Anja Daniel-Zeipelt aus dem hessischen Leun leidet seit 21 Jahren an Epilepsie. Ein Interview über ihre Erfahrungen und ihren Umgang mit der Erkrankung.
Frau Daniel-Zeipelt, wissen Sie, wodurch bei Ihnen Epilepsie ausgelöst wurde?
Ich hatte im Alter von 33 Jahren einen schweren Sturz mit Inline-Skates. Dabei schlug ich mehrfach mit dem Kopf auf. Da kurze Zeit später die ersten Symptome auftraten, liegt es nahe, dass dieser Vorfall die Ursache meiner Anfälle war. Ganz genau weiß man es aber nicht, denn ich ging damals erst viel zu spät zum Arzt, weil ich meinen Chef nicht durch meine Krankmeldung belasten wollte. Ein nicht empfehlenswerter Gedankengang.
Was waren die ersten Anzeichen Ihrer Erkrankung?
Kurze Blackouts während meines Alltags, die ich selbst nicht bemerkte. Meine Mitmenschen sprachen mich anschließend auf Dinge an, die von einer Fremden hätten stammen können. Ein-, zweimal bemerkte ich selbst, dass ich die körperliche und geistige Kontrolle verloren hatte, das war für mich erschreckend und der Auslöser, dringend zum Arzt zu gehen.
Wie kam es schließlich zur Diagnose? Und durch welche Untersuchungen wurde die Erkrankung festgestellt?
Meine damalige Hausärztin leitete von meinen Erzählungen Absencen (kurze Verluste des Bewusstseins) ab und überwies mich zur Abklärung an einen Neurologen. Dort gab es die typischen Untersuchungen wie ein EEG. Der Neurologe verordnete mir Medikamente, die ich aber sehr schlecht vertrug. Ich schlief 16 Stunden am Tag, lagerte unglaublich viel Wasser ein und wurde irgendwie abgestumpft. Es ging mir nicht gut, aber die Anfälle veränderten sich positiv. Mein Arzt kommentierte dies mit „Pest oder Cholera“, was mich zu einem Wechsel des Neurologen animierte. Ab da begann eine jahrelange Suche nach Diagnose und Behandlung. Nach mehreren Klinikaufenthalten diagnostizierte man mir in Schwalmstadt/Treysa eine komplex fokale Epilepsie und parallel dissoziative Anfälle.
Wie war es für Sie, als die Diagnose gestellt wurde?
Durch die vorab unterschiedlich gestellten Diagnosen von verschiedenen Ärzten war meine Unsicherheit dahingehend natürlich groß. Absencen, fokale Anfälle, komplex fokale Anfälle bis hin zu dissoziativen Anfällen. Als ich dann in Schwalmstadt/Treysa diagnostiziert wurde, war ich unendlich dankbar, denn ich sah Licht am Ende des Anfallstunnels. Kennst du dein Problem, kannst du es besiegen.
Wie genau sehen Ihre Anfälle aus – wie können Laien sich das vorstellen?
Die Anfälle haben sich im Laufe der Jahre verändert. Begonnen hat es mit den genannten Blackouts, an die ich mich nicht erinnern konnte. Bei den späteren Anfällen spürte ich zuerst die Aura (bezeichnet in der Neurologie Wahrnehmungsstörungen und Affekte, denen in der Regel ein Anfall von Migräne oder Epilepsie folgt; Anm. d. Red.), dann zitterte mein rechter Arm, was sich auf meine rechte Seite ausbreitete. Dabei war ich umdämmert und bekam – sehr eingeschränkt – alles mit. Diese Anfälle dauerten gefühlt ewig und schmerzten sehr. Der Ablauf ist heute zwar noch der gleiche, aber die kürzere Dauer reduziert auch die Schmerzen, die eigentlich nur noch da sind, wenn ich mehrere Anfälle hintereinander bekomme.
Wie lange dauern diese Anfälle und wie häufig sind diese bei Ihnen?
Früher dauerten meine Anfälle meist insgesamt 30 bis 45 Minuten. Es waren mehrere Anfälle, mit ganz kurzen Pausen dazwischen. In meinen Hochphasen waren es bis zu acht Anfälle am Tag. Heute sind die Anfälle kurz, maximal zwei Minuten. Zwar kommen auch schon mal zwei bis drei Anfälle hintereinander, aber die Häufigkeit ist massiv zurückgegangen. Momentan habe ich circa zwei bis vier Anfälle im Monat.
Merken Sie, wenn ein Anfall bevorsteht?
Glücklicherweise ja. Mir wird komisch im Bauchbereich, mit „flau“ lässt es sich ganz gut beschreiben, finde ich. Das Gefühl zieht weiter nach oben in den Nacken/Kopfbereich und macht sich dann Platz. Es ist schwer zu beschreiben, weil ich es selbst nicht klar nachvollziehen und die passenden Worte finden kann. Bei früheren Anfällen empfand ich mich und die Welt dazu irgendwie verlangsamt, das tritt nur noch selten auf.
Wie fühlen Sie sich nach Anfällen? Und haben diese irgendwelche Folgen?
