musste er auch nicht. Ballack war entmachtet, Lahm der neue Kapitän. Spätestens jetzt war klar, Lahm ist nicht nur der kleine liebe Philipp, sondern auch ein Machtmensch, der seine Ziele konsequent verfolgt – auf und neben dem Platz. „Philipp Lahm ist ein perfekter Kapitän, ist ein sehr guter Mensch, einer der besten Rechtsverteidiger in der Geschichte Deutschlands und der Welt.“ Pep Guardiola sagt bis heute, dass Philipp Lahm der intelligenteste Spieler sei, den er je trainiert habe – besonders ausgezeichnet hat den gerade mal 1,70 Meter großen Lahm immer sein Timing. Eine Eigenschaft, die er in allen Lebenslagen perfekt beherrscht, ob nach dem Rücktritt nach dem WM-Titel mit der Nationalmannschaft: „Weil es einfach der richtige Zeitpunkt ist“, oder bei den Bayern: „Für mich steht fest, dass ich ab Sommer sozusagen Privatier bin. Ich kann mich um andere Dinge noch mehr kümmern.“ Lahm wusste immer, wann der ideale Zeitpunkt gekommen ist, um erhobenen Hauptes ein Kapitel zu beenden, um ein weiteres zu beginnen. Schon während seiner Karriere blickte er deshalb über den großen Fußballteich hinaus. Auch seine Zweitkarriere überließ er nicht dem Zufall. Als Gesellschafter eines Sportartikel-Herstellers und einer Firma für gesunde Ernährung sammelte er Management-Erfahrungen. Zudem ist er bei einer Beratungsagentur eingestiegen, wo er Führungsseminare abhält.
„Ein perfekter Kapitän“
Deutschland hatte viele Fußballer von Weltrang: Rahn, Seeler, Müller, Hoeneß oder Maier, Netzer, Overath, Vogts, Matthäus, Brehme oder Klinsmann. Aber es gibt unter all diesen Größen noch eine kleine erlesene erste Reihe der ganz Großen: Auf Fritz Walter werden die Älteren mit Recht bestehen. Und natürlich Franz Beckenbauer. Der Held von Bern und Kaiser Franz müssen nun ein bisschen zusammenrücken, ein Dritter gesellt sich zu ihrem Bunde.

Als der junge, feingliedrige Beckenbauer bei der WM in England 1966 durch die Reihen der Gegner tänzelte, ahnten alle, aus dem wird bald eine Majestät. Er erfand den Außenrist und konnte Dinge mit dem Ball wie kein Deutscher vor ihm, er konnte ihn Gassi führen. Lahm führte diese Tradition weiter. Er führte den Ball als hätte er vier Beine. Beschleunigen, Abstoppen, Richtungswechsel – stets mit Übersicht und unter Kontrolle des Balls, der bis heute etwas zu groß für ihn wirkt. Wie er auch kam und anflog, er nahm ihn mit, klemmte ihn unter seine Beine und ging ins Eins-gegen-Eins gegen die namhaftesten Abwehrspieler. Einen derart offensiven Außenverteidiger mit solchen technischen Fähigkeiten gab es vorher in Deutschland nicht.
Weil er einen 360-Grad-Radar zu haben schien, und weil er in keiner auch noch so schwer zu lösenden Situation die Verantwortung scheute, war Lahm immer anspielbar. Er lief sich geschickt frei, seine Gegner kamen gar nicht erst an ihn ran. Sie konnten ihn nicht mal foulen. Es war nicht spektakulär, was Lahm tat, aber die Details stimmten. Er machte das Einfache perfekt. Es sah so leicht aus und war doch so schwer. Der kleine Mann bewies: Fußball spielt man am Boden.

Lahms Meisterstück war der vorausschauende Pass, das vorbereitende Anspiel, das den Mitspieler einsetzt. Lahm konnte den Ball mit den Füßen fangen, er konnte ihn auch mit den Füßen werfen. Moment, Richtung, Härte, alles stimmte beim wohltemperierten Pass. Es gibt Pässe, die ankommen. Und es gibt Lahm-Pässe. Sie rauben dem Abwehrspieler Möglichkeiten und schenken sie dem Stürmer. Man möchte ihn als Mitspieler, Lahm würde selbst einen Kreisligakicker glänzen lassen.
EM-Debüt im Jahr 2004

