Für Borussia Dortmund war die Deutsche Meisterschaft greifbar. Am Ende fehlte ein Tor. Und die Frage, die sich stellt, ist: Kommt diese Gelegenheit so schnell wieder?
Wohl kein Journalist kennt den FC Bayern München so gut wie Uli Köhler. Der aktuell für Sky arbeitende Reporter berichtet seit Jahrzehnten über den deutschen Rekordmeister auf sehr neutrale Weise. Als nach dem letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga dann doch wieder die Münchner als Deutscher Fußball-Meister feststanden und nicht Borussia Dortmund, erklärte Köhler: „Es ist für die Vermarktung der Bundesliga eine Katastrophe, dass nicht Bilder von 400.000 Fans in Dortmund um die Welt gehen, sondern von zehn hupenden Autos auf der Leopoldstraße.“
Sky-Experte Dietmar Hamann stand derweil im Stadion in Dortmund und hatte das Drama des letzten Spieltags, das in die Liste der legendären Saisonfinals eingehen wird, live vor Ort erlebt. Der BVB hätte gegen den FSV Mainz 05, für den es tabellarisch um nichts mehr ging, den elf Heimsiegen in Folge zuvor einfach einen zwölften folgen lassen müssen, dann wären sie erstmals seit elf Jahren Deutscher Meister geworden und hätten die bayerische Serie von zehn Titeln in Folge enden lassen. Die Bayern führten in Köln schnell mit 1:0, dann lag der BVB plötzlich mit 0:2 zurück und hatte noch einen Elfmeter verschossen.
Reus wartet auf den Titel
In der zweiten Halbzeit kam Dortmund auf 1:2 heran und nach dem Ausgleich der Kölner neun Minuten vor Schluss wären sie plötzlich mit Schützenhilfe Meister gewesen. Doch die Münchner schlugen in der 89. Minute zurück, das 2:2 in der sechsten Minute der Nachspielzeit nutzte dem BVB nichts mehr. Die Bayern jubelten wieder mal, beim BVB flossen unzählige Tränen. Nicht nur beim untröstlichen Marco Reus.
Der gebürtige Dortmunder war ausgerechnet 2012, nach dem letzten BVB-Titel, zu seinem Heimatverein zurückgekehrt und läuft seitdem dem Titel hinterher. Und so greifbar war er noch nie gewesen.
Das stellte eben auch Hamann fest, der auch als ehemaliger Bayern-Profi sichtbar Mitleid mit den Dortmundern hatte. Aber eben auch mit der Härte und Schärfe eines Experten analysierte. „Was sollen die Bayern denn noch machen“, fragte er: „Die Tür war sperrangelweit offen.“ Und in Köln gab Thomas Müller, mit zwölf Meistertiteln der erfolgreichste Spieler der Bundesliga-Geschichte, zu: „Ich weiß, dass es sogar Bayern-Fans gibt, die sagen, dass wir es dieses Jahr nicht verdient haben.“
Als wir uns im vergangenen Sommer an dieser Stelle dem Titelkampf widmeten, zitierten wir das oft genutzte Zitat: „Wenn die Bayern schwächeln, musst du da sein.“ Nun, die Bayern schwächelten tatsächlich dieses Jahr. So sehr, dass sie einen Trainer entließen – auch wenn der Zeitpunkt der Trennung von Julian Nagelsmann höchst fraglich war. So sehr, dass sie sich am Saisonende von Vorstandsboss Oliver Kahn und Sportchef Hasan Salihamidzic trennten. Und so sehr, dass Ur-Bayer Müller die Saison als „brutales Chaos“ bezeichnete. Da darf man gerne Hamann zustimmen: Was hätten die Bayern denn noch machen sollen?
Ganze 71 Punkte holten sie in dieser Spielzeit, bei den zehn Titeln davor waren es immer mindestens 77 gewesen. Nur 21 Siege holten sie, zuvor waren es immer mindestens 24 gewesen. Sie verloren in Augsburg, Mönchengladbach, Leverkusen und Mainz sowie erstmals zu Hause gegen RB Leipzig. Und sie gaben zu Hause auch gegen Teams aus der unteren Tabellenhälfte wie Stuttgart, Köln oder Hoffenheim Punkte ab. Vor allem aber: Sie versprühten durch ihre Leistungen auf dem Feld – vor allem in der Rückrunde – sowie viel Theater außenrum nie das Gefühl, in diesem Jahr souverän, unantastbar und unbezwingbar zu sein. Das war die Chance für alle anderen. Und wer weiß, wann sie wiederkommt.
Schlechter Start der Borussia
Warum also ist der BVB nicht durch diese sperrangelweit offene Tür durchgegangen? Dafür lassen sich vorrangig vier Gründe festhalten: Verletzungspech, eine schwache Hinrunde, kuriose Aussetzer und Nervenschwäche. Aber der Reihe nach: Da war zuerst der Schock der Hodenkrebs-Erkrankung von Sébastien Haller in der Sommer-Vorbereitung. Der als Nachfolger von Erling Haaland geholte Torjäger fehlte im kompletten ersten Saisonteil, wurde aber gesund und arbeitete sich beeindruckend zurück. Hinzu kamen viele Verletzte, vor allem in der ersten Saisonhälfte. Nur der FC Augsburg hatte bis Dezember mehr Ausfälle zu beklagen als die Dortmunder, die eigentlich im Sommer extra den athletischen Bereich umgestellt hatten, um das nach der Erfahrung der Vorjahre zu vermeiden.
