Der Oberlandkanal in Masuren ist ein technisches Meisterwerk und eine weltweit einmalige Touristenattraktion. Und die Tour über den Kanal in der reizvollen Landschaft der Masurischen Seenplatte ist wie eine Reise in eine andere Welt.
Das gibt es doch nicht! Staunend bleiben Passanten stehen und schauen fassungslos auf das, was sich da gerade vor ihren Augen abspielt: Gemächlich rollt ein Schiff auf sie zu, bedächtig rumpelt es einen Berg hinauf. Auf Schienen! Kaum ist es auf der Kuppe angekommen, rollt es noch ein paar Meter geradeaus über die Wiese, um dann sanft zurück ins Wasser zu gleiten und langsam seinen Weg im Kanal fortzusetzen, so, als wäre nichts gewesen.
Die Zaungäste bewundern gerade eine Welt-Einmaligkeit, eine ingenieurtechnische Meisterleistung, die der Region vor mehr als 160 Jahren neuen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichte und den Weg zur Ostsee und damit in die große weite Welt enorm verkürzte: den Oberlandkanal. Obwohl er heute keine wirtschaftliche Bedeutung mehr hat, so verlor er doch nichts an Beachtung. Als Touristenattraktion in einer ohnehin besonders reizvollen Landschaft Polens, der Masurischen Seenplatte.
Der Oberlandkanal verbindet auf einer Strecke von knapp 130 Kilometer mehrere Seen und Städte in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren – führt von Iława (früher Eylau) über Ostróda (Osterode) bis Elblag (Elbing) zum Frischen Haff, das seit dem 17. September 1922 über den Kanal durch die Frische Nehrung mit der Ostsee verbunden ist. Den größten Teil der Strecke ist er ein ganz normaler Kanal, umso spektakulärer jedoch sind die rund neun Kilometer zwischen Buczyniec (Buchwalde) und Całuny (Kussfeld), auf denen die Schiffe einen Höhenunterschied von 99,5 Meter ü.NN auf 0,3 Meter ü.NN überwinden müssen. Mit Schleusen allein ist das nicht möglich, deswegen verlassen die Schiffe fünfmal kurzzeitig ihr natürliches Element und legen ein Stück des Weges auf dem Land zurück. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts funktioniert das problemlos.
Die Idee zum Bau eines Kanals, der Ostpreußen mit der Ostsee verbindet, gab es indes schon seit dem Mittelalter. Konkret jedoch wurde die Sache erst Anfang des 19. Jahrhunderts nach den verheerenden napoleonischen Kriegen. Das Land war verwüstet, nach neuen Möglichkeiten für einen wirtschaftlichen Aufschwung der Region wurde gesucht. Der bisherige Wasserweg, um die reichen Holzvorkommen und landwirtschaftliche Produkte, insbesondere Getreide in Richtung Ostsee zu transportieren, war weit und unwirtschaftlich. Ein Kanal zwischen Eylau und Elbling würde den Transportweg auf weniger als ein Viertel der Länge verkürzen.
Nachdem schon mehrere Kanalbauer an der Umsetzung des Projekts gescheitert waren, bekam der damals 35-jährige Georg Jacob Steenke 1836 den Auftrag. Steenke legte zunächst den Weg des künftigen Kanals fest, wobei sich eine Lösung zur Überwindung des fast 100-Meter-Höhenunterschieds schnell als Knackpunkt erwies. Anfangs plante Steenke dafür den Bau von 20 Kammerschleusen, doch bald schon stellte sich heraus, dass es mindestens 30 sein müssten. 1844 begannen die Bauarbeiten und nach der Fertigstellung der fünften Schleuse sechs Jahre später war klar, dass die Kosten ins Unermessliche steigen würden. Eine neue, effektivere Lösung musste her.
1860 wurde der Kanal eingeweiht
Steenke schaute sich zunächst in Belgien, Holland und Bayern neueste hydrotechnische Anlagen an. 1850 reiste er in die USA, um die Hydrotechnik des Morris-Kanals in New Jersey zu besichtigen, der neben zahlreichen Kammerschleusen auch 23 geneigte Ebenen hatte, auf denen die Schiffe per Huckepack auf Wagen große Höhen über Schienen bis in die nächste Schleuse überwanden. So in etwa könnte es auch in Ostpreußen funktionieren, dachte sich Steenke, wobei ihm die Lösung mit den vielen Schleusen dennoch zu wenig effektiv war. Der Kanalbauer „erfand“ schräge Ebenen mit Gipfel, was bedeutet, dass die Schiffe nach Überwindung der Helling auf dem Gipfelpunkt noch ein Stück weiter auf Schienen bis in den Kanal hineinfahren und die Reise dann bis zur nächsten geneigten Ebene wieder schwimmend zurücklegen. Dabei besteht jede Helling aus zwei parallelen Gleisen, die die obere und die untere Station verbinden, wobei die Gleise im Wasser beginnen und dort auch enden. Zieht ein Wagen von oben nach unten, wird der andere Wagen gleichzeitig von unten nach oben bewegt. Das Ganze funktioniert komplett ohne Strom oder Maschinen, einzig durch die Kraft des Wassers, das über riesige Wasserräder die nötige Antriebsenergie erzeugt. Steenkes Lösungsidee gilt bis heute als technische Meisterleistung.
