Am 25. Mai 1983 gelang dem heutigen Fußball-Zweitligisten Hamburger SV der größte Erfolg seiner Vereinsgeschichte. Ein frühes Tor von Felix Magath im Olympiastadion von Athen reichte am Ende gegen den haushohen Favoriten Juventus Turin, um sich den Europapokal der Landesmeister zu sichern.
Lars Bastrup, Wolfgang Rolff, Ditmar Jakobs, Manfred Kaltz und Kapitän Horst Hrubesch. Vorne kniend von links: Bernd Wehmeyer, Holger Hieronymus, Jürgen Groh, Jürgen Milewski und Torwart Uli Stein - Foto: picture alliance / UPI
Bei Kaiserwetter, strahlend blauem Himmel und frühsommerlichen Temperaturen von bis zu 28 Grad versammelte der wortkarge „Grantler“ Ernst Happel seine Kicker zur Mannschaftsbesprechung. Der österreichische Erfolgstrainer des Hamburger SV hatte sich dafür an diesem Mittwochvormittag eine ziemlich ungewöhnliche Location ausgesucht und sein Team vor den Toren Athens um 11 Uhr auf der schattigen Terrasse eines Golfclubs Platz nehmen lassen. In gewohnter Weise fasste sich der als „harte Hund“ und Kettenraucher bekannte Coach, dem eine Vorliebe für Spielcasinos und Kaffee mit Weinbrand nachgesagt wurde, in seiner Ansprache ziemlich kurz. „Konzentriert euch.“
Happels modernes Spielsystem mit aggressivem Forechecking, Abseitsfalle und Raum- statt damals noch üblicher Manndeckung war jedem seiner Kicker längst in Fleisch und Blut übergegangen. Nur an einer klitzekleinen, aber ganz entscheidenden Schraube hatte der Taktik-Fuchs für das am Abend des 25. Mai 1983 im Olympiastadion Spyros Louis anstehende Finale im Europapokal der Landesmeister gegen den haushohen, von Giovanni Trapattoni betreuten Favoriten Juventus Turin gedreht.
Denn, um die Schaltzentrale des Star-Ensembles lahmzulegen, sollte der nimmermüde Dauerläufer Wolfgang Rolff wie eine Klette am Franzosen Michel Platini dranbleiben. Der französische Superstar hatte in seiner ersten Saison bei der „Alten Dame“ nach seinem Wechsel aus Saint-Étienne anfangs die hohen, in ihn gesteckten Erwartungen nicht ganz erfüllen können. Doch im Verlauf der Rückrunde hatte Platini allmählich zur Top-Form gefunden und sich mit 16 Treffern die Torjäger-Kanone der Serie A gesichert.
Auf den Schultern jedes Juventus-Spielers – von der Torwart-Legende Dino Zoff über die fünf weiteren 1982er-Weltmeister Claudio Gentile, Gaetano Scirea, Antonio Cabrini, Marco Tardelli und WM-Torschützenkönig Paolo Rossi bis hin zur Sturmspitze Roberto Bettega und den beiden prominenten ausländischen Neuzugängen Platini und dem offensivstarken Polen Zbigniew Boniek – lastete vor dem Athener Finale ein enormer Erfolgsdruck.
Der Dauersieger der Serie A hatte sich in der Saison 1982/1983 hinter AS Rom mit der Vize-Meisterschaft begnügen müssen. Der Gewinn der Coppa Italia konnte diese Schmach bei Weitem nicht ausmerzen. Zur Rettung der Saison musste daher unbedingt der Triumph im Europokal der Landesmeister her. Der Gegner aus Hamburg sollte dabei aus Juve-Sicht kaum ein Problem darstellen, schließlich hatten die „Bianconeri“ im Viertelfinale schon den englischen Titelverteidiger Aston Villa locker mit zwei Siegen ausgeschaltet. Die Siegesgewissheit der Turiner ließ sich allein schon durch die Vorabbuchung einer noblen Jachtclub-Feierlocation ableiten.
