Vom Zentrum zum Schloss von Versailles und zurück verläuft die Strecke des olympischen Marathons. Statt wie die Athleten über 42 Kilometer weit zu laufen, geht es per Fahrrad vorbei an den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten.
Nicht zu kräftig in die Pedale treten! Denn wer die Gruppe hetzt, muss am Ziel alle auf einen Aperitif einladen. Schnelligkeit ist bei dieser Radtour unwichtig: Das Genießen steht im Vordergrund. Abstecher und Umwege sind nicht nur erlaubt, sondern explizit erwünscht. Schließlich soll es kein hartes Rennen werden, nach dem bei allen die Muskeln brennen. Sondern eine nette Ausfahrt, um entspannt dahin zu rollen und die Stadt mit allen Sinnen wahrzunehmen. Frischluft, Fahrspaß und das Gefühl von Freiheit: Es geht ins Blaue – allez, allez!

Quer durch Paris verläuft unser Ausflug mit dem Fahrrad, vom Rathaus bis zum Schloss von Versailles, dann retour zum Invalidendom. Im Pulk mit vielen Anzug tragenden Pendlern sind wir mitten im Berufsverkehr auf der Rue de Rivoli gestartet. Die führt vorbei am Louvre mit seiner Pyramide im Innenhof, dann zum aus Luxor stammenden Obelisken und geht dann in die Prachtstraße Champs-Élysées über. Schon klar: Das alles sind wirklich keine Geheimtipps, auf den Trottoirs flanieren überall Touristen. Überraschendes gibt es aber auch hier. Wer etwa kennt die Pfarrkirche Saint-Germain-l’Auxerrois gegenüber des Louvre, wo alljährlich an Aschermittwoch der verstorbenen Künstlern der Stadt gedacht wird? Oder wer nimmt sich die Zeit, an der Fassade unter einer dämonenhaften Katze die geheimnisvolle Steinkugel zu finden, aus der Ratten herauskriechen?

Wir werden unseren Proviant weder mit Nagetieren noch mit Stadttauben teilen. Im Lenkerkorb ist reichlich Proviant fürs Picknick: knuspriges Baguette aus der Boulangerie, Käse aus der Fromagerie, Paté und Cornichons vom Traiteur. Bei einem Schlenker zur Place Vendôme kommt man kurz in Versuchung, auch dort einkaufen zu gehen. Leider (oder dankenswerterweise) gibt es dort allerdings keine Möglichkeit, Fahrräder abzustellen. Wahrscheinlich zählen Menschen wie wir, die praktische Funktionskleidung tragen statt feine Stoffe von der Haute Couture, ohnehin nicht zur Zielgruppe der hier ansässigen Edel-Juweliere.
Es geht zum Schloss von Versailles

Mit der Seine zur Linken und der Sonne im Rücken radeln wir vorbei am Palais Garnier über den Cours Albert-Ier. Überall gibt es hier die für Paris so typische Haussmann’sche Prachtarchitektur zu sehen, bei Hausnummer 40 aber auch die Fassade des ehemaligen Ausstellungsraums von Lalique zu bestaunen. Dass der legendäre Glasmeister die Pflanzenornamente im Putz auch in der Eingangstür spiegelt, ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Schwäne lassen sich dann auf der Île aux Cygnes zwar keine blicken, unübersehbar ist aber eine der Pariser Freiheitsstatuen, eingeweiht anlässlich der Weltausstellung 1889. Sie blickt nach Westen, in Richtung der deutlich größeren Schwester jenseits des Atlantiks.

Athleten aus den USA und aus mehr als 150 anderen Nationen werden hier bald bei sportlichen Wettkämpfen aufeinandertreffen. Zum dritten Mal nach 1900 und 1924 richtet Paris nun die Olympischen Sommerspiele aus. Nicht alle Wettkämpfe finden dabei innerhalb der Stadtgrenzen statt. Vor Marseille wird gesegelt, vor Tahiti gesurft; die Fußballspieler kicken mal in Nantes, mal in Nizza. Die Mehrzahl der 10.500 Teilnehmer wird allerdings in verschiedenen Arenen im Großraum Paris antreten, vom Parc des Princes im Westen bis zum Stade de France im Nordosten. Bei einer Disziplin, dem Marathon, präsentiert sich dann die Stadt als Ganzes und von ihrer schönsten Seite.