Am 31. August 1860 wurde der Kanal offiziell eingeweiht. Er führte schnell zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Der Transport von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, insbesondere von Langholzkiefern, die als Masten im Schiffsbau gefragt waren, wurde nun schneller und somit rentabler. Auf dem Rückweg brachten die Schiffe Lebensmittel und viele andere Waren in die Region. Rechts und links des Ufers siedelten sich viele Menschen an und gründeten neue Unternehmen: Ziegeleien, Webereien, Zuckerfabriken, Mühlen oder Sägewerke. Erst ab 1893, als eine Eisenbahnlinie Ostpreußen mit dem „Rest der Welt“ verband, gingen die Warentransporte über den Kanal langsam zurück. Schipperten 1913 noch 107.000 Tonnen Güter über den Oberlandkanal, waren es sieben Jahre später nur noch 35.000 Tonnen.
Schon bald nach seiner Inbetriebnahme wurde die künstliche Wasserstraße zu einem beliebten Ausflugsziel, insbesondere für Technikinteressierte, aber auch für Naturfreunde, denn der Kanal schlängelt sich durch ein Naturparadies. Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen Lastschiffskapitäne hin und wieder Passagiere mit und verdienten sich so ein bisschen Geld extra.
Ab 1912 mussten sich die Transportschiffe den Kanal mit Ausflugsdampfern teilen. Der Osteroder Kaufmann und Reeder Adolf Tetzlaff, sattelte komplett um und setzte mit einer ganzen Flotte von Ausflugsbooten voll auf den zunehmenden Individualverkehr. Damit einhergehend entwickelte sich eine völlig neue Wirtschaftsform – der Tourismus. Zahlreiche Hotels und Gasthäuser entstanden, Reiseunternehmen boten ihre Dienste an. Das Geschäft mit den Touristen boomte bis zum Zweiten Weltkrieg, dann wurde die Schifffahrt auf dem Kanal eingestellt. Erst 1948 erlebte sie einen Neuanfang.
Entschleunigte Schiffstour
Heute gehört der Kanal ausschließlich den Touristen, die aus aller Welt kommen, um sich das technische Meisterwerk anzuschauen, das es so nur einmal auf der Welt gibt. Alle anderen Kanäle, die einst auf geneigte Ebenen setzten, haben ihren Betrieb schon vor rund 100 Jahren eingestellt. Kein Wunder, dass insbesondere die gut neun Kilometer zwischen Buczyniec und Całuny mit ihren fünf geneigten Ebenen besonders beliebt für Ausflüge sind.
Dass die Schiffstouren mit einer maximalen Geschwindigkeit von sechs Kilometer pro Stunde absolut entschleunigende und beruhigende Wirkungen haben, beweist Kapitän Pjotr Czaikowsky, der seit 24 Jahren nichts anderes macht, als täglich Rollberge hoch- und runterzufahren. So gelassen und entspannt, wie er ist, will man kaum glauben, dass der 53-Jährige zuvor als Kapitän die Verantwortung für riesige Pötte trug, mit denen er über die Weltmeere schipperte. „Als ich 1999 Vater wurde, bin ich dort abgestiegen, weil ich meine Kinder aufwachsen sehen wollte“, erzählt er.
So besonders eine Schiffstour über die fünf Rollberge ist, es lohnt sich, auch den Rest des Oberlandkanals zu erschließen. Er ist komplett für Segelboote, Kanus, Kajaks und Sportboote befahrbar, die selbstverständlich genauso auf Schienen über die geneigten Ebenen transportiert werden, wie die Ausflugsschiffe. Eine Tour über den Kanal ist wie eine Reise in eine andere Welt, wo die Natur noch in Ordnung ist und man Tiere erleben kann, die anderswo längst verschwunden sind. Mal fährt man durch fast urwaldähnliche Wälder, dann wieder öffnet sich ein weiter Blick über Felder und Wiesen. Mal gleitet man durch malerische Seen, vorbei an verschwiegenen Buchten, dann rückt plötzlich ein verschlafen wirkendes Dörfchen in den Blick. Entspannung pur! Genau das richtige, um den Alltag für eine kurze Zeit zu entfliehen und in eine Welt einzutauchen, die wie aus der Zeit gefallen scheint.