Wenn ein Kind in Pflege genommen wird, stellt das eine Familie nicht selten vor eine Herausforderung. Denn manche der jungen Menschen können schlecht ihre eigenen Gefühle regulieren und Impulse kontrollieren. Bestimmte Programme können helfen.
Es ist ein tiefer Einschnitt im Leben eines Kindes, wenn es erfährt, dass die eigene Familie kein sicherer Ort mehr ist. Egal, ob es in einem Heim untergebracht oder von Pflegeeltern aufgenommen wird: In beiden Optionen bricht die emotionale Bindung zur Bezugsperson ab. Im Jahr 2022 machten den Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge in Deutschland rund 207.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die gleiche Erfahrung, nämlich dass sie – zumindest zeitweilig – außerhalb der eigenen Familie aufwuchsen. Etwa 121.000 junge Menschen wurden in einem Heim und rund 86.000 in einer Pflegefamilie betreut.

Ein Großteil der Pflegekinder hierzulande trägt eine riesige Last mit sich. Soll heißen: Die jungen Menschen haben körperliche und seelische Misshandlung in ihrem Elternhaus erlebt bis hin zu schwerwiegender Vernachlässigung. „Oft sind diese traumatischen Erfahrungen der Grund dafür, dass das Jugendamt eine Kindeswohlgefährdung zum Beispiel aufgrund körperlicher und sexueller Misshandlung in der Herkunftsfamilie feststellt und das betroffene Kind in eine Pflegefamilie platziert“, sagt Prof. Dr. Eva Möhler, die Mitglied ist im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Anders gelagert ist natürlich die Situation, wenn zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter schwer erkrankt und sich folglich nicht mehr um ihr Kind kümmern kann. „Wenn die Mutter aber ansonsten eine emotional verfügbare Bezugsperson gewesen ist, kann sie nach Heilung ihr Kind wieder zurücknehmen“, sagt die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.
Traumatische Erfahrungen
Alles in allem werden etwas mehr Jungen, laut amtlicher Erhebung nämlich 54 Prozent, als Mädchen außerhalb der eigenen Familie erzogen. „Ohne ein Geschlechter-stereotyp verbreiten zu wollen, gibt es Hinweise darauf, dass Jungen eine etwas größere Herausforderung für die Erziehung in den ersten zehn Lebensjahren sind“, sagt die Expertin für seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Daher könne eventuell etwas eher eine „elterliche Überforderung“ eintreten. Am ehesten falle sie in den ersten Lebensjahren des Kindes auf. Auch Säuglinge und kleinere Kinder werden schon in Pflegefamilien gegeben, insbesondere wenn die Mutter vor der Geburt der Kinder zu einem riskanten oder gar schädlichen Konsum von Alkohol und Drogen neigte und sich Anzeichen von körperlicher Misshandlung, wie Rippenfrakturen und Hämatome, beim Kind feststellen lassen. „Das Fetale Alkoholsyndrom und andere neurobiologische Störungen können in der späteren Entwicklung des Kindes die Impulskontrolle und Gefühlsregulation erschweren“, unterstreicht das DGKJP-Mitglied.
Auf den ersten Blick mag eine Pflegefamilie als ein sicherer Ort im Vergleich zum meist belasteten Aufwachsen in der Ursprungsfamilie erscheinen. Doch abgesehen vom Ideal der Pflegefamilie als Halt gebendes, soziales Netz leben die jungen Menschen in ständiger Ungewissheit, was mit ihnen passieren wird. „Nicht zu wissen, wie es weitergeht, ist für Kinder in Pflegefamilien sehr belastend“, erklärt Eva Möhler. Deshalb sei es wichtig, dass die Pflegeeltern über entsprechende Kompetenzen verfügen: Sie sollten ein Grundverständnis für die entwicklungspsychologischen Besonderheiten mitbringen, emotional verfügbar und sensibel sein für die durchlittenen Traumata des Kindes. „Das Kind, das in einer Pflegefamilie aufgenommen wird, hat ja mindestens eine gravierende, belastende Erfahrung gemacht – und sei es auch nur die Erfahrung, dass es aus seiner Herkunftsfamilie herausgenommen wurde“, sagt Eva Möhler. Trotz alledem bieten Pflegefamilien eine „riesige Chance, der einzige emotional verfügbare Erwachsene im Leben eines Kindes zu sein“, sagt die Fachärztin. Die oftmals zerrüttete Biografie des Kindes könne umgeprägt werden „in einen guten geordneten Lebensweg“. Insofern seien die Pflegeeltern als emotionale Bezugsperson wichtiger als es Therapeuten je sein könnten.
