In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Glaziologen weltweit die für die Rekonstruktion der irdischen Klimageschichte unersetzbaren Eisarchive in den Polar- und Hochgebirgsregionen vor dem finalen Abschmelzen zu retten. Mithilfe von Eisbohrkernen können Geheimnisse bis in die Zeit vor 1,2 Millionen Jahren gelüftet werden.
Das Szenario könnte selbst einen ausgeklügelten James-Bond-Plot übertreffen. Und das an einem der unwirtlichsten Orte der Welt: Im Sommer herrschen dort durchschnittlich minus 30 Grad Celsius, im Winter sogar minus 63 Grad. Gemeint ist die Antarktis-Station „Dome Concordia“ (kurz „Concordia“), eine französisch-italienische Forschungsbasis. Sie liegt auf 3.233 Metern Höhe auf einer 4.000 Meter dicken Eiskuppe und wird seit 2005 dauerhaft bewohnt. Die Station gehört zu den nur drei ganzjährig betriebenen auf dem antarktischen Kontinent.

Genau hier, auf dem Plateau der Ostantarktis, soll nach aktuellen Plänen Ende 2025 ein einzigartiges Vorhaben starten: Eisbohrkerne aus aller Welt – bisher in Tiefkühlkammern gelagert – sollen dauerhaft eingelagert werden. Und zwar bei konstant minus 50 Grad Celsius, ganz ohne Energieverbrauch. So sollen sie für künftige Generationen und deren noch leistungsfähigere Forschung erhalten bleiben.
Und zwar nicht etwa in einem bombastischen Architektur-Ungetüm, sondern in einer die Natur ganz bewusst schonenden pfiffigen Design-Lösung. Der eigentliche Clou daran sind riesige Ballons, die in ausgefräste, etwa zehn Meter tiefe Rinnen eingelegt und dann aufgeblasen werden. Danach werden die luftgefüllten Ballons mit einer Schneedecke umhüllt und überzogen, die nach Verfestigung und Umwandlung in Eis sowie nach Entfernung der nicht mehr benötigten Ballons das äußere Gerüst und Dach einer künstlich erstellten Eishöhle mit langer Bestandsdauer bilden kann. Der Name „Ice Memory Sanctuary“ spielt direkt auf die Zielsetzung des ambitionierten Projekts an, das Eisgedächtnis der Erde aufzubewahren. Wobei sich die 2021 unter Beteiligung von sieben Forschungsinstituten aus Frankreich, Italien und der Schweiz gegründete Ice Memory Foundation, die die internationale Gemeinschaft von Glaziologen zusammengebracht hat, um innerhalb von 20 Jahren mindestens 20 Bohrungen in den Gletschern unseres Planeten durchführen zu können, nicht in erster Linie als Forschungsinitiative versteht, sondern als Retterin von Eiskernen und damit auch des menschlichen Kulturerbes. Ihr Ziel ist neben dem Aufbau einer möglichst detaillierten und frei zugänglichen Datenbank die Bewahrung und Bereitstellung von Eisproben für die anschließende Bearbeitung durch verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen.
In absehbarer Zeit werden sicherlich auch die Eisbohrkerne in das Antarktis-Depot transportiert werden, die bei der sensationellen, im Januar 2025 nach mehrjähriger Arbeit abgeschlossenen Expedition eines europäischen Forschungsteams, an dem auch das in Bremerhaven ansässige Alfred-Wegener-Institut (AWI), der hierzulande führende Vertreter der Glaziologie, also der Wissenschaft von Aufkommen und Eigenschaften von Eis und Schnee samt deren Ausformungen in Gletschern, Schelfeis und Permafrost, beteiligt war. Das AWI sprach von einem „historischen Meilenstein“ für die Klimaforschung, weil bei der Bohrung im direkten Umfeld von „Dome C“ das bislang älteste Eis geborgen werden konnte. Den Forschern gelang dabei von einer in Höhe von 3.200 Metern angesiedelten Eiskuppe aus ein Vordringen mit den Bohrern bis in 2.800 Meter Tiefe. Das dabei geborgene Eis reicht lückenlos mindestens 1,2 Millionen Jahre in die Erdgeschichte zurück, wobei laut dem AWI in jeweils einem Meter Eis bis zu 13.000 Jahre alte Klimainformationen komprimiert enthalten sind. Dadurch lässt sich bei den anstehenden Analysen eines der größten Rätsel der Klimawissenschaft womöglich lösen. Denn in genau dieser frühen Phase veränderte sich der zyklische Wechsel zwischen Warm- und Kaltzeiten grundlegend: Statt alle 41.000 Jahre trat er nun nur noch etwa alle 100.000 Jahre auf – eine deutliche Verlangsamung, für die es bis heute keine ausreichende Erklärung gibt.
