Die Europawahl am 9. Juni wird mit guten Gründen als Schicksalswahl angesehen: Selten waren die Herausforderungen so groß, und wohl noch nie waren es so viele, die gleichzeitig und möglichst schnell Lösungen erfordern. Der äußere und innere Druck ist immens.
Europa hat die Wahl, und vieles ist in den letzten Tagen vor Öffnung der Wahllokale unklar und unübersichtlich. Vielleicht hat auch das dazu beigetragen, dass manche im Eurovision Song Contest 2024 ein Stimmungsbarometer sehen wollten, wie Europa wirklich tickt.
Nemos Sieg und sein Satz nach der Entscheidung als Überschrift für einen Kontinent, der für Vielfalt, Offenheit, Demokratie und friedvolles Miteinander steht? „Ich hoffe, dass dieser Wettbewerb sein Versprechen einhalten und weiterhin für Frieden und Würde für jeden Menschen in seiner Welt eintreten kann“, bedankte sich der ESC-Sieger.
Zu schön, um wahr zu sein? Die Eurovision 2024 lieferte schließlich auch andere Bilder. Bilder von pro-palästinensischen Demos, Buh-Rufe und Anfeindungen gegen die Sängerin aus Israel. Europäische Zerrissenheiten.
Der ESC ist bekanntlich nicht die EU, sondern eine Veranstaltung der EBU (European Broadcasting Union). Was nichts daran ändert, dass sich dabei ein Stück weit europäisches Lebensgefühl und europäischer Zeitgeist ausdrückt. Übrigens auch bei einigen EU-Mitgliedsstaaten, die auf eine Teilnahme verzichteten. Ungarn soll sich beispielsweise an der LGBT-freundlichen Haltung des Wettbewerbs gestoßen haben.
Aber bekanntlich stößt sich Ungarn unter Victor Orbán an vielem, was ansonsten die allermeisten der übrigen 26 Mitgliedsstaaten als gemeinsame Haltung teilen. Ungarn schließt auch Verträge mit China und besiegelt eine „strategische Partnerschaft“, während in Deutschland gerade ein Mitarbeiter des AfD-EU-Spitzenkandidaten Maximilian Krah unter dem Verdacht der Spionage für China verhaftet wurde.
Europa im Jahr 2024 steht unter vielfältigem Druck. Nicht zuletzt auch wegen seiner Lebensart hat „Zar“ Putin dieses Europa ins Visier genommen und unterstützt offensichtlich Kräfte, deren Ziele sich zwischen Schwächung und Auflösung der EU bewegen.
Einer von vielen Gründen, warum das Wort von der „Schicksalswahl“ eine gute Berechtigung hat.
Wählen ab 16 bei Europawahl
Eine prägnante Bilanz samt Ausblick auf das, womit sich die EU in den nächsten Jahren beschäftigen muss, hat die spanische Tageszeitung „El Periódico (de Catalunya)“ geliefert:
„In der schwierigen Legislaturperiode, die hinter uns liegt, konnte das EU-Parlament 450 Gesetze verabschieden, darunter das weltweit erste über künstliche Intelligenz, den neuen Migrations- und Asylpakt, die grüne Agenda oder die Kopplung europäischer Mittel an die Rechtsstaatlichkeit. (...) Die Herausforderungen der Zukunft sind enorm: die Verteidigung der Demokratie, Fortschritte in der Verteidigungspolitik, die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, das Tempo beim Kampf gegen den Klimawandel, die Erweiterungspolitik.“ Es gehe schlicht um nicht mehr und nicht weniger als die Frage, „welche Art von Europa wir in dieser instabilen, komplexen Welt wollen“.
Die Wahlkämpfe hierzulande lassen das nur zu einem Teil erahnen. Sie werden stark unter innenpolitischen Aspekten geführt. Die Opposition im Land will die Europawahl zu einer „Abstimmung über die Ampel“ machen, womit kaum die europapolitischen Aktivitäten der Berliner Regierungskoalition gemeint sind.
Dass die großen und mittelgroßen Parteien mit durchaus namhaften Europapolitikern und -politikerinnen in den Wahlkampf ziehen, bis hin zur amtierenden EU-Kommissarin Ursula von der Leyen höchstselbst, ändert daran nichts Grundlegendes. Dabei hat sich das deutsche Spitzenpersonal im Europäischen Parlament durchaus einen Namen gemacht. Katarina Barley für die Sozialdemokraten, Terry Reintke für die Grünen, Martin Schirdewan für die Linke und Fabio di Masi, der diesmal für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) antritt, sind auf europäischer Ebene gesuchte Gesprächspartner, ebenso wie Manfred Weber (CSU), der als Partei- und Fraktionsvorsitzender der stärksten Fraktion EVP eine einflussreiche Stimme ist. Neu auf europäischer Ebene ist die FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die sich als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag einen Namen gemacht hat (und mehr oder minder schöne Beinamen durch ihr energisches Auftreten erworben hat).
Nach Umfragen von Anfang Mai könnte die Union mit etwa 30 Prozent bei der Europawahl rechnen. SPD, Grüne und AfD lagen mit jeweils um die 15 Prozent etwa gleichauf, BSW könnte mit sechs Prozent rechnen, FDP, Linke und Freie Wähler lagen jeweils zwischen 2,5 und drei Prozent. Zudem dürften nach einige kleineren Parteien mit einem Sitz rechnen. Bei der Wahl vor fünf Jahren reichte dafür ein Ergebnis von 0,7 Prozent.
Der Wahlkampf hat spätestens seit dem brutalen Angriff auf den sächsischen SPD-Spitzenkandidaten zur Europawahl, Mathias Ecke, eine Wende genommen. Attacken gegen Wahlkämpfende haben aufgeschreckt, ebenso Angriffe gegen Parteibüros. Sachbeschädigungen scheinen schon fast zum Alltag zu gehören. Das ist nicht nur eine gefühlte Entwicklung, wie der Soziologe und Gewaltforscher Peter Imbusch von der Bergischen Universität Wuppertal in einem WDR-Interview bestätigte: „Es spricht viel dafür, dass die Vorfälle nicht nur quantitativ zugenommen haben, sondern auch brutaler geworden sind. Und ich spreche dabei nicht nur von physischer Gewalt, sondern auch von Bedrohungen und aggressiven Pöbeleien. Darauf deuten alle wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema hin.“ Eine Entwicklung, die auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist.
Spitzenkandidatinnen und -kandidaten werden bei ihren Wahlkampftouren nicht müde, vor allem zu einer Teilnahme an der Wahl aufzurufen. Die Bereitschaft zur Teilnahme an der Europawahl ist in Deutschland nach Umfragen vergleichsweise groß, und es deutet einiges darauf hin, dass die bei der letzten Europawahl wieder deutlich gestiegene Wahlbeteiligung (europaweit über 50 Prozent, in Deutschland 61,4 Prozent) wieder erreicht oder vielleicht sogar übertroffen werden könnte.
Dass Wahlkämpfende von einer „Schicksalswahl“ sprechen, ist nicht ungewöhnlich. Offensichtlich sehen das aber auch sehr viele Menschen so in Zeiten, in denen Krieg und Frieden, Klima, globaler Wettbewerb erkennen lassen, dass nur ein starkes und möglichst einiges Europa eine Chance bietet, diese Herausforderungen zu bestehen.