Pflegefamilien bieten riesige Chance

Mit Blick auf den Rucksack, den Pflegekinder ein Leben lang mit sich tragen, wird auch verständlich, warum sie impulsiver und emotionaler sein können. Wichtig wäre es daher, auf Verhaltensauffälligkeiten mit möglichst wenigen Strafen beziehungsweise negativen Zuschreibungen zu reagieren, sagt Eva Möhler. „Entscheidend für die kindliche Entwicklung sind positive Zuwendung und die emotionale Verfügbarkeit der Pflegeeltern, damit das Kind sich auch über positive Eigenschaften gesehen fühlen kann“, sagt die Medizinerin. Eva Möhler verweist in diesem Kontext auf das in Großbritannien entwickelte Programm „Fostering Changes“, das sich an Pflegeeltern mit Pflegekindern im Alter von zwei bis elf Jahren richtet. In dem Kursangebot sollen die Eltern unter anderem in Erziehungsfragen unterstützt werden und dabei die Bindung zum Pflegekind stärken. Eine knapp zwei Jahre dauernde Pilotstudie zielte darauf, die deutsche Version des in Großbritannien bereits erfolgreich etablierten Elterntrainings zu untersuchen. Im Rahmen der Studie wurden erstmals von September 2022 bis Juli 2023 sechs „Fostering Changes“-Kurse in Deutschland angeboten, wobei 34 Pflegeeltern dieses Angebot in Anspruch nahmen. In diesem Zeitraum beteiligten sich diese Pflegeeltern aus den sechs Kursen an einer Evaluierung. Sie sollten angeben, wie sie die möglichen Verhaltensauffälligkeiten der ihnen anvertrauen Pflegekinder, die Qualität der Beziehung zum Pflegekind, ihren eigenen Erziehungsstil und ihr Stresslevel einschätzen. Wie auf der Webseite des Programm nachzulesen ist, ergab die Befragung „mittlere bis große Effekte für alle erhobenen Variablen“ im Vorher-nachher-Vergleich. „Mein sehr geschätzter Kollege Prof. Jörg Fegert, Präsident der European Society of Child and Adolescent Psychiatry, hat versucht, das Trainingsprogramm in Deutschland zu implementieren. Da im Zuge dessen auch ‚Train the Trainer‘-Modelle angeboten wurden, haben einige meiner Mitarbeiterinnen daran teilgenommen“, erzählt Eva Möhler. Ihrer Meinung nach wäre es großartig, wenn unter anderem im Saarland solche intensiveren Unterstützungs- und Qualifizierungsangebote für Pflegeeltern zum Einsatz kommen könnten.
Psychopathologische Auffälligkeiten

Da Pflegekinder in vielen Fällen körperliche und sexualisierte Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlungen erlebten, zeigen sie im Vergleich zu Kindern aus herkömmlichen Familien mehr psychopathologische Auffälligkeiten. Äußern können diese sich etwa in aggressivem und straffälligem Verhalten, Regelverletzung, sozialen Problemen, motorischer Unruhe, hyperkinetischen Störungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Daneben können die Betroffenen auch die Störungen verinnerlichen, also zu Depressionen, Ängstlichkeit und Suizidversuchen neigen. Um dies besser zu verstehen, ist ein Exkurs in die Neurobiologie hilfreich: Misshandelte und vernachlässigte Kinder schütten oft mehr Stresshormone aus als Kinder, die sich normal entwickelt haben. „Stresshormone beeinträchtigen Strukturen im Gehirn, wie den präfrontalen Cortex. Dieser Teil des Frontallappens steuert unter anderem die Impulskontrolle und die Gefühlsregulation“, erklärt Eva Möhler. Und weil Kinder unter Stress folglich schlechter ihre Impulse und Gefühle kontrollieren können, sei der Umgang mit ihnen folglich herausfordernder.
Doch Kinder in und nach solch schwierigen Belastungssituationen können auch noch sehr gut diese Hirnfunktionen, wie Impulskontrolle und den Umgang mit ihren Gefühlen, trainieren. Zum Beispiel vermitteln ihnen die Programme START und START-Kids auf spielerische Weise Strategien zur Emotionsregulation. „Schlechte Impulskontrolle und Gefühlsregulation können dazu führen, dass Kinder aus mehreren Pflegeverhältnissen oder Einrichtungen wieder entlassen werden, dadurch geraten sie natürlich erst recht in eine Abwärtsspirale und schütten aufgrund dieser großen Ungewissheit in ihrem Leben vermehrt Stresshormone aus“, erzählt Eva Möhler. Um zu vermeiden, dass sich die psychische Situation des Kindes weiter verschlechtert, sei es unabdingbar, möglichst früh zu intervenieren und Gefühlsregulation und Impulskontrolle zu trainieren. „Das kindliche Gehirn ist ja, wie wir wissen, noch lange sehr plastisch, daher wissen wir, dass wir viele wichtige Regulationsfunktionen mit den Kindern noch erarbeiten können und müssen“ sagt die Expertin. Die bisherige Evaluation des START-Programms ergab, dass das Training erfolgreich sei.
