Kurz vor den Wahlen in Bayern sorgt ein Skandal aus der Jugend von Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger für Aufsehen. Doch auch wenn laut aktuellen Umfragen die Mehrheit der Bayern überzeugt ist, dass an dem Vorwurf etwas dran ist, steigen die Prozente für die Freien Wähler.
Es ist 1987. Die „Weiße Rose“-Stiftung wird gegründet, Sami Khedira wird geboren, Andy Warhol verstirbt, Thomas Gottschalk moderiert die erste Folge „Wetten, dass..?“ – und in der Schultasche des 16 Jahre alten Hubert Aiwanger wird am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ein Flugblatt gefunden, das ihm erst 36 Jahre später zum Verhängnis werden soll.
Es sind keine schönen Tage für den stellvertretenden Bayerischen Ministerpräsidenten und Freie-Wähler-Boss Hubert Aiwanger. Innerhalb einer Woche überschlagen sich die Ereignisse rund um die Flugblatt-Affäre um den Vize. Und so auch seine Aussagen: Erst besteht er darauf, nichts mit dem Gedruckten zu tun zu haben, dann ist es ein Interpretationsproblem, dann entschuldigt er sich aber – alles in allem fehlt schlicht die Erinnerung daran. Treu bleibt Aiwanger sich aber in einem Punkt: Bei den Anschuldigungen muss es sich um eine „Schmutzkampagne“ gegen seine Person handeln!
36 Jahre altes Flugblatt
Aber was ist eigentlich passiert? Am 25. August, 41 Tage vor der Landtagswahl in Bayern, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ erstmals über ein antisemitisches Flugblatt, das von Aiwanger während seiner Schulzeit verfasst worden sein soll. Darin geht es um einen „Bundeswettbewerb“, bei dem „der größte Vaterlandsverräter“ gesucht werde. Zu „gewinnen“ gebe es hierbei für die „Plätze 1 – 1.000“ den Aufenthalt in Dachau. Auf menschenverachtende Weise ist hier die Rede von verschiedensten Exekutionsarten: „1. Preis: Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ oder „3. Platz: Ein kostenloser Genickschuss“.
Keine 24 Stunden später meldet sich Aiwanger selbst: Das „ekelhafte und menschenverachtende“ Flugblatt habe er nicht verfasst. Dennoch gibt er zu: „Ein oder wenige Exemplare“ davon haben sich tatsächlich damals in seiner Tasche befunden. Ob er davon aber welche weitergegeben habe, sei ihm „heute nicht mehr erinnerlich“. Auch habe er Disziplinarmaßnahmen der Schule erfahren, denn obwohl ihm der Verfasser dieser Zeilen bekannt sei, sei es damals wie heute nicht seine Art gewesen, „andere Menschen zu verpfeifen“.
