Er ist einer der erfolgreichsten Schauspieler Hollywoods, spielte in einer Reihe von Kinohits und Kultfilmen mit. Und doch: Will man Keanu Reeves fassen, ist das gar nicht so leicht. Eine Annäherung.
Keanu Reeves polarisiert. In der „New York Times“ belegt er Platz vier auf der Liste der „25 Greatest Actors of the 21st Century“. Hingegen gibt es auch Kritiker, die halten ihn für ein schauspielerisches Leichtgewicht, finden ihn hölzern, ausdruckslos und langweilig. Andere schätzen ihn für seine Rollen als einfühlsamer, sexy Lover oder als echter Freund, mit dem man die berühmten Pferde stehlen kann. Und seit 2014 hat er als sinistrer Auftragskiller John Wick eine ständig wachsende Fangemeinde unter den Action-Fans. Liebhaber von Filmen mit deutlich mehr cineastischem als kinetischem Inhalt schätzen eher seine beherzte und oft eklektische Rollenwahl: Von „My Private Idaho“ (1991) über „Gefährliche Brandung“ (1991), „Bram Stoker’s Dracula“ (1993) über „Little Buddha“ (1993), „Speed“ (1994) und „Im Auftrag des Teufels“ bis hin zu seiner „Matrix“-Trilogie (1999 bis 2003), der er vor zwei Jahren noch einen vierten Teil folgen ließ. Seinen Durchbruch in Hollywood hatte er übrigens 1989 mit der völlig durchgeknallten Komödie „Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit“. Auch diesem Film ließ er – 30 Jahre später – eine Fortsetzung folgen.
Kollegen, die mit ihm gemeinsam vor der Kamera standen, zum Beispiel Sandra Bullock, Winona Ryder oder Woody Harrelson, beschreiben ihn als liebenswert und großzügig; andere, wie Shia LaBeouf, als extrem introvertiert und scheu, ja sogar schüchtern. Trifft man sich mit Keanu Reeves zum Interview, ist von seiner angeblichen Reserviertheit nichts zu spüren. Anfangs ist er zwar zurückhaltend, aber auch sehr höflich und erfrischend unprätentiös. Hat er erst einmal Vertrauen gefasst, öffnet er sich gern. Zum Beispiel spricht er freiheraus über Probleme, die er als Teenager hatte. „Vielleicht kommt diese Introvertiertheit ja daher, dass ich mich lange Zeit als Außenseiter gefühlt habe“, meint er nachdenklich. „Als ich jung war, bin ich sehr oft umgezogen. Innerhalb von vier Jahren war ich auf fünf verschiedenen Highschools. Ich gehörte nie so richtig zu einer Clique dazu. Als halber Chinese, halber Hawaiianer, der überwiegend in Kanada aufwuchs, fühlte ich mich allein schon durch meine Herkunft als Fremder. Diese Erfahrungen haben sicher Spuren in meinem Charakter hinterlassen. Und Teile dieser Biografie – vor allem dieses Gefühl von Einsamkeit – habe ich später auch in manche meiner Filmrollen einfließen lassen.“
Keanu Charles Reeves wurde am 2. September 1964 in Beirut geboren. Sein leiblicher Vater machte sich aus dem Staub, als Keanu (Keanu bedeutet auf Hawaiianisch „kühler Wind über den Berg“) gerade einmal drei Jahre alt war. Den überwiegenden Teil seiner Jugend verbrachte er in Toronto, Kanada. Seine Mutter arbeitete nach der Scheidung als Kostümbildnerin und hat unter anderem auch Outfits für Alice Cooper und David Bowie entworfen. „Meine Mutter hatte schon immer eine künstlerische Ader. Sie interessierte sich auch sehr für Musik und Filme. Das hat sicher auf mich abgefärbt“, meint er lächelnd.
