Kriminalpsychologin Lydia Benecke beschäftigt sich in Büchern und ihrem Podcast vor allem mit Serienkillern. Im Interview spricht die 41-Jährige über die Unterschiede zwischen mordenden Frauen und Männern, was Serienmörder antreibt und warum es vorkommt, dass Menschen in heilenden Berufen Patienten töten.
Frau Benecke, ist es wahrscheinlich, einem Serienmord zum Opfer zu fallen?
Es ist enorm unwahrscheinlich. Ganz im Gegensatz zu ihrer Präsenz in den Medien sind Serienmorde ein seltenes Phänomen, das seit Jahrzehnten abnimmt. In den USA gab es einen starken Anstieg dokumentierter Serienmordfälle ab den 1960er- bis in die 1980er- Jahre. Seit den 1990ern fällt die Rate wieder deutlich ab. Auch in Deutschland ist nicht nur die Anzahl der Serienmorde, sondern die Anzahl der Morde insgesamt seit drei Jahrzehnten deutlich rückläufig. Das ist für viele überraschend, was hauptsächlich mit Medienkonsum zusammenhängt. Da es bis in die 1990er deutlich weniger verfügbare Medien und noch kein allgemein verfügbares Internet gab, bekamen die Menschen viele Verbrechen nicht mit. Inzwischen gibt es unzählige Medien, in denen häufig über Verbrechen berichtet wird. Dadurch haben Menschen den Eindruck, es gäbe mehr Tötungsdelikte als vor Jahrzehnten, obwohl das Gegenteil der Fall ist.
Haben serienmordende Menschen besondere Eigenschaften?
Viele serienmordende Menschen haben eine Mischung von Eigenschaften gemeinsam: Sie sind sehr auf sich und ihre eigenen Bedürfnisse konzentriert, weisen ein Defizit in den Bereichen Mitgefühl und Schuldgefühl auf und sind risikobereit. Auf der Grundlage entsprechender Eigenschaften fällt es ihnen leicht, zu entscheiden, Menschen zu töten, um ihre jeweiligen Bedürfnisse zu befriedigen.
Ist die Grundlage dafür, Serienmorde zu begehen, angeboren?
Menschliches Verhalten ist stets das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung von biologischen Faktoren und Umweltfaktoren. Es wird also niemand als Serienmörderin oder Serienmörder geboren.
Wodurch wird eine solche Entwicklung denn begünstigt?
Bei der Entwicklung der Persönlichkeit und auch der jeweiligen Motive für die Mordserie spielen ungünstige Faktoren in der Kindheit und Jugend eine relevante Rolle: emotionale, körperliche oder sexuelle Misshandlungen. Allerdings begehen natürlich die allermeisten Menschen mit entsprechend ungünstigen Faktoren in ihrem frühen Leben keine schweren Straftaten. Eine „schwere Kindheit“ ist auch keine Entschuldigung. Doch die internationale Datenlage belegt, dass bei einer kleinen Gruppe von Menschen entsprechende Misshandlungen ein relevanter Auslösefaktor für die Entwicklung hin zur Begehung schwerer Straftaten wie im Ex-tremfall auch Serienmord sind.
Gibt es mehr Serienmörder als Serienmörderinnen und was unterscheidet sie?
Nur ungefähr 16 Prozent aller Serienmorde werden von Frauen begangen. Serienmörderinnen töten zumeist Familienangehörige oder Personen, die sie im Rahmen ihres Pflegeberufes versorgen. Im Unterschied hierzu töten Serienmörder meist ihnen unbekannte Personen. Serienmörderinnen töten häufiger aus Habgier, Serienmörder häufiger aus sexuellen Motiven.
Warum töten manche Menschen immer wieder?
Grundsätzlich merken Menschen, die Serienmorde begehen, dass sie durch ihre Taten irgendein starkes, persönliches Bedürfnis befriedigen können. Menschen tendieren dazu, Verhalten zu wiederholen, das für sie einen belohnenden Effekt hat. Serienmorde werden begangen, weil die Person lernt, eines oder mehrere Bedürfnisse immer wieder auf diese Weise zu befriedigen. Manche Menschen können nach mehreren Morden aber auch entscheiden, für eine Weile oder dauerhaft mit dem Morden aufzuhören.
Welche Bedürfnisse befriedigen Menschen durch das Begehen von Serienmorden?
Es gibt unterschiedliche Motive und Motivkombinationen. Die seit den 1980er-Jahren von Ronald M. Holmes gemeinsam mit Kollegen erarbeitete Typologie von Serienmorden nach Motiven unterteilt, ist bis heute international sehr bekannt. Auch wenn sie wissenschaftlich durchaus umstritten ist, bietet diese Typologie einen gut verständlichen Überblick der Motivvielfalt, die dem Phänomen Serienmord zugrunde liegen kann. Demnach gibt es vier übergeordnete Motivgruppen: den „visionären“, den „an einer Mission orientierten“, den „hedonistischen“ und den „nach Macht und Kontrolle strebenden“ Typus.