Es dauert auch nicht lange, bis Aiwangers ein Jahr älterer Bruder Helmut der „Passauer Neuen Presse“ gesteht: „Ich bin der Verfasser des in der Presse wiedergegebenen Flugblattes.“ Die „Folgen der Aktion“ bedauere er sehr, es sei eine Reaktion gewesen, weil er in der Schule durchgefallen und aus seinem „Kameradenkreis herausgerissen“ wurde. Das habe ihn „total wütend“ gemacht.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) reagiert zwei Tage später mit der Ansetzung einer Sondersitzung des Koalitionsausschusses. Die Vorwürfe gegen seinen Stellvertreter seien zu ernst. Aiwanger dürfe „entscheidende Fragen nicht unbeantwortet lassen“, betont auch Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU). Aiwanger müsse sich „persönlich und umfassend“ erklären. Noch vor besagter Sondersitzung ist es wieder Helmut Aiwanger, der sich zu Wort meldet, dieses Mal dazu, wie die Flugblätter überhaupt in den Besitz seines Bruders kamen: „Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, dass Hubert sie wieder eingesammelt hat, um zu deeskalieren.“
Während der Sitzung gerät Aiwanger weiter unter Druck: Söder fordert die schriftliche und zeitnahe Beantwortung eines 25 Punkte langen Fragenkatalogs. Eine konkrete Frist gibt es nicht. „Bis zur abschließenden Klärung“ halte Söder aber eine Entlassung Aiwangers aus dessen Amt für „Übermaß“. Das erste Lebenszeichen Aiwangers danach ist allerdings nicht die Beantwortung des Fragebogens, sondern ein Post auf der ehemals als Twitter bekannten Plattform „X“: „Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los.“
Anschuldigungen häufen sich
„Schmutzkampagne“ oder nicht, die Vorwürfe nehmen zu: Aiwanger solle als Schüler beim Betreten des Klassenzimmers ab und an „einen Hitlergruß gezeigt“ haben, wie sich ein ehemaliger Mitschüler erinnern will. Auch dessen Sprechweise habe er oft imitiert und judenfeindliche Witze gerissen. „Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll“, sagt Aiwanger gegenüber der „Bild“. Noch am selben Tag schwächt er die schwammigen Aussagen weiter ab: „Es ist auf alle Fälle so, dass vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden kann“, sagt er am Rande eines öffentlichen Auftritts beim TV-Sender „Welt“. Dennoch: Er sei „die letzten Jahrzehnte kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund“ gewesen. Gefragt nach den Rückmeldungen, die er seit Bekanntwerden der Flugblatt-Affäre bekommen habe, antwortet er: „Ich habe sehr, sehr überwiegend die Aussage, dass hier eine Schmutzkampagne gefahren wird und dass ich hier politisch und auch persönlich zerstört werden soll.“ Noch abends äußert er sich wieder auf „X“: „Es wird immer absurder. Eine andere Person behauptet, ich hätte ‚Mein Kampf‘ in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?“ Auch diese Vorwürfe seien ihm „nicht erinnerlich, aber vielleicht auf Sachen zurückzuführen, die man so oder so interpretieren kann“.
Am 31. August lädt Aiwanger kurzfristig zu einer persönlichen Stellungnahme ein – der Gegenangriff. „Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet oder Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe“, sagt er. Er bleibt dabei: Das Flugblatt stamme nicht aus seiner Feder. Aber: „Weitere Vorwürfe wie menschenfeindliche Witze kann ich aus meiner Erinnerung weder vollständig dementieren oder bestätigen. Sollte dies geschehen sein, so entschuldige ich mich dafür in aller Form.“ Diese Entschuldigung, so Söder, sei „überfällig“ gewesen. Auch erinnert der Ministerpräsident an die Beantwortung seines Fragenkataloges, der Aiwanger seit vier Tagen vorläge. „Am besten noch heute“, so der CSU-Politiker.
Auch Söder steht in der Kritik
Eine Beantwortung folgt zwar noch nicht, dafür weitere Selbsterklärungen bei einem Wahlauftritt in Niederbayern: „Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß gemacht“, sagt Aiwanger. Es gebe viele Dinge, die man im Nachhinein nicht mehr machen würde. Für viele ein Auftritt, der etwas im Widerspruch zu seinen vorherigen Dementis steht. Bei dem Vorwurf der Schmutzkampagne bleibt er aber weiterhin – und konkretisiert diesen: „Vielleicht, um die Grünen in die Landesregierung zu bringen“.
Von vielen Seiten erwartet, kommt wenige Tage später dann das Antwortschreiben von Aiwanger an Söder. „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich“, schreibt Aiwanger darin. Doch ganz so einschneidend scheint es nicht gewesen zu sein, antwortet doch Aiwanger im weiteren Verlauf auf neun der 25 Fragen damit, dass er sich nicht erinnere. „Die mit diesem Fragenkatalog angesprochenen Vorgänge liegen rund 36 Jahre zurück. Damals war ich 16 Jahre alt. Ich weise daher darauf hin, dass mir viele Details heute nicht mehr erinnerlich sind. Zudem kann der Wahrheitsgehalt vieler Vorwürfe nicht mehr zweifelsfrei festgestellt werden“, schreibt er in einer verfassten Vorbemerkung. Interessant: Die Schule hatte nach Aussagen Aiwangers auf das Einschalten der Polizei verzichtet, zwar mit der Polizei gedroht, „als Ausweg aber angeboten, ein Referat zu halten“. Ob er dieses auch gehalten hat? „Nach meiner Erinnerung wahrscheinlich ja“, schreibt er. Zu hoffen bleibt, dass dessen Inhalt bei den Hörern eher hängen blieb als bei dem Vorträger.