Dyslexie und Schulverweise
Mit 15 Jahren hatte Keanu Reeves einen Schlüsselmoment in seinem Leben: „Eines Tages kamen ein paar Schauspieler zu uns in die Schule, die wie Feuerwehrleute, Astronauten oder Polizisten gekleidet waren und mit uns spielten. Das fand ich total cool. Später habe ich dann im Schüler-Theater den Mercutio in ‚Romeo und Julia‘ gespielt, was mir total unter die Haut ging. Ich weiß noch, wie glücklich ich mich dabei fühlte. Und diesen Glücksmoment wollte ich anschließend so oft wie möglich wiederholt haben. Ich werde nie vergessen, wie ich mich eines schönen Tages vor meiner Mutter aufgebaut habe und sie fragte: ‚Hast du etwas dagegen, wenn ich Schauspieler werde?‘ Sie nahm mich einfach in die Arme und lachte.“
Der Plan war gefasst; der Weg bis zur ersten TV- oder gar Kinofilm-Rolle war allerdings noch weit. Außerdem hatte Keanu Reeves Probleme in der Schule. Er war etwas zu vorlaut und aufmüpfig und wurde deshalb von diversen High-schools ausgeschlossen. Da er wegen seiner Dyslexie nicht gut lesen konnte, war er auch ein ziemlich schlechter Schüler. Mit 17 verließ er die Schule dann endgültig und schlug sich mit Gelegenheitsjobs wie Schlittschuhschleifer und Gärtner durch. Natürlich probierte er es auch immer wieder mit der Schauspielerei und versuchte, bei Castingshows einen Fuß in die Tür zu kriegen. „Das lief aber zunächst alles andere als gut. Ich lebte ja damals noch mit meiner Mutter in Toronto. Anfang 20 bin ich dann von Kanada in die USA gezogen, habe meine Greencard bekommen und bin dann tatsächlich langsam ins Filmbusiness hineingerutscht. Mit 22 Jahren spielte ich neben Michelle Pfeiffer und John Malkovich in ‚Gefährliche Liebschaften‘. Das war wie ein Traum.“
Anfang der 90er-Jahre freundete sich Keanu Reeves bei den Dreharbeiten zu „My Private Idaho“ mit River Phoenix an. „Wir waren wirklich sehr eng miteinander befreundet und irgendwie auch seelenverwandt“, schwärmt Keanu Reeves noch heute. „Es war für mich auch ungeheuer wichtig, dass ich in diesem verrückten Hollywood-Filmbusiness jemanden hatte, der mich verstand und mir auch viele gute Ratschläge gab.“ Zwei Jahre später starb River Phoenix mit nur 23 Jahren an einer Drogen-Überdosis. Ein Tod, der Keanu Reeves bis heute erschüttert. Acht Jahre später musste er einen weiteren tragischen Todesfall verwinden: Ende der 90er war er mit der Schauspielerin Jennifer Syme liiert. Sie wurde schwanger und erlitt im achten Monat eine Fehlgeburt. Zwei Monate später trennte sich das Paar, kam aber Anfang 2001 wieder zusammen. Im April desselben Jahres starb Syme bei einem Autounfall. Danach stürzte sich Keanu Reeves erst recht in seine Arbeit und führte, laut eigener Aussage, ein sehr unstetes Leben. Bis er 2009 bei einem Dinner der Künstlerin Alexandra Grant begegnete. Sie arbeiteten gemeinsam an zwei Büchern – „Shadows“ und „Ode to Happiness“ – und gründeten einen Verlag namens X Artist Books. Seit vier Jahren sind Alexandra und Keanu auch ein Liebespaar.