Behütet aufwachsen im neuen Zuhause
Vor allem können die Verhaltensauffälligkeiten und auch teilweise traumatisierenden Erfahrungen das Zusammenleben von Pflegeeltern und Pflegekindern enorm belasten. Doch die betroffenen Pflegeeltern können sich helfen, indem sie sich an einer verhaltenstherapeutischen Methode orientieren: Selective Ignoring. Kurz gesagt geht es darum, das dysfunktionale Verhalten des Kindes, etwa lautes Aufstampfen mit dem Fuß oder lautes Schreien, primär nicht zu beachten. Aber: „Trotzdem müssen die Pflegeeltern ein Auge darauf haben. Wenn beispielsweise das Kind anfängt, den Kopf gegen die Wand zu schlagen, müssen sie natürlich dazwischengehen.“ Wichtiger als alles andere in der Erziehung sei die funktionelle Aufmerksamkeit gegenüber dem Pflegekind. „Kinder identifizieren sich mit den Eigenschaften, über die sie von ihrer Umgebung wahrgenommen werden. Da manche von ihnen bisher nur über Negatives wahrgenommen wurden, ist es für das Selbstbild des Kindes, aber auch das Pflegeverhältnis wichtig, dass Pflegeeltern auch positive Zuschreibungen beisteuern“, betont sie. Sprich: In den Momenten, in denen das Kind ein dysfunktionales Verhalten zeigt, sollte der Fokus nicht im Vergrößerungsglas darauf gelenkt werden, sondern so lange es geht zum Beispiel abgelenkt werden, um zu versuchen, in eine positive Interaktion zu kommen. Am einfachsten ist es nämlich, das negative Verhalten des Kindes durch Entzug von Aufmerksamkeit dafür zu „löschen“, denn Aufmerksamkeit ist für Kinder ein erheblicher Verhaltensverstärker. Daher ist es klug, dem Kind Interesse und Aufmerksamkeit vorwiegend dann zu geben, wenn es sich nicht dysfunktional verhält.

Lenkt man den Blick weg von den schwierigen Pflegekind-Fällen hin zu denen mit einer stabilisierenden psychischen Entwicklung, muss eine zentrale Erfahrung hervorgehoben werden: Die meisten Pflegekinder wünschen sich in ihrer Pflegefamilie bleiben zu können. Eva Möhler, die vor drei Jahren am Universitätsklinikum des Saarlandes eine Pflege- und Heimkind-Ambulanz für junge Menschen ab sechs Jahren gemeinsam mit einer Oberärztin aufgebaut hat, kann diesen Umstand bestätigen. Um das dauerhafte Verbleiben in ihrer Pflegefamilie zu erreichen, sei bei ihnen der „innere Antrieb für Veränderung“ entscheidend. „Vielen Kindern ist es auch ganz wichtig, der Pflegemutter zu gefallen. Wenn die Kinder bei uns in stationärer, teilstationärer und ambulanter Behandlung sind, sehen wir, wie sie um ihre Pflegemama werben, wenn die zu Besuch kommt“, sagt Eva Möhler. Wahr ist aber auch: Es kann manchmal auch vorkommen, dass aufgenommene Pflegekinder in ihrer Familie misshandelt und vernachlässigt werden.
Damit die Kinder und Jugendlichen in ihrem neuen Zuhause behütet aufwachsen können, ist es wichtig, dass Pflegeeltern den körperlichen und seelischen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. Abgesehen von der Erfahrung der funktionellen Aufmerksamkeit hat die emotionale Verfügbarkeit einen hohen Stellenwert. „Wir wissen, dass Kinder von Eltern, die emotional verfügbar sind, hoch signifikant weniger Verhaltensauffälligkeiten zeigen, eine sicherere Bindung haben und weniger Stresshormone ausschütten“, sagt Eva Möhler. Zusammengefasst: Die emotionale Verfügbarkeit ist ein wichtiger Prädiktor, also ein Vorhersagewert, in der Eltern-Kind-Beziehung, die über die kindliche Entwicklung entscheidet.