Für Ministerpräsident Söder wie für viele andere auch sind die Fragen „nur unzureichend beantwortet“. Dennoch hält er in der Gesamtabwägung an Aiwanger fest und will den Wirtschaftsminister im Amt belassen. Vor dieser Entscheidung habe er ein langes Gespräch mit seinem Stellvertreter geführt, sagte Söder während einer Pressekonferenz. Aiwangers Krisenmanagement sei „nicht glücklich“ gewesen, die Entschuldigung sei aber „nicht zu spät“ gekommen. Aiwanger habe sich entschuldigt, distanziert und Reue gezeigt. „Ein Beweis jedoch, dass er das Flugblatt verfasst oder verbreitet hat, gibt es bis heute nicht“, so Söder weiter. Außerdem: „Das Ganze ist in der Tat 35 Jahre her. Kaum einer von uns ist heute noch so, wie er mit 16 war.“
Viele Fragen bleiben am Ende offen: Woher stammte die Info zu dem Flugblatt? Warum wurde es erst jetzt bekannt? Wieso hat die Schule damals nicht durchgegriffen? Kann eine solch detaillierte Schilderung verschiedener Hinrichtungen tatsächlich allein im Kopf eines 16- oder 17-Jährigen aus reiner Wut entstehen?
Geschadet hat die Affäre den Freien Wählern in Bayern nicht, wenn man sich die aktuellen Umfragewerte anschaut – diese sind seit Bekanntwerden des Vorfalls je nach Institut sogar um bis zu vier Prozent gestiegen. Skurril: Auch wenn nach GMS-Umfrage 67 Prozent der Befragten Söders Entscheidung, Aiwanger im Amt zu lassen, für richtig halten, glauben laut gleicher Umfrage nur 39 Prozent, dass Aiwangers Bruder Helmut das Pamphlet verfasst hat, dafür aber ganze 53 Prozent, dass es Hubert Aiwanger selbst war.
Auch Markus Söder scheint aus dem Drama nicht ganz ohne Kritik herauszukommen. Aus der Schwesterpartei CDU wird, wenn auch zurückhaltend, Kritik laut. „Es hat mich schockiert, dass Aiwanger nach Söders Entscheidung geradezu triumphierend aufgetreten ist, anstatt, wie gefordert, Reue und Demut zu zeigen“, so CDU-Vize Karin Prien gegenüber der „Zeit“. „Die Debatte um Aiwanger und die Tatsache, dass er im Amt bleibt, ist eine Zäsur für die Erinnerungskultur in Deutschland.“ Aiwanger betreibe eine „Täter-Opfer-Umkehr“, das sei „wirklich verwerflich“.
Nach Wahlprognosen wäre ein „Weiter so“ von CSU und Freien Wählern möglich. Auch die CSU möchte an der Koalition festhalten. Das erklärte Markus Söder nach einer Vorstandssitzung in München. Laut ZDF Politbarometer wäre das auch den meisten Bayern lieb: 48 Prozent der Befragten fänden eine Fortsetzung des aktuellen Bündnisses gut, 33 Prozent schlecht und 14 Prozent wäre es egal. Eine Regierung aus CSU und Grünen fänden nur 32 Prozent gut und eine Mehrheit von 58 Prozent schlecht. Auch ein schwarz-rotes Bündnis wird mit 49 Prozent deutlich abgelehnt.