Was versteht man unter dem „visionären“ Typus?
Der „visionäre“ Typus hat Wahnvorstellungen, manchmal auch Halluzinationen. Das bedeutet, dieser Mensch kann aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung die Realität nicht mehr richtig einschätzen, merkt aber nicht, dass es so ist. Im Rahmen der Wahnvorstellungen ist dieser Typus überzeugt davon, eine höhere Macht wie Gott oder Dämonen würden ihn dazu drängen, bestimmte Menschen zu töten. Der „visionäre“ Typus ist der einzige Serienmord-Typus, der aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung die Realität nicht richtig wahrnehmen kann. Er kommt insgesamt sehr selten vor. Außerdem ist wichtig zu betonen, dass die allermeisten Menschen mit einer entsprechenden psychischen Erkrankung keinerlei Gewalttaten begehen.
Und was macht den „an einer Mission orientierten“ Typus aus?
Im Unterschied zum „visionären“ Typus kann der „an einer Mission orientierte“ Typus die Realität völlig klar wahrnehmen. Er hegt eine starke, persönliche Abneigung gegen eine Personengruppe und will möglichst viele Menschen dieser Gruppe töten. Diese Gruppe kann beispielsweise durch ihren Lebensstil, ihre Religion, Sexualität, Herkunft oder irgendein Merkmal in den Fokus des „an einer Mission orientierten“ Typus kommen. Dieses Merkmal wird von der mordenden Person als außerordentlich negativ und daher zerstörenswert eingestuft. Dies kann die Person beispielsweise mit politischen oder religiösen Überzeugungen zu begründen versuchen. Im Unterschied zum „visionären“ Typus hat der „an einer Mission orientierte“ Typus nicht den Eindruck, eine höhere Macht dränge zu den Taten. Ganz im Gegenteil handelt die Person hier aus eigener, persönlich empfundener Abneigung und Überzeugung.
Was motiviert den „hedonistischen“ Typus?
Der „hedonistische“ Typus tötet zum Vergnügen. Seine Persönlichkeit ist auf die eigene Bedürfnisbefriedigung fokussiert, andere Menschen sind für ihn nur Mittel zum Zweck, nicht mehr als Objekte. Dieser Typus wird abhängig von seiner Hauptmotivation in drei Untergruppen aufgeteilt: Lust, Kick und Bequemlichkeit. Der „hedonistische Lust-Typus“ strebt nach sexueller Befriedigung. Er hat eine konkrete sexuelle Fantasie, die er im Rahmen seiner Taten immer wieder möglichst perfekt umzusetzen versucht.
Und den „nach Macht und Kontrolle strebenden“ Typus?
Im Zentrum der Motivation dieses Typus steht die Macht über Leben und Tod seiner Opfer. Totale Kontrolle über einen hilflos ausgelieferten Menschen ausleben zu können, ist der Kern der Fantasie. Die Fantasie kann, muss aber nicht, sexuelle Komponenten beinhalten. In der Realität finden sich häufig Überschneidungen der genannten Motive, sodass jeder Fall individuell betrachtet werden muss.
Besonderes Aufsehen erregen Fälle, in denen Menschen in heilenden Berufen Patienten töten, wie zum Beispiel Irene Becker. Welche Motive haben solche Täter?
Einige dieser Täter überzeugen sich selbst davon, sie würden aus Mitgefühl handeln. Das ist natürlich eine sehr effektive Selbstrechtfertigung, hinter der auch andere Motive verborgen sein können. Beispielsweise das Ausleben von Aggressionen, vielleicht sogar einer gewissen Verachtung gegenüber denjenigen, die gepflegt werden sollen. Einige der Täter wollen Aufmerksamkeit, indem sie Krankheitssymptome auslösen, um sich dann gegenüber Ärzten und Kollegen als besonders fachkompetent zeigen zu können. Andere suchen eine Inszenierung über akute Notsituationen, die sie auslösen, um dann als kompetente Lebensretter dazustehen. Manchmal spielt auch nicht nur das Bedürfnis nach Kontrolle über die Patienten, sondern auch über die Kollegen eine Rolle. Einige dieser Motive sieht man auch im Fall von Irene Becker. Sie selbst wollte sich sehen als jemand, der Elend beendet. Gleichzeitig sieht man auch aggressive Motive in ihrem Verhalten, das Bedürfnis nach Kontrolle. Und auch Kontrolle denjenigen gegenüber, mit denen sie arbeitete. Das wird an einer Stelle besonders deutlich, als sie während der Gerichtsverhandlung selbst die Frage aufwirft, wie es denn hätte sein können, dass all das so lange ohne schwerwiegende Folgen für sie geblieben sei.