Als Philanthrop bekannt
Dass Keanu Reeves ein sehr spiritueller Mensch ist, wissen wir spätestens seit 1993, als er in Bernardo Bertoluccis „Little Buddha“ die Titelrolle spielte. Der Film hatte eine große Wirkung auf Keanu: „Seit diesem Film beschäftige ich mich intensiv mit dem Buddhismus, aber auch mit den anderen asiatischen Religionen und Philosophien. Das hat mir geholfen, dem Leben etwas gelassener gegenüberzutreten.“ Und nach einer Pause meint er noch: „Ich hatte in meinem Leben viel Glück, aber auch Unglück – und sogar einige Tragödien. Diese Erfahrungen machen doch die meisten Menschen im Laufe der Zeit. Aber trotz aller Schicksalsschläge bin ich ein ziemlich optimistischer Mensch geblieben.“
Dass Keanu Reeves ein Philanthrop ist, der viele wohltätige Organisationen mit Millionen-Dollar-Spenden unterstützt, ist längst ein offenes Geheimnis. Auch privat ist er mitunter sehr großzügig. So schenkte er zum Beispiel nach dem Abschluss der Dreharbeiten von „Matrix“ jedem seiner zwölf Stuntmen jeweils eine Harley-Davidson. Bei anderen Filmen kürzte er sogar sein eigenes Schauspiel-Honorar, damit andere Darsteller wie Al Pacino oder Gene Hackman engagiert werden konnten. Und ohne mit der Wimper zu zucken, reduzierte er seinen Anteil am Einspielergebnis der „Matrix“-Fortsetzungen, damit die Produktion sich zusätzliche Spezialeffekte leisten konnte. Man munkelt, es habe sich dabei um rund 40 Millionen Dollar gehandelt.
Keanu Reeves ist nicht nur der „Gute Mensch von Hollywood“, sondern auch einer der fleißigsten. In seiner vier Jahrzehnte umspannenden Karriere war er in knapp 80 Filmen zu sehen. Manchmal drehte er bis zu fünf abendfüllende Kinofilme pro Jahr. Mr. Reeves, sind Sie etwa ein Workaholic? Die Antwort kommt prompt: „Wieso Workaholic? Es ist nun einmal mein Job, Filme zu machen. Haben Sie schon mal einem Banker oder Autoverkäufer diese Frage gestellt? Das ist das, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Und ich bin sehr froh, dass ich nach den vielen Jahren immer noch die Möglichkeit dazu habe.“
Noch eine Frage an den heute 58-Jährigen brennt uns auf den Nägeln: Lebt man im Alter eigentlich weniger intensiv als früher? Keanu Reeves schüttelt den Kopf: „Eher im Gegenteil. Man hat doch viel mehr Erfahrung. Und ich lasse es mir auch im Alter nicht nehmen, gelegentlich über die Stränge zu schlagen. Oder Dinge zu tun, die man gemeinhin nur jungen Menschen zuschreibt. Zum Beispiel exzessives Motorradfahren oder bei einem Eishockey-Match im Tor zu stehen. Von den körperlich megaanstrengenden Stunts in meinen ‚John Wick‘-Filmen ganz zu schweigen.“
„Liebe steht an erster Stelle“
Apropos „John Wick“: Wie ein so sanftmütiger, empathischer und spiritueller Mann eine derart ultrabrutale, nihilistische Killer-Maschine wie John Wick spielen kann, wird uns ein ewiges Rätsel bleiben. Lebt er so seine dunkle Seite aus? Hält er auf diese Weise seine Dämonen in Schach? Oder äußert sich hier eine etwas verspätete Midlife-Crisis? „Nein, nein“, lacht er, „die hatte ich schon mit 40! Mit 40 fühlte ich mich von einem Tag auf den anderen nutzlos und alt. Damals habe ich zum ersten Mal ernsthaft über die eigene Sterblichkeit nachgedacht. Natürlich wusste ich schon als Kind, dass man stirbt. Aber da ist der Tod noch so weit weg … Mit 40 dachte ich: Hey, du stirbst irgendwann mal tatsächlich! Mit 50 freute ich mich dann einfach, dass ich noch am Leben war. Und jetzt denke ich schon, dass ich auch meinen 60. Geburtstag feiern werde.“ Und Keanu Reeves setzt noch eins drauf: „Das Älterwerden hat ja auch Vorteile. Mit der Zeit erkennt man immer besser das wirklich Wichtige im Leben. Für mich ist das die Liebe. Liebe durchdringt alles – man liebt Menschen, Orte, Dinge – die Welt. Und um Ehre und Respekt zu erlangen, muss man auch Liebe geben. Liebe steht für mich ganz eindeutig an erster Stelle.“