Deshalb, aber eben nicht nur deshalb, verliefen die 15 Spieltage bis zur WM größtenteils enttäuschend. Dortmund war als Sechster mit sechs Niederlagen in den Winter getaumelt, und Trainer Edin Terzic hatte festgestellt: „Wir starten nicht bei null, wir starten bei Minus.“ In der Rückrunde schaffte der Trainer es aber, die immer wieder angesprochenen Mentalitäts-Defizite seines Teams gut in den Griff zu bekommen. Haller kam mehr und mehr in Form, an seiner Seite blühten Karim Adeyemi und Donyell Malen, die bis Weihnachten fast unglaublicherweise beide komplett ohne Tor geblieben waren, merklich auf. Am Ende der Saison hatten Malen und Haller je neun Treffer, Adeyemi kam immerhin auf sechs. In Verbindung mit den Schwächen der Bayern rückte der BVB immer näher ran.
Dass es trotzdem nicht reichte, lag eben an den beiden verbliebenen Gründen. Den Aussetzern und der Nervenschwäche. Da bleibt vor allem das 3:3 in Stuttgart hängen, als die Dortmunder in Überzahl zwei Treffer in der Nachspielzeit kassierten. Und Terzic mit Blick auf das 2:3 in der Hinrunde gegen Bremen, als der BVB als erster Bundesligist trotz einer 2:0-Führung bis zur 88. Minute noch verloren hatte, knallhart feststellte: „Wir dachten, dass wir schon das Dümmste erlebt haben. Aber das hier heute toppt das noch einmal.“ Hinzu kamen in der Rückrunde außer dem Spiel gegen Mainz mindestens drei weitere fatale Erlebnisse: das 2:2 auf Schalke nach zweimaliger Führung. Das 1:1 in Bochum mit einem nicht gegebenen klaren Elfmeter. Und das 2:4 bei den Bayern im direkten Duell, als es schon nach einer halben Stunde wieder mal 0:3 stand. Das Nervenflattern lässt sich mit einer Statistik klar stützen: Viermal waren die Dortmunder in der Rückrunde schon an den Bayern vorbei. Alle vier Spiele als Tabellenführer gewannen sie nicht. Und in allen vier Fällen waren sie nach einer Woche schon wieder Zweiter. So kann man kein Meister werden.
Dortmund verlor die Nerven
Und das traf zum Glück für die Bayern in diesem Jahr auch auf die anderen potenziellen Verfolger zu. RB Leipzig, das am Saisonende nur fünf Punkte Rückstand auf das Top-Duo hatte, war schwach gestartet und musste wochenlange Verletzungen seiner beiden Top-Spieler Christopher Nkunku und Dani Olmo verarbeiten. Leverkusen, das viele nach Platz drei im Vorjahr ebenfalls auf dem Schirm hatten, vergeigte ebenfalls den Start und war im Oktober Vorletzter. Die Aufholjagd unter Trainer Xabi Alonso reichte nur noch für Platz sechs.
Und damit stellt sich die Frage aller Fragen: Wenn die Bayern schon in einer solchen Saison den elften Meistertitel in Folge holen, wann soll sie denn bitte dann wer ablösen? Da fällt einem wieder der Satz ein von den Kindern, die nie einen anderen Deutschen Meister erlebt haben. Der ernüchterte Terzic stellte ebenso treffend wie ein wenig fatalistisch fest. „Wir waren 90 Minuten davon entfernt, die Meisterschale nach Dortmund zu holen. Am Ende waren wir ein Tor entfernt. Ab morgen sind wir wieder 34 Spieltage davon entfernt.“
Der Weg ist also weit. Doch am Ende bleibt ja sowieso ein weiterer ebenso platter wie richtiger Schlagsatz stehen: Ob die Bayern Meister werden oder nicht, entscheiden am Ende immer die Bayern. Beziehungsweise, ob sie die Tür aufmachen oder nicht. Und normalerweise dürfte die Hoffnung der neutralen Fans auf ein erneutes Schwächeln des Serienmeisters in der kommenden Saison gering sein. Es gibt zwar viel aufzuarbeiten in München und man muss schauen, ob das alles funktioniert. Doch so viel Unruhe werden sie kaum noch mal haben. Die Schwächen im Kader und Umfeld sind diesmal so deutlich aufgetreten, dass man sie gut lokalisieren und normalerweise auch beheben kann. Und Trainer Thomas Tuchel, den trotz der Talfahrt in seiner Amtszeit kaum jemand als den Schuldigen ausmachte, hat nun eine ganze Vorbereitung, in der er das Team auf seinem Weg hinter sich bringen kann. Ganz abgesehen davon, dass der Ehrgeiz der Münchner angestachelt ist. Damit es im nächsten Jahr nicht wieder unter den eigenen Fans welche gibt, die den Titel für unverdient halten.
Aber immerhin: Die Dortmunder haben gezeigt, dass sie konkurrenzfähig sein können. Sie haben in der Rückrunde gut gespielt, auch enge Siege erkämpft. Wenn sie wieder aufstehen und sich vom finalen Schock erholen, könnte es nächstes Jahr vielleicht doch wieder einen echten Meisterkampf geben.