Auch die italienischen Boulevard-Medien hatten in ihren spöttischen Kommentaren über den kantigen Horst Hrubesch und die barbarischen Germanen keinerlei Zweifel an einem Juve-Erfolg über das aus italienischer Sicht „Team der Namenlosen“ aus Hamburg aufkommen lassen. Den HSV-Spielern war all das übermittelt worden, da brauchte es keine zusätzliche Motivation mehr. Happel hatte sich in der Umkleidekabine kurz vor dem um 21.15 Uhr beginnenden und vom rumänischen Spitzen-Unparteiischen Nicolae Rainea geleiteten Finale auf einen knappen Satz beschränkt: „Die Italiener haben das Spiel schon abgehakt. Die sind sich zu sicher.“
Mit Netzer kam Erfolg zurück
Was in solchen Fällen passieren kann, war Happel und seinen Kickern aus eigener leidvoller Erfahrung durchaus bewusst. Ein Jahr zuvor war der HSV als haushoher Favorit in die beiden Endspiele des Uefa-Pokals gegangen und hatte dabei wegen Überheblichkeit gleich zweimal gegen den krassen Außenseiter IFK Göteborg verloren. Daraus hatte der amtierende Deutsche Meister des Jahres 1982 seine Lehren gezogen, zumal auch die nationale Titelverteidigung 1983 aus eigener Kraft möglich war – und letztlich auch gelingen sollte. Angesichts der aktuellen Zweitklassigkeit des lange als ewiger Bundesliga-Dino bewunderten HSV ist es rückblickend sinnvoll, an die nationalen Erfolger der Hamburger vom Ende der 1970er-Jahre bis in die 1980er-Jahre hinein zu erinnern.
Der Traditionsverein, dessen drei Meistertitel 1923, 1928 und 1960 schon lange zurücklagen, der 1963 und 1976 den DFB-Pokal und 1977 erstmals mit dem Europapokal der Pokalsieger einen internationalen Wettbewerb gewann, war längst ins Mittelmaß abgedriftet. Doch mit der überraschenden Verpflichtung des Ex-Gladbacher Mittelfeldstrategen Günter Netzer 1978 als Jung-Manager wurde die fußballerische Renaissance des HSV eingeleitet.
Netzer, der nach Ende seiner aktiven Karriere 1977 eigentlich nur das HSV-Stadionheft verlegen wollte und über keinerlei Management-Erfahrung verfügte, traf wegweisende Entscheidungen. Beispielsweise die Verpflichtung von Trainer Branko Zebec und eine Umstrukturierung der Mannschaft mit den neuen Leistungsträgern Horst Hrubesch und dem eisenharten Vorstopper Ditmar Jakobs.
Nach 19 Jahren Pause wurde der HSV 1979 gleich in der ersten Saison unter Zebec wieder Deutscher Meister. Da der Coach seine Alkoholprobleme nicht in den Griff bekam, holte Netzer im Sommer 1981 Ernst Happel an die Alster, nachdem der Österreicher verschiedene Benelux-Clubs zu unerwarteten Erfolgen geführt hatte. Der HSV wurde unter Happel eine Macht in der Liga und blieb zwischen Januar 1982 und Januar 1983 in 36 Spielen (!) ungeschlagen.
Vor diesem starken Kontrahenten, der auf dem Weg ins Endspiel Dynamo Berlin, Olympiakos Piräus, Dynamo Kiew und Real Sociedad San Sebastián ausgeschaltet hatte, hätte Juventus daher eigentlich gewarnt sein können. Doch die Italiener, die schon bei der Platzbesichtigung lässig im edlen Look die in Trainingsklamotten aus dem Athener Hotel Inter-Continental aufgetauchten Hanseaten stilsicher in den Schatten stellten, hatten eigentlich nur gehörigen Respekt vor dem „Kopfball-Ungeheuer“ Horst Hrubesch. Diesen robusten Kerl konnte man eben nicht so einfach aus dem Weg räumen, wie es der eisenharte Verteidiger Claudio Gentile im Athener Finale mit dem dänischen Angreifer Lars Bastrup machte. Der bis dahin erfolgreichste HSV-Torschütze der Europapokal-Saison erhielt einen solchen Schlag ins Gesicht, das sein Kiefer brach und er ausgewechselt werden musste.
