Sind Netflix, Disney+ und Co dabei, das klassische TV abzulösen? Die Öffentlich-Rechtlichen sowie die privaten Sender schlafen nicht und schieben Eigenproduktionen an oder bauen Online-Angebote aus. Wie stellt sich das Fernsehen auf, um attraktiv zu bleiben?
Als Thomas Gottschalk mit – natürlich – einem Bagger aus der Baden-Arena in Offenburg gefahren wurde, hatte sich der Dino nochmals aufgebäumt und ordentlich abgeliefert. Mehr als zwölf Millionen Zuschauer hatten sich die nun wirklich allerletzte Ausgabe von „Wetten, dass..?!“ im November im ZDF angeschaut. Ein mehr als veritables Ergebnis für die Show, die mit Unterbrechungen seit 1981 ausgestrahlt wurde. Das war noch mal eine Erinnerung an Zeiten, in denen der Fernseher am Samstagabend Kinder dazu einlud, länger aufzubleiben, und Schwiegermütter und Schwiegertöchter einhellig auf dem Sofa saßen und Hackigel oder Toast Hawaii aßen.
Es war aber auch eine Erinnerung an die Zukunft; daran, wie das klassische TV doch noch relevant sein kann – und nach wie vor ist. Bereits 2019 sagte der damalige ARD-Vorsitzende und Intendant des Bayerischen Rundfunks Ulrich Wilhelm in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Wir verstehen uns als ,öffentlich-rechtliche Inhalte-Anbieter‘, die auch im Radio- und im Digitalsegment sehr stark sind. Wenn sich die Mediennutzung ändert, ändern wir uns mit. Wir haben bereits vor Jahren begonnen, über Mediatheken, Nachrichten-Apps, Webangebote und Social Media unsere Inhalte auf verschiedene Plattformen zu bringen.“
Anbieter locken mit großen Produktionen
Dass es dringend notwendig ist, etablierte Formate an den Zeitgeist anzupassen, ist bei den Senderchefs also unstrittig. Und die Konkurrenz ist stark: Streamingplattformen locken mit einem nicht-linearen Programm. Ihre Mediatheken ermöglichen einen Fernsehkonsum, der nicht nur vor dem klassischen TV-Endgerät, sondern auch auf dem Handy oder Tablet erfolgen kann – und zwar zu jeder Tages- oder Nachtzeit, wenn es der Kunde will – und nicht zu einer bestimmten Sendezeit.
Netflix, Amazon und weitere Konsorten locken mit großen Weltstars in aufwendigen Produktionen, die nicht mehr an Quoten gebunden sind, da die Kunden mit ihren Abos dafür ja bereits bezahlt haben. Die anfänglichen Erfolge mit vielfach ausgezeichneten Produktionen wie „House of Cards“ (Netflix, 2013 bis 2018) oder „Transparent“ (Prime Video, 2014 bis 2019) haben die Abozahlen dementsprechend auch steigen lassen. Streamingdienste schossen regelrecht wie Pilze aus dem Boden. Disney+, Paramount+, RTL+ – gefühlt täglich erscheint ein neuer Dienst, der mit neuen Filmen oder Serien Kunden generieren möchte. Doch die Abozahlen stagnieren und neue Werbeblöcke trotz eines abgeschlossenen Abos irritieren Zuschauer.
Aber das herkömmliche Fernsehen schläft natürlich nicht. Viele heutige TV-Geräte oder zusätzliche Receiver können bestimmte TV-Inhalte aufnehmen und für spätere Zeitpunkte speichern – also streamen. Die Inhalte der Mediatheken kann man sich zudem auf so ziemlich allem anschauen, was einen Bildschirm und eine Internetverbindung hat. Manchmal nervt es auch einfach, sich aus der riesigen Auswahl an Tausenden Filmen und Serien einer Mediathek einen passenden Film auszusuchen.
Dazu passt die Meldung der ARD aus dem Dezember, die die Sendeanstalt mit Stolz präsentierte: Betrachtet man lediglich die deutschen Streamingangebote, dann geht die Mediathek der ARD im Jahr 2023 mit gutem Abstand als Siegerin hervor: Rund 2,3 Millionen Menschen nutzen das Angebot – täglich. Es folgen die ZDF-Mediathek mit 1,9 Millionen Menschen und dann mit deutlichem Abstand RTL+ (0,8 Millionen Menschen) und Joyn (0,4 Millionen Menschen).
Dementsprechend erfreut zeigt sich ARD-Programmdirektorin Christine Strobl: „Das zeigt uns: Wir sind mit unserer Programmreform auf dem richtigen Weg. Es zahlt sich aus, die Mediathek zu stärken und Gelder ins Digitale umzuschichten, ohne unsere klassischen Ausspielwege dabei aus den Augen zu verlieren.“ Sogar in der jüngeren Zielgruppe zwischen 20 und 49 Jahren erreicht die ARD eine Tagesreichweite von 0,9 Millionen Usern und somit ebenfalls Platz eins. Wie die amerikanischen Streaming-Giganten Netflix, Disney+, Amazon Prime Video, Paramount+, Apple TV+ und Co in Deutschland abschneiden, lässt sich nicht wirklich sagen, da sie keine vergleichbaren Zahlen veröffentlichen.