Nach Anfällen ist mein Allgemeinzustand von Müdigkeit und Kraftlosigkeit geprägt, entsprechend der Intensität des Anfalls oder der Anfälle. Manchmal bin ich auch wütend oder traurig, speziell wenn ich wegen eines Anfalls gerade etwas Schönes verpasse, auf das ich mich sehr gefreut habe. Manchmal laufen Tränen, ein anderes Mal bin ich einfach nur dankbar, dass es nicht schlimmer ist. Wie bei jedem anderen Mensch ist ein Tag nicht wie der andere, aber insgesamt nehme ich es positiv. Die Folgen der Anfälle sind bei mir oftmals Gedächtnisprobleme, die ich aber mit Humor nehme. Alles andere macht in meinen Augen keinen Sinn und hilft niemandem.
Haben Sie neben den Anfällen noch weitere Symptome und/oder Begleiterkrankungen?
Meine Gedächtnisprobleme habe ich ja bereits erwähnt. Ab einer gewissen Uhrzeit fällt mir die Konzentration auch zunehmend schwerer. Da ich noch mehrere Begleiterkrankungen habe und dagegen Medikamente einnehme, ist es aber schwer, diese Symptome der tatsächlichen Ursache zuzuordnen. Aber ich konnte mein Leben weitgehend anpassen und komme gut damit zurecht. Ein bisschen „verschmitztes Augenzwinkern“ hilft auch.
Wie hat sich Ihr Leben durch die Epilepsie verändert – waren Sie zum Beispiel häufig im Krankenhaus, mussten Sie aufgrund der Krankheit Ihren vorherigen Job aufgeben, können Sie jetzt nicht mehr Auto fahren oder Ähnliches?
Mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt. Durch die Anfälle verlor ich meine Arbeit. Die Frau meines Chefs bat mich, sofort zu kündigen, als sie von meiner Diagnose erfuhr. Auto fahren durfte ich natürlich auch nicht mehr, was für meine acht- und zehnjährigen Kinder sehr schlimm war, denn wir leben auf dem Land, an einer Kreisgrenze, und der Nahverkehr war in diese Richtung schlicht grottig bis nicht vorhanden. Privat war ich früher stets „mittendrin statt nur dabei“. Und das mit Herz und Seele. Das hatte ich mir weitgehend erhalten. Meine Freunde und Vereinskameraden hatten keine Probleme mit meinen Anfällen, wahrscheinlich auch, weil ich mich meist früh genug zurückziehen konnte, dank meiner Aura. Vor allem aber, weil ich mich selbst nicht so ernst nehme.
Wie sehen Ihr Leben und Ihr Alltag heute aus?
Beruflich gebe ich Computerkurse, unter anderem für nette Senioren, die altersbedingt jedes Verständnis für Vergesslichkeiten haben. Dazu betreibe ich einen Selbstbedienungsschrank für kleine Geschenke und Handmade-Artikel, die ich gemeinsam mit meinem Mann herstelle. Das erfüllt schon einen großen Teil unserer Zeit. Meine Kinder sind heute schon lange erwachsen und haben uns in der Covid-Krise drei wunderbare Enkelkinder geschenkt. Die Zeit mit den drei Jungs genieße ich sehr. Dazu haben wir noch drei Urgroßeltern, die uns immer öfter brauchen, und einen sehr agilen Hund, der mich täglich in die Natur treibt.
Sie sind Epilepsie-Botschafterin für einen Arzneimittelhersteller. Wie genau sieht diese Tätigkeit aus?
Ähnlich wie hier. Meist erzähle ich auf Veranstaltungen meine Geschichte und beantworte Fragen. Manchmal erarbeite ich auch einen Vortrag nach Themenwunsch eines Veranstalters oder wir erarbeiten gemeinsam Hilfen für Betroffene. Wir hatten unter anderem tolle Telefon-Aktionen für Patienten oder erarbeiteten leicht verständliches Informationsmaterial. Namen von Arzneimitteln oder deren Hersteller werden aber prinzipiell nicht genannt, das ist sehr wichtig und unsere oberste Regel. Es ist auch nicht damit getan, eine Tablette zu nehmen, und damit verschwinden die Probleme. Gerade Epilepsie ist eine sehr komplexe und schwierige Erkrankung, die das Leben der Patienten auf eine ganz eigene Art beeinflusst und die mitunter viel Zeit für die optimale medikamentöse Einstellung des jeweiligen Patienten braucht, aber auch Hilfestellung im Umgang mit der Erkrankung. Diesen Umgang versuchen wir etwas zu erleichtern und zu motivieren.
Welche Medikamente und Therapien haben Sie ausprobiert und welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Gefühlt habe ich bereits alles durch, was natürlich nicht stimmt, aber elf verschiedene Medikamente habe ich probiert. Ich war zwischendurch auch anfallsfrei und hatte keinerlei Nebenwirkungen. Dann kam ich mit einer Gesichtsparese (schiefes Gesicht) in die Klinik. Die Ursache war mein damaliges Antiepileptikum, das abgesetzt werden musste. Nach der Medikamentenumstellung fanden wir keins mehr, das ich vertragen habe. Ich habe sehr viele Allergien und dazu reagiere ich mit Neben- oder Wechselwirkungen, wie zum Beispiel depressiven Verstimmungen, schwerem Juckreiz, Hautausschlägen und Anschwellungen auf manche Medikamente. Bei meinen anderen Medikamenten ist ein Wechsