Ein belgisches Start-up hat eine neuartige Mischung aus Ketten- und Nabenschaltung entwickelt und preist dies als Game-Changer für den Radsport. Experten sind skeptisch, doch dieses Mal könnte es anders laufen, effizienter, schneller, leiser. Stirbt der Umwerfer aus?
Für Technik-Freaks, die sich mit Fahrradschaltungen befassen, wäre dies ein Knaller: 150 Millisekunden, einen Hauch länger als ein Wimpernschlag, benötigt das Planetengetriebe in der Hinterradnabe für den Gangwechsel. Das versichert Mathias Plouvier, Geschäftsführer beim belgischen Start-up Classified Cycling, und spricht von der „derzeit effizientesten Antriebsnabe in der Fahrradbranche". Eine Ansage, die ihm Fahrradexperten ohne unabhängige Prüfung erst einmal nicht abnehmen. Denn bislang galten vergleichsweise lange Verzögerungen beim Gangwechsel für Getriebenaben als bauartbedingt typisch.
Die sogenannte Powershift-Nabe, um die es geht, ein elektronisch gesteuertes Planetengetriebe in der Hinterradnabe, ist das Herzstück der Fahrradschaltung. Sie macht den Umwerfer überflüssig, virtualisiert ihn, wodurch auch das zweite Kettenblatt überflüssig wird. Der Umwerfer indes beschert dem Radrennsport noch immer die so notwendige Feinabstimmung der Gänge bei zugleich großer Übersetzungsbandbreite. Doch er ist anfällig und provoziert immer wieder Schaltfehler. Abwürfe der Kette und deren Durchrutschen beim Antritt kommen vor. In die Geschichte eingegangen ist zum Beispiel ein Vorfall bei der Tour de France 2010, als dem luxemburgischen Radrennfahrer Andy Schleck die Kette absprang und der Spanier Alberto Contador dadurch das Gelbe Trikot erobern konnte. „Im Renneinsatz war der vordere Umwerfer für die zwei bis drei vorderen Kettenblätter immer ein Thema", sagt Dirk Zedler, Geschäftsführer des Zedler-Instituts für Fahrradtechnik und -sicherheit in Ludwigsburg.
„Profis spüren die Vorteile sofort"
Kettenabwürfe durch den Umwerfer schließt das Classified-System aus. Wartungs- und verschleißarm sei der verkapselte virtuelle Umwerfer gegenüber der offenliegenden Mechanik der vorderen Schaltvorrichtung ohnehin, heißt es am Firmensitz im belgischen Turnhout. Was das System zur Hybridschaltung macht: Das Planetengetriebe teilt sich die Übersetzungsarbeit der Gangwechsel mit einem selbst entwickelten passenden Ritzelpaket, auf dem ein herkömmliches Schaltwerk die Kette versetzt – Naben- und Kettenschaltung werden kombiniert.
Vom Grundsatz her revolutionär ist die Idee jedoch nicht. „Die Kombination von Ketten- und Nabenschaltung ist nicht neu", sagt Roland Huhn vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) in Berlin. Bereits 1985 habe Sachs mit der Orbit-Schaltung ein vergleichbares Duo mit 2 x 6 Gängen auf dem Markt gehabt. Der Hersteller warb: „Die Sachs-Orbit-Nabe ersetzt das zweite vordere Kettenblatt mit dem schwierig zu bedienenden Kettenwerfer." Aus den 90ern stamme zudem ein Zweiganggetriebe am Tretlager zur Kombination mit einer Kettenschaltung des Schweizer Herstellers Schlumpf, sagt Huhn.
Doch es gibt einen Unterschied. Während Sachs seinen Kunden vorrangig mehr Komfort zulasten des Wirkungsgrades bieten wollte und sich bei Schlumpf der Sporteinsatz von vornherein ausschloss, da die Nabenschaltung mit einem Rücktritt zu betätigen war, will Classified auf den Olymp: Das System sei vom Welt-Radsport-Verband UCI für dessen Rennen zugelassen, sagt Plouvier. Und ehemalige Radrennfahrer wie Marcel Kittel trauen ihm eine technologische Zäsur im Rennbetrieb zu. „Ich bin davon überzeugt, dass Classified eine Technologie am Rad geschaffen hat, die der Einführung der Scheibenbremse oder der elektronischen Schaltung gleichkommt", teilt der mehrfache Etappensieger bei der Tour de France schriftlich mit. Kittel sowie andere ehemalige Profis sind bei Classified eingestiegen und haben in das Unternehmen investiert – nach dessen Angaben mit „nicht nur symbolischen" Beträgen.
„Profis spüren sofort die Vorteile des Systems", sagt Classified-Geschäftsführer Plouvier und verspricht für die Nabe allein einen Wirkungsgrad von 99 Prozent. Ungewöhnlich hoch wäre das für ein Planetengetriebe, in dem viele Zahnräder ineinandergreifen. Das Gesamtsystem samt Kassette und Schaltwerk sei effizienter als ein Standard-Set-up bei Rennrädern mit zweifachem Kettenblatt.
Millionen-Summe für Entwicklung
Eine Behauptung, die ADFC-Fachmann Roland Huhn kaum glauben kann. Die seit Jahren unangefochtene und in der Fachliteratur sogenannte „Königin der Nabenschaltungen", die Rohloff 500/14, komme auf einen Wirkungsgrad von „besser als 90 Prozent" und damit an Kettenschaltungen nicht heran. Zudem sei die Kettenlinie „als mögliche Verlustquelle bei nur einem Kettenrad noch stärker verschoben als bei einem Zweifach-Kettenblatt" – wenn man dieses fachgerecht bediene, also mit dem kleinen Kettenblatt die größeren Ritzel nutze und umgekehrt, also nicht „über Kreuz" schalte.
Doch Plouvier hält dagegen: Schiefe Kettenlinien gehörten per se der Vergangenheit an, da das verbliebene vordere Kettenblatt so positioniert sei, dass man sowohl das größte als auch das kleinste Ritzel der Kassette problemlos erreichen könne. Hinzu kommt laut Classified, dass man die Nabe in der Praxis öfters nutzen werde, da sie so schnell sei – was das „Über Kreuz"-Schalten unwahrscheinlicher mache. Und weil es kein kleines Kettenblatt mehr gibt, seien auch dessen Effizienzverluste getilgt: Rotiert die Kette auf einem kleinen Kettenblatt, ist die Kettenspannung höher, was zu mehr Reibungsverlusten führt. Dies entfalle beim Classified-System, sagt Plouvier. Zugleich wiege das System weniger als ein Standard-Zweifach-System.
Über sieben Jahre haben die Entwickler von Classified Cycling an dem Powershift-System gearbeitet, eine „achtstellige Summe" in das Projekt gesteckt und etliche Patente erhalten. Federführend war Roëll van Druten, einst Chefingenieur bei Punch Powertrain, ein auf CVT- und Doppelkupplungsgetriebe spezialisierter belgischer Automobilzulieferer, heute Technischer Direktor bei Classified. Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass sich die Kerntechnologien des Antriebsstrangs am Fahrrad in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert haben, sagt Plouvier: „Vor dem Hintergrund eines Duopols – Shimano und Sram – und einer sehr starken Konkurrenz, die weltweit sehr gute Produkte herstellt, musste das Produkt absolut perfekt sein."
Experten wie Dirk Zedler sind allerdings skeptisch: „Vollmundige Aussagen würde ich bis zum Beweisantritt mit Vorsicht genießen." Getriebenaben seien bis dato bei allen Vergleichstests im Abgleich zu ordentlich gewarteten Kettenschaltungen ineffizienter gewesen. Daher seien auch alle Versuche, Getriebenaben im Sport zu etablieren, bisher gescheitert.
Der Fahreindruck spricht allerdings dafür, dass was dran sein könnte an den Behauptungen von Classified. Wir konnten das System an einem Gravelbike von Ridley ausprobieren. Nahezu im gleichen Moment, in dem man den Schalthebel am Lenker betätigt, ändert das Zwei-Gang-Getriebe über einen Funkempfänger rechts an der Achse die Übersetzung. Das funktioniert nahezu geräuschlos und auch unter Last sehr gut. Wenn man zum Beispiel an Steigungen viel Druck auf die Pedale gibt, wird das virtuelle kleine Kettenblatt, das analog zu einer Kettenblattkombination von einer 1:1- zu einer 0,7:1-Übersetzung wechselt, schnell und ohne Murren aktiviert.+
Konkurrenz zurückhaltend
Das Schalten am Ritzel hinten fühlt sich indes unspektakulär gut und so geschmeidig an wie mit hochwertigen Kettenschaltungen von Shimano oder Sram. Dass Classified eine eigene Kassette entwickeln musste, die zur Nabe passt, scheint der Schaltpräzision und -geschwindigkeit der wahlweise mit dem Classified-System kombinierbaren Schaltwerke von Shimano, Sram oder Campagnolo keinen Abbruch zu tun. Ob das Gesamtsystem wie versprochen besonders verschleißarm ist, müsste ein Langzeittest ergeben. Auch „wie effizient das Nabengetriebe von Classified Cycling ist, vermag ich und vermag wohl niemand ohne solide Prüfung nicht zu sagen", sagt Dirk Zedler.
Eine andere präzise Angabe lässt sich indes machen: 2.599 Euro kostet allein das Classified-System – ohne Fahrrad und die restlichen Schaltkomponenten! Dafür erhält der Kunde die Lenkereinheit mit Bluetooth-Transmitter, Empfangseinheit, Getriebenabe, Ritzelpaket sowie einen speziellen, handgefertigten Carbon-Laufradsatz – denn das Hinterrad muss an die Nabe angepasst sein. Das ist viel Geld, lässt sich aber ein bisschen relativieren: Carbon-Laufräder kosten selbst oft schon über 1.000 Euro, und auch die aus einem Stück Stahl gefräste Kassette ist mit 300 Euro alles andere als ein Billigteil.
Wobei es inzwischen eine Neuerung gibt, wie das Unternehmen mitteilt: „Wir vermarkten die Powershift-Technologie jetzt als eigenständiges Produkt. Das bedeutet, dass man keinen klassifizierten Laufradsatz mehr kaufen muss, sondern die Powershift-Nabe nur noch als eigenständiges Produkt kaufen kann. Es heißt Powershift Kit und beinhaltet die Nabe, die smarte Steckachse, die Lenkereinheit und eine Kassette Ihrer Wahl."
Neue Kunden kooperieren ebenfalls bereits mit Classified Cycling, wie es weiter heißt: „Wir haben Partnerschaften mit führenden Radmarken geschlossen, die Powershift-fähige Räder vermarkten werden. Die ersten sieben Partner sind Enve, DT Swiss, Mavic, Reynolds, FFWD, Boyd und Spinnergy. Weitere werden noch bekannt gegeben. Im Grunde bedeutet dies, dass Powershift jetzt breiter verfügbar ist und von der Industrie als neuer Antriebsstrangstandard akzeptiert wird."
Alles in allem erscheinen die Komponenten auf den ersten Eindruck hochwertig und ausgefeilt. Wird die Konkurrenz von Campagnolo, Sram oder Shimano mit ähnlichen Konzepten nachziehen? Auf Nachfrage mauert der Generalimporteur des Weltmarktführers Shimano: „Wir äußern uns grundsätzlich niemals und in keiner Weise zu möglichen – oder eben nicht möglichen – Entwicklungen oder neuen Produkten in der Zukunft." Das klingt eindeutig zweideutig.