Das Erste punktet bei Film und Serie. Die vierte Staffel von „Babylon Berlin“ etwa lief als Premiere auf Sky, schaffte aber dennoch in der Mediathek 21 Millionen Streamviews. Die achtteilige Reihe „Tage, die es nicht gab“ wurde 13,2 Millionen Mal aufgerufen. Ebenfalls top zeigten sich die fünf Folgen von „Asbest“ mit 9,4 Millionen Streamviews. Meistgesehene Dokumentation des Jahres war „Loriot 100“ mit knapp 1,5 Millionen Streamviews. Trotz gewaltiger Konkurrenz von allerlei Fake-News-Verbreitern auf diversen Video-Plattformen ist mit durchschnittlich 9,451 Millionen weiterhin die „Tagesschau“ die am häufigsten gesehene Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen.
Gemeinsames Angebot von ARD und ZDF
Ein Pluspunkt der beiden großen Mediatheken-Player ARD und ZDF: Mit einem bestehenden Konto kann man auch jeweils Inhalte des anderen Senders sehen. Das ist möglich, da die beiden TV-Urgesteine ein gemeinsames Streaming-Netzwerk anbieten. Damit können Nutzerinnen und Nutzer in der ARD-Mediathek ZDF-Inhalte finden und umgekehrt. Zusammen verfügen die beiden Sender über einen Inhalte-Katalog von mehr als 250.000 Filmen, Dokumentationen, Satire- und Serienstoffen.
Wer sich noch nicht angemeldet hat, kann sich trotzdem auch gemischte Playlisten aus beiden Angeboten zusammenstellen. Die ZDF-Mediathek versteht sich selbst stärker als eigenständig komponiertes Angebot, dessen Schwerpunkt die nonlineare Bereitstellung von Inhalten ist – also die von der TV-Ausstrahlung unabhängige. Für das jüngere Publikum stehen zudem zahlreiche Inhalte von Funk ebenfalls in der Mediathek bereit. Über die Mediathek lassen sich die drei ZDF-Kanäle ZDF, ZDF Neo und ZDF Info sowie die Gemeinschaftssender 3sat, Phoenix, KiKA und Arte anschauen. Über die ARD-Mediathek werden zahlreiche Sendungen und Beiträge als Abrufvideos angeboten. Dabei handelt es sich vor allem um Eigen- oder Auftragsproduktionen, die in Das Erste, den ARD-Digital-Programmen oder den dritten Fernsehprogrammen der ARD ausgestrahlt wurden. Das Erste, die Dritten, One und ARD Alpha sind mit eigenen Kanälen vertreten.
Qualität der Formate ist das A und O
Die Nummer drei im Lande ist wie bereits erwähnt RTL+, früher „TV Now“. In der Mediathek können zahlreiche Sendungen, Filme und Serien nach Ausstrahlung sieben Tage kostenfrei angesehen werden, einige ausgewählte Inhalte auch über einen längeren Zeitraum oder dauerhaft. Darunter sind zugkräftige Namen wie „Deutschland sucht den Superstar“, „Alarm für Cobra 11 – Die Autobahnpolizei“ oder die Nachrichtensendung „Punkt 12“. Kostenfreie Angebote können ohne Anmeldung im sogenannten Free-Bereich angesehen werden. Natürlich kann man sich ein Paket für sämtliche Angebote extra buchen, dies heißt dann RTL+ Premium. Seit 2019 produziert und veröffentlicht der Sender exklusive Inhalte, ähnlich also wie ARD, ZDF, Netflix oder Prime Video. Namhafte Beispiele sind „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, „Temptation Island“ und „Prince Charming“. Die erste schwule Datingshow Deutschlands wurde 2020 direkt mit dem Grimme-Preis in der Kategorie „Unterhaltung“ ausgezeichnet.
So ziemlich alle anderen TV-Sender arbeiten nach dem gleichen Prinzip: Lineares Fernsehen weiter und parallel Mediatheken mit einigen Eigenproduktionen anbieten. Wieso gibt es dann eigentlich noch das klassische Fernsehen? Da dürfte die Bequemlichkeit eine große Rolle spielen. Bedienung und Einrichtung gerade der Öffentlich-Rechtlichen sind sehr einfach. Zudem sind die Angebote vor allem von der ARD mit ihren schier zahllosen Regionalprogrammen und dem ZDF kostenlos zugänglich, abgesehen vom monatlich zu entrichtenden Rundfunkbeitrag. Die Angebote von RTL Deutschland und der ProSiebenSat.1-Gruppe sind teilweise ebenfalls kostenfrei, haben allerdings auch Premium-Varianten, die erst alle Inhalte anbieten.
Alle Angebote haben ihre Daseinsberechtigung und können sich sehr sinnvoll ergänzen. Das bringt uns zurück zu Thomas Gottschalk beziehungsweise zum Erfolg des „Wetten, dass..?“-Revivals: Wenn es gelingt, hochwertige Produktionen weiterhin zu stemmen und/oder gewisse Sendungen als Event aufzuziehen, werden die großen Streamer das klassische Fernsehen nicht einfach so verdrängen. Dazu ist es vermutlich auch noch zu sehr im kollektiven Gedächtnis verankert. Und schließlich hat das Fernsehen auch die Einführung der Videotheken überlebt.