Seit Monaten diskutiert Deutschland wieder über eine Wehrpflicht, die seit 2011 ausgesetzt ist. Drei Modelle stehen im Mittelpunkt der Debatte: freiwilliger Wehrdienst (wie derzeit praktiziert), Wehrpflicht (wie sie war) oder Dienstpflicht für alle.
Die Zahlen, die Verteidigungsminister Pistorius (SPD) beim Bürgerfest des Veteranentags Mitte Juni vorgestellt hat, haben es in sich: Die Bundeswehr braucht in den kommenden vier Jahren einen Aufwuchs von 80.000 Frauen und Männern, um die angezielte Verteidigungsbereitschaft 2029 erreichen zu können. Das Argument, dass es dazu an Geld fehlen würde, hat sich mit der Aufhebung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben erledigt. Hauptproblem ist das Personal – und zwar in doppelter Hinsicht.
Es gibt zu wenig Nachwuchs, obwohl die Bundeswehr in den letzten zwei Jahren bei der Personalgewinnung dank massiver Werbung recht erfolgreich war. Die altersbedingten Abgänge konnten durch Neuwerbungen im letzten Jahr erneut ausgeglichen und die Stärke von 182.000 Männern und Frauen gehalten werden. Würde es aber jetzt zu einem Ansturm auf Truppe, Luftwaffe oder Marine kommen, würde dies nicht helfen. Der Großteil der Bewerberinnen und Bewerber müsste zurückgestellt werden, weil es zu wenige Ausbilder gibt. Ganz abgesehen davon, dass es keine Unterbringungsmöglichkeiten gibt.
Sollstärke der Truppe: 250.000
Ein Beispiel aus der Marine veranschaulicht das Problem. Es gibt sechs einsatzfähige U-Boote, allerdings können wegen des akuten Personalmangels nur drei davon in See stechen. Um die drei anderen U-Boote personell wieder flott zu machen, würde es mindestens fünf Jahre dauern, und das auch nur, wenn Marine-Reservisten mit aushelfen. Selbst wenn genügend Freiwillige da wären, ginge es nicht schneller, es sei denn, nur noch zwei U-Boote der Bundesmarine wären einsatzbereit, derweil die dritte Mannschaft ausbildet. Was dann wiederum den Nato-Vorgaben widersprechen würde, erläutert ein ehemaliger U-Boot-Fahrer gegenüber FORUM die anstehende Quadratur des Ausbildungs-Kreises.

Darum befürwortet auch der neue Wehrbeauftragte des Bundestages, Henning Otte, zunächst die Freiwilligen-Lösung, obwohl der CDU-Abgeordnete wie seine Fraktion die Wehrpflicht wiederaufnehmen will. Allerdings liegt die derzeitige Freiwilligkeit bei ihm auf „Wiedervorlage, um spätestens im kommenden Jahr zu prüfen, ob vielleicht mehr verpflichtende Punkte gesetzt werden müssen, damit wir tatsächlich die anvisierte Sollstärke von 250.000 erreichen“, so Otte gegenüber FORUM.
Keine Wehrpflicht nach dem alten Muster
Momentan spricht einiges für das derzeitige Vorgehen des Wehrbeauftragten, da es wenig Sinn macht, jetzt „ganze Jahrgänge von jungen Männern der Truppe zuzuführen“, was diese „am Auftrag vorbei zu stark belasten“ würde. Darum soll die Bundeswehr schrittweise verstärkt werden. „Sie braucht einen aufwachsenden Personalkörper, der sich an der Auftragslage orientiert“, erläutert militärisch kurz der Leutnant der Reserve, der vor 35 Jahren seinen Wehrdienst beim Panzerbataillon 333 in Celle absolvierte.
Doch Henning Otte ist für Wiederaufnahme der Wehrpflicht nach altem Muster, weil dies parlamentarisch der schnellste und politisch einfachste Weg wäre. Dabei hat Henning Otte den gesamtgesellschaftlichen Anspruch im Blick. „Im Blaulichtbereich, im Sport, in der Pflege und allgemein im sozialen Bereich fehlt ebenfalls Personal, der Zivildienst könnte personalwerbend wirken.“ Wobei sich der Wehrbeauftragte offenbar auch ein verpflichtendes soziales Jahr vorstellen kann. Den Rahmen dazu hat Ottes Parteifreundin, die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, bereits vor fünf Jahren umrissen, sie nannte es damals ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für alle Schulabgänger.
Egal, wie man es nennt: Gerade in den Bereichen des gesellschaftlichen oder sozialen Spektrums steht man der Wiederaufnahme des Zivildienstes oder der Einführung verpflichtenden Gesellschaftsjahres aufgeschlossen gegenüber. Ob beim THW, DRK, Feuerwehr, Umwelt oder Naturschutz, vor allem aber in der Pflege wird händeringend Nachwuchs gesucht. Doch die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, warnt vor dem Trugschluss, dass damit zum Beispiel der massive Personalengpass in der Pflege schnell überwunden werden könnte (siehe nebenstehenden Interviewkasten). Auch in diesem Bereich gilt, wie bei der Bundeswehr: Viele neue junge Menschen könnten von jetzt auf sofort überhaupt nicht aufgenommen und angeleitet, geschweige denn ausgebildet werden. Doch darüber müssen sich die möglichen Nutznießer derzeit auch keine Gedanken machen. Die Wiederaufnahme der Wehrpflicht, des Zivildienstes oder Einführung eines Gesellschaftsjahres steht momentan nicht auf der Regierungsagenda der Arbeitskoalition, weil der SPD-Koalitionspartner beides kategorisch ablehnt.