Es ging lange nicht mehr um die Frage, ob der Abstieg kommt, sondern nur noch darum, wann es passiert. Der SV Darmstadt 98 hatte genug Vorbereitungszeit, um sich darauf einzustellen.
Es war erwarten, alle wussten, dass es passieren wird – und dennoch ist so ein Abstieg immer auch traurig – oder wie es Darmstadts Klub-Präsident Rüdiger Fritsch formulierte „bescheiden oder auch beschissen, je nachdem welche Wortwahl man treffen möchte.“ Durch die 20. Niederlage der Saison, ein 0:1 gegen den FC Heidenheim, war es passiert und die Lilien drei Spieltage vor Schluss wieder abgestiegen. Am Ende stehen drei magere Siege zu Buche, und selbst hinter dem schon fast abgeschlagenen Vorletzten aus Köln rangieren die Hessen noch einmal weiter abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz. „Wir wussten, dass dieser Tag kommen wird. Das gehört zum Sportlerleben dazu. Entscheidend ist, wie wir das aufarbeiten“, sagte Trainer Torsten Lieberknecht. Trotz einer Negativserie von zwischenzeitlich 23 Spielen ohne Sieg unter Lieberknecht soll der 50-Jährige die Darmstädter auch im Unterhaus trainieren. „Wir stellen es ihm frei. Wir wollen hier etwas aufbauen - längerfristig“, sagte Präsident Fritsch und ergänzte: „Ich glaube nicht, dass es besser wäre, jetzt den Trainer zu wechseln.“
Für den längerfristigen Aufbau soll der neue Sportchef Paul Fernie unter anderem zuständig sein. Er betonte in einem Interview, hinter Lieberknecht stehe „kein Fragezeichen“. Man sei „schnell auf Augenhöhe“ gewesen, „alle unsere Gespräche waren positiv. Ich freue mich, mit ihm weiterzuarbeiten.“ Tatsächlich haben die Planungen für die 2. Liga längst begonnen, jetzt sind sie konkret. „Wir haben ein Fenster im Sommer, wo man etwas Neues aufbauen kann“, sagte Fernie. Mit Angreifer Fynn Lakenmacher vom Drittligisten 1860 München steht auch bereits der erste Zugang für die neue Saison fest.
Heidenheim hat es besser gemacht
Dass Darmstadt nie zu einem zerstrittenen Haufen wurde, honorierten auch die Fans, nachdem der Gang in die 2. Liga besiegelt war. Sie sangen und unterstützten ihre Mannschaft sofort nach dem Spiel, so gut sie konnten. „Natürlich ist es schön, und es baut einen kurz auf. Allgemein ist es aber ziemlich leer in einem drin“, sagte Fabian Nürnberger stellvertretend für die Mannschaft. Und Präsident Fritsch bemühte zur Verdeutlichung seiner Gefühlslage zwar ein makabres Bild, jedoch eins das nachvollziehbar die Gefühlslage wiedergab: „Ich weiß nicht, ob das ein schlauer Vergleich ist: Aber das ist wie mit der 102-jährigen Oma, wo man weiß, irgendwann ist es so weit und dann ist es so weit - und dann ist man trotzdem sehr, sehr traurig.“ Doch Mitleid wollte an diesem Tag sowieso niemand haben. Den Beteiligten war klar, dass sie das selbst verbockt haben. Wiederum Präsident Fritsch brachte es auf den Punkt: „Es war wieder einer, der tritt über den Ball. Und wenn man zu oft über den Ball tritt, kommt über die Saison gesehen halt so was heraus.“ Dass der Abstieg gerade gegen die Heidenheimer besiegelt wurde, passte ins Bild. Heidenheim, ebenfalls Aufsteiger, machte es vor, wie man sich in der Bundesliga durchsetzen kann. Sie agierten wehrhafter, konzentrierter und besser abgestimmt als die Darmstädter. „Heidenheim hatte von Anfang an das, was wir nicht hingekriegt haben: eine Grunddynamik, eine Konstanz, einen Flow“, konstatierte Fritsch richtig. In seinen ersten acht Monaten im Oberhaus hat das Team von Trainer Frank Schmidt mit 34 Punkten exakt doppelt so viele geholt wie die Südhessen. „Ich weiß nicht, was die da machen und wie die trainieren“, fragte sich Darmstadts Defensiv-Spieler Matthias Bader und gestand neidlos ein: „Für die Bundesliga haben sie es über alle Spiele betrachtet, besser gemacht, vor allem konstanter verteidigt. Mit unseren geschossenen Toren und der Hälfte der Gegentore würden wir auch wo ganz anders stehen.“
Lieberknecht fand in dieser Saison schlicht und ergreifend keine verlässliche Achse, lediglich Torwart Marcel Schuhen spielte konstant auf Bundesliga-Niveau. Dann kamen Verletzungen dazu sowie das logische Fehlen individueller Klasse, auch wenn der Kader eher zu groß als zu klein war. Dafür ist nun Fernie zuständig, diesen zu verkleinern. Der Engländer, der einen sehr aufgeräumten Eindruck hinterlassen hat, dürfte gut beraten sein, den Umbruch nicht zu brachial anzustreben, sondern es bei den angekündigten sechs bis acht Neuverpflichtungen zu belassen.