Stein hielt alles, was aufs Tor kam
Beim Anpfiff glich das mit 73.500 zahlenden Zuschauern und 7.000 Ehrengästen restlos ausverkaufte Olympia-Stadion bei angenehmen 23 Grad und leicht vom Meer her wehendem Wind einem Tollhaus. Dafür waren vor allem die 40.000 Tifosi verantwortlich, die im weiten Rund eine Stimmung wie im Turiner Stadio Comunale erzeugten. Auch rund 10.000 HSV-Fans hatten die weite Anreise aus Deutschland auf sich genommen. Das Spiel wurde in 80 Ländern übertragen, in der Bundesrepublik drückten 18,7 Millionen TV-Zuschauer dem Außenseiter beide Daumen. Geradezu prophetisch und zweckoptimistisch hatte HSV-Keeper Uli Stein, der im Spiel mit einer ganzen Serie von Weltklasse-Paraden die Juve-Stars zur Verzweiflung brachte, seinen Kollegen eine ganz einfache Strategie vorgegeben: „Männer, ihr könnt Euch auf mich verlassen. Ich kriege keinen rein, ihr müsst nur ein Tor schießen.“
Und genau das taten seine in Rot gekleideten Vorderleute schon früh im Match. Die neunte Spielminute hatte gerade begonnen, als der Ball von HSV-Abwehrspieler Jürgen Groh auf die linke Angriffsseite geschlagen wurde. Dort landete er genau in den Füßen des 1976 vom damaligen Ligakonkurrenten 1. FC Saarbrücken an die Alster gewechselten, inzwischen 29 Jahre alten Hamburger Spielmachers Felix Magath.
Eigentlich schien für Juventus daraus keine gefährliche Situation zu drohen. Doch Magath nahm mit der Kugel plötzlich Fahrt auf und tanzte mit einer kurzen Körpertäuschung nach rechts den ihm entgegentretenden Roberto Bettega mit einem weiteren Schlenker nach links aus. Von der linken Strafraumgrenze nahm Magath aus etwa 18 Metern Torentfernung mit seiner linken Klebe Maß, und vorbei am verdutzten Dino Zoff schlug der Schlenzer genau im rechten Winkel ein. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass das Finale damit schon entschieden war. Im weiteren Spielverlauf aber bissen sich die Turiner an der aufopferungsvoll kämpfenden Hamburger Defensive rund um den technisch versierten Libero Holger Hieronymus und seinen Kollegen Jürgen Groh, Ditmar Jakobs sowie Manfred Kaltz die Zähne aus.
Zweites HSV-Tor aberkannt
Und auch, weil Wolfgang Rolff den Superstar Michel Platini völlig abmeldete. „Ich wäre am liebsten nach einer Stunde rausgegangen“, bekannte der völlig frustrierte Franzose später. Noch vor der Pause erzielte Wolfgang Rolff nach schönem Pass von Jürgen Milewski das zweite HSV-Tor, das aber wegen vermeintlichem Abseits nicht anerkannt wurde.
Am bedeutendsten HSV-Triumph der Vereinsgeschichte und Happels „größter Stunde als Trainer“ hatten neben den bereits genannten Kickern auch noch Bernd Wehmeyer und der für den verletzten Bastrup in der 56. Spielminute eingewechselte Youngster Thomas von Heesen ihren Anteil. Und Felix Magath sollte in Italien außerhalb der Juventus-Dunstglocke auch noch Jahrzehnte später als Held gefeiert werden, weil die „Alte Dame“ traditionellerweise auf nationaler Ebene ähnliche Beliebtheits-Defizite wie hierzulande Bayern München zu beklagen hat.