Schichten, die 800.000 Jahre alt sind
Der Standort der Rekordbohrung war von den Forschern systematisch ausgewählt worden, weil in der Antarktis und im arktischen Grönland die ältesten Eisschichten zu finden sind. Auch der frühere im Jahr 2004 geborgene Eiskern-Rekordhalter, dessen älteste Schichten rund 800.000 Jahre alt waren, stammte aus der Antarktis. Um optimale, von der Eiswanderung möglichst ungestörte klimatische Informationen zu erhalten, werden Bohrstellen auf sogenannten Dome-Positionen (höhergelegenen Kuppen) oder sogenannten Ice divides (Eisscheiden der Eisschilde) ausgesucht, an denen das Eis vorwiegend vertikale Fließbewegungen aufweist und die horizontale Fließbewegung vergleichsweise gering ist. Bislang konnten einzig in der Ostarktis tiefe Bohrkerne sichergestellt werden, die mehrere Eiszeitzyklen umfassen, wobei die längsten ungestörten Zeitreihen vom Plateau der Ostarktis (Dome C und Dome F) gewonnen werden konnten. Während flache Bohrkerne bis zu einer Tiefe von 200 Metern lediglich die vergangenen 500 bis 5.000 Jahre abdecken können und mitteltiefe Bohrungen bis etwa 1.000 Meter Auskunft über Teile des Holozäns und mitunter auch des letzten Glazials geben können. Die letzten 100 bis 2.000 Jahre können auch aus Eisbohrkernen der Hochgebirgsgletscher (etwa der Alpen) oder der arktischen Eiskappen abgelesen werden.
Konservierte Umweltbedingungen
Im vergangenen Vierteljahrhundert wurde eine ganze Reihe von großen internationalen Eisbohr-Projekten sowohl in Grönland als auch in der Antarktis durchgeführt. Hierbei hat sich die noch relativ junge Messtechnik zur Erfassung von Daten über Klima- und Umweltveränderungen in weit zurückliegender Vergangenheit sowie zur Bestimmung von Gehalten an stabilen Wasserisotopen und chemischen Substanzen im Eis kontinuierlich verfeinert. Inzwischen können nicht nur zuverlässige Informationen über Klimazyklen wie den Wechsel zwischen Eis- und Zwischeneiszeiten gewonnen werden, sondern auch Erkenntnisse über diverse Umweltveränderungen, einzelne Naturereignisse wie Vulkaneruptionen, Meteoriteneinschläge, Wald- und Steppenbrände oder extreme Wetterbedingungen wie Dürren. Sogar historische Ereignisse wie die erhebliche Luftverschmutzung mit giftigen Metallen im antiken Rom aufgrund des Bergbaus oder der Blei- und Silberproduktion konnten aus tiefen Schichten eines Gletschers des Mont-Blanc-Massivs nachgewiesen werden. Auch die Siedlungsgeschichte oder die Ausbreitung der Landwirtschaft haben ihre Spuren im Aerosolgehalt der Luft hinterlassen.

Exakte Messungen von Klima- und Umweltveränderungen sind zwar erst seit etwa 200 Jahren möglich. Doch mithilfe des Eises aus den Polar- und Hochgebirgsregionen lassen sich diese Veränderungen im Rahmen der Paläoklimatologie inzwischen sogar mehr als eine Million Jahre weit zurückverfolgen. Eiskerne nehmen dabei unter den sogenannten Klimaproxys – also indirekten Hinweisen auf frühere Klimaverhältnisse wie Baumringe, Korallenriffe, Pigmente in Meeren und Seen oder Materialien aus dem Permafrost – eine besondere Stellung ein. Nur im Eis kann Luft blasenförmig eingeschlossen, konserviert und für kommende Generationen bewahrt werden. Wenn Schnee zu Firn und schließlich zu Eis verdichtet wird, werden dabei nicht nur Luft, sondern auch Staubpartikel, Verunreinigungen, radioaktive Stoffe sowie Mikroorganismen wie Bakterien und Viren eingefroren – ebenso wie die bekannten Treibhausgase Kohlendioxid und Methan. So entstehen Schichten, die jeweils die Atmosphäre und Umweltbedingungen ihrer Zeit präzise dokumentieren.
Bei der Analyse des Inhalts der Eisbohrkerne, gewissermaßen eisigen Zeitkapseln, können aus all diesen Parametern Veränderungen des Klimas wie Temperaturschwankungen, der Umwelt und insbesondere der Zusammensetzung der Atmosphäre mit Konzentrationen von Treibhausgasen, Emissionen natürlicher Aerosole oder menschengemachter Schadstoffe ermittelt werden. Zusätzlich kann davon ausgegangen werden, dass Wissenschaftler eines Tages auch die Veränderung des Genoms der eingeschlossenen Bakterien und Viren sowie die zugrundeliegenden Mutations-Mechanismen entschlüsseln werden, wodurch sich die Anfang der 1960er-Jahre begründete Eiskernforschung womöglich auch für die Medizin als nützlich erweisen könnte. Bei jeder Bohrung werden mindestens zwei Eiskerne geborgen, sprich die jeweiligen Blöcke werden in zwei Teile zersägt. Die eine Hälfte wird zur zeitnahen Analyse in die Labors der beteiligten Institutionen transportiert, die zweite Hälfte wird für spätere Forschungen mit weiterentwickelten Messtechniken in Kühlräumen gelagert, wofür bei planmäßigem Verlauf ab Ende 2025 das „Ice Memory Sanctuary“ als zentraler Anlaufpunkt zur Verfügung stehen wird.