Ein großer Punkt für die kommende Zeit ist zudem die Konstanz auf der Trainerposition. Der Verein und das Umfeld waren realistisch genug, den Abstieg personell als auch finanziell schon fast einzuplanen, denn klar war: Nur mit einer überragenden Saison konnte der Klassenerhalt gelingen. Das bringt in der kommenden Saison auch ordentlich Druck mit für Lieberknecht, denn trotz Abstieg sollte der Kader der Hessen für Zweitliga-Spitzenfußball gemacht sein – dann muss der Übungsleiter erneut liefern. Dass er dazu die Qualitäten besitzt, ist klar. Auch weil er in dieser schwierigen Saison empathisch und menschlich wirkte und die Täler glaubhaft moderierte und sich nie versteckte. Auch deshalb achten ihn das Umfeld und der Verein. „Wir sind mit Würde abgestiegen“, befand Lieberknecht und meinte damit weniger die bescheidene Punktzahl als das schöne Miteinander.
„Wir sind verdient abgestiegen“
Doch neben diesem schönen Miteinander gibt es auch noch eine bittere Wahrheit: so deutlich hätte der Abstieg nichts ausfallen müssen. Vor allem zum Ende der Hinrunde kamen die Lilien besser in Tritt, doch dann wurde die Herangehensweise sichtbar geändert. Nach furiosen Auftritten wie beim 3:3 gegen Gladbach oder beim 4:2 gegen Bremen, als die Lilien ihre Gegner von Minute eins an „auffressen“ wollten, traten die Südhessen nach dem schmerzhaften 0:8 in München gänzlich anders auf. So kam es, dass in den Heimspielen im November und Dezember gegen direkte Konkurrenten nichts zusammenlief – weil eine zu defensive Ausrichtung gewählt wurde und damit das „auffressen“ der Gegner schon im Keim erstickt wurde. Den Höhenflug vor der Änderung der Marschrichtung beendeten also nicht die Gegner, sondern die Lilien selbst. Besonders bitter: Zurück zur alten Leistungsstärke fand die Mannschaft von Trainer Lieberknecht nicht mehr. Woche für Woche stieg die Anzahl der sieglosen Spiele an, es war fast schon eine Qual für alle Beteiligten. So hart hätte dieser Abstieg nicht sein müssen, er hätte wesentlich glimpflicher vonstatten gehen können. „Es gab zwei Phasen, die beide nicht so richtig funktioniert haben“, sagte Bader und erklärte: „In der ersten haben wir richtig gut nach vorne gespielt, sind viel Risiko gegangen, da gab‘s teilweise Feuerwerke, aber auch mal acht Gegentore gegen Bayern oder ein 3:3 gegen Gladbach. Danach haben wir uns aufs Zerstören verständigt. Da waren viele eklige Spiele dabei.“ Damit legte er den Finger genau in diese angesprochene Wunde.
Mit einem offenen Brief hat der SV Darmstadt 98 nun auf den Abstieg aus der Fußball-Bundesliga reagiert. Die Mannschaft sei trotz ihrer zwischenzeitlich langen Sieglos-Serie intakt geblieben und habe sich immer wieder aufs Neue aufgerappelt. „Am Ende bleibt jedoch nüchtern festzustellen, dass wir verdient abgestiegen sind. Anders als in den Vorjahren ist es uns diesmal nicht gelungen, gemessen an unseren wirtschaftlichen Möglichkeiten überzuperformen“, heißt es einem vom Präsidium veröffentlichten Schreiben. Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Der Aufstieg ein Jahr zuvor war nicht unbedingt einkalkuliert. „In einen richtigen sportlichen Flow konnten wir leider aus verschiedensten Gründen die gesamte Saison hinweg nicht kommen“, räumten die Verantwortlichen um Clubboss Fritsch ein. Man werde die Gründe gewissenhaft intern aufarbeiten. Davon gehen die Fans und die Spieler sicherlich aus. Ein Abstieg ist für einen Verein wie den SV Darmstadt 98 nie eine Katastrophe, sondern immer die Chance für einen Neuanfang. Das steht und fällt mit den Entscheidungen, die in den kommenden Wochen getroffen werden. Lieberknecht brachte es auf den Punkt, die Aufarbeitung ist das Entscheidende.