Wo wir heute radeln, werden bald viele Ausdauersportler rennen: Die Strecke des olympischen Marathons führt vom Rathaus zum Schloss von Versailles und zurück ins Zentrum, vorbei an ikonischen Attraktionen wie dem Eiffelturm. Zum Erleben des Sportspektakels und zum Anfeuern der Athleten braucht es kein Ticket. „Es war uns ein wichtiges Anliegen, den Sport in das Herz der Stadt zu bringen“, heißt es aus dem Internationalen Olympischen Komitee: „Der Kurs vereint das einzigartige kulturelle und architektonische Erbe der Stadt mit Sport.“
Vielerorts gibt es sichere Radwege

An der Länge (exakt 42,195 Kilometer) haben die Organisatoren natürlich nichts geändert, nur den zeitlichen Ablauf variiert. Statt wie üblich die Männer, werden es nun die Frauen sein, die bei ihrem Marathon die letzten olympischen Medaillen in der Leichtathletik gewinnen, am Schlusstag der Spiele. Der Bruch mit der Tradition ist kein Zufall. Die Streckenführung hat einen Bezug zur französischen Geschichte, ebenso der Fokus auf die weiblichen Athleten. Am 5. Oktober 1789 waren mehrere tausend Frauen nach Versailles marschiert, wo sich König Ludwig XIV. verschanzt hatte. Es war der Anfang vom Ende seiner Herrschaft von Gottes Gnaden: Wenige Monate nach dem Sturm auf die Bastille zwangen Marktweiber den Monarchen zur Rückkehr nach Paris. Er unterschrieb, was er zuvor abgelehnt hatte – die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.
Wer die Marathonstrecke ablaufen will, braucht ziemlich fitte Füße. Doch Paris lässt sich auch einfach per Fahrrad entdecken, wenn man nicht gerade den Hügel von Montmartre erklimmen will. Zweibeiner auf zwei Rädern, das ist in Paris kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Früher musste noch um sein Leben fürchten, wer die Unverschämtheit besaß, sich die Straße mit Autofahrern teilen zu wollen. Heute hat sich die Stadtverwaltung ambitionierte Ziele gesetzt und vielerorts abgetrennte Radwege geschaffen. Die Umrundung des Triumphbogens fühlt sich zwar weiter an wie eine Partie Russisches Roulette. Andernorts ist es entspannt.

Ein Helm muss ins Reisegepäck. Das eigene Fahrrad mitzubringen wäre aber zu kompliziert. Grün oder blau? Das ist die einzige Entscheidung, die man vor dem Start an einer der Ausleihstationen treffen muss. Für die etwas klobig wirkenden normalen grünen Fahrräder braucht es mehr Muskelkraft, bei den blauen E-Bikes unterstützt der Motor das Vorankommen. Der städtische Anbieter Vélib’ Métropole bietet an gut 1.500 Stationen in Paris und dem Umland mehr als 20.000 Zweiräder. Wer mit der Smartphone-App für fünf Euro den Tagespass bucht, fährt die ersten 30 Minuten gratis und zahlt dann einen Euro pro Stunde. Gut für Gruppen: Über einen Account lassen sich bis zu fünf Räder ausleihen.

Boulogne-Billancourt, Sèvres, Ville-d’Avray: So heißen die Gemeinden jenseits der Stadtgrenze. Bald zeigt das Display, dass wir gut 20 Kilometer bewältigt haben. Am Schloss von Versailles kommen die Leihräder in eine Dockingstation. Obwohl die Wege in Europas größter Palastanlage weit sind, darf man nicht ins Gemach des Sonnenkönigs radeln oder quer durch den geschichtsträchtigen Spiegelsaal preschen. Auch den legendären Schlossgarten mit seinen Rabatten, Grotten und Fontänen entdeckt man zu Fuß. Wer über die vom Landschaftsarchitekten André Le Nôtre entwickelte „Große Perspektive“ blickt, hat das Gefühl, das Wasser auf dem Grand Canal nehme nie ein Ende und reiche bis zum Horizont.
Ein Stall für maximal 2.000 Pferde

Der berühmte Schlossgarten wird neben dem Marathon bald noch für weitere olympische Wettbewerbe als Kulisse dienen: für die Reitsportdisziplinen Dressur, Springen und Vielseitigkeit. Das passt zu Versailles, denn im Sattel fühlte sich einst auch Ludwig XIV. am wohlsten, er hatte ein Faible für feurige Pferde. Als prächtigstes aller Wasserspiele ließ er den Apollon-Brunnen errichten. Vier galoppierende Rösser, die Mähnen vom Wind verwirbelt, ziehen hier den Sonnenwagen des Gottes. Rechtzeitig wurde die Restaurierung der Skulpturen abgeschlossen: Dank 35.000 Blattgoldfolien strahlt das 35 Tonnen schwere Ensemble nun wieder so prächtig wie zur Einweihung im 17. Jahrhundert. Erschlagen von dem Übermaß an Glanz und Gloria, flüchtet man in die Stallungen der Grande Écurie du Roi. Im Marstall, errichtet in der Form eines Hufeisens für maximal 2.000 Pferde, standen seit Napoleons Herrschaft keine Tiere mehr.
Dass es dort nun wieder nach Heu und Pferdemist riecht, liegt am Künstler Bartabas. In seiner Akademie macht er junge Leute sattelfest in der Dressur, übt mit ihnen das Singen von Chorälen, bringt ihnen das Fechten bei und Kyudu, japanisches Bogenschießen. Das alles mündet in einer neuen Kunstform, die es so vielleicht nur an einem magischen Ort wie Versailles geben kann: Die von Lüstern beleuchtete Manege wird zum Schauplatz eines märchenhaften Pferdetheaters.