Franck Ribéry beschwerte sich, als Lahm in München von der linken auf die rechte Abwehrseite wechselte. Arjen Robben auf rechts bedankte sich, mit einer Hymne. „Ich bin stolz“, sagte der Holländer, „mit einem so großen Spieler, mit dem Kapitän, zusammenzuspielen.“ Ribéry und Robben, die beiden Individualisten des FC Bayern, wurden stark auch dank Lahms Pässen. Obendrein hielt er ihnen den Rücken frei. Und er konnte ja Zweikämpfe, Stürmer abdrängen, grätschen, wenn’s sein musste. Natürlich gewann er auch Kopfballduelle. Vor allem beherrschte er das strategische Verteidigen. Lahm konnte zwei Stürmer gleichzeitig decken. Stellungsfehler von ihm kann man an einer Hand abzählen. Das Siegtor der Spanier im EM-Finale 2008 durch Torres war eine dieser wenigen Ausnahmen. 113 Länderspiele absolvierte er, alle in der Startelf. Alle 113. Schon bei seinem ersten Spiel im Februar 2004 stach er heraus. Bei der EM 2004 spielte die deutsche Elf schwach, bis auf Michael Ballack und den Debütanten Philipp Lahm. Ab 2006 war Lahm der beste Deutsche. Sein Tor im Eröffnungsspiel war eine der wenigen Szenen, die in Erinnerung bleiben. Später musste die Nationalelf einige Niederlagen einstecken. Doch Lahms Zeit endete mit dem Titelgewinn 2014. In Brasilien spielte er zunächst hervorragend im Mittelfeld, auch wenn manche Experten das anders sahen. Ab dem Viertelfinale spielte er hervorragend in der Abwehr. Im Finale war Schweinsteiger der blutende deutsche Held. Der wichtigste Spieler, der die meisten Angriffe gegen Argentinien einleitete, war Lahm.
Mit seinen Bayern gewann Lahm acht Meistertitel, fünf in Serie als Kapitän. Sie zählten zu den drei besten Mannschaften der Welt. Unter Pep Guardiola spielten sie wie nie eine deutsche Elf zuvor. Doch Fußball war für Lahm mehr als Titel und Siege, mehr als eine Karriereoption. Lahm verstand den Verein nicht als Dienstleister wie viele heute. Man tut dort etwas Gemeinsames und, ja, Sinnvolles. Sein Elternhaus, seine Familie gaben ihm das mit. Sie leiten seit Jahrzehnten ehrenamtlich die Freie Turnerschaft München-Gern, einen Breitensportverein. Die Mutter war Jugendleiterin, der Vater Trainer, der Onkel Vorstand, die Schwester führte das Vereinslokal. Ein Angebot von Real Madrid lehnte er 2004 ab, später eins von Barcelona. Der Sache wegen, des sportlichen Erfolgs also, riskierte er mal einen Konflikt mit Uli Hoeneß. Mit einem Interview stützte er den umstrittenen Trainer Louis van Gaal, er war der Sportdirektor in kurzen Hosen. Lahm war auch der Beleg, dass der FC Bayern dann stark ist, wenn er von Spielern aus München und Umgebung getragen wird. Müller, Maier, Schwarzenbeck, Hoeneß damals, Schweinsteiger, Müller, Badstuber später. Beckenbauer früher, Müller bis heute, Lahm bis 2017.
Hohes Maß an Engagement

Manche Fans mögen Lahm als naseweis und streberhaft empfunden haben. Sprach er öffentlich, dann mit Kalkül. Auch hatte er Gespür und Sinn für Macht. Wer über Jahre Kapitän der zwei wichtigsten deutschen Fußballmannschaften war, brauchte das. Als er 2010 Ballack die Binde wegnahm, wie manche meinten, wirkte das kalt. Man konnte es aber auch anders sehen: Er übernahm die Verantwortung fürs Ganze. Und diese Entscheidung führte nach Rio. Da hob Lahm am 13. Juli 2014 den Goldpokal in die Höhe, wie Beckenbauer in München 1974, wie Walter in Bern 1954. Lahm ist, wie alle, ein Kind seiner Zeit, so war er auch als Kapitän. Beckenbauer entschied während der WM 74 autoritär über die Aufstellung. Lahm wich in einer kritischen Phase des Turniers 2014 vom Mittelfeld zurück in die Abwehr, um den Erfahrenen Khedira und Schweinsteiger Platz zu geben. In Deutschland war Lahm auch immer ein bisschen der Unverstandene, seine Größe haben nicht alle umrissen. Joachim Löw nannte ihn zwar den Fußballer des Jahrzehnts, doch Lahm wurde nie zum Fußballer des Jahres gekürt. Vielleicht war seine Klasse zu selbstverständlich, er spielte ja nie schlecht. Lahm war einfach auch kein typisch deutscher Fußballer. Er stand nicht für die Einzelaktion, den Gewaltschuss, das Kopfballtor. Der Abwehrspieler erhielt nicht mal eine Rote Karte. Er war keiner für die Herzen – aber er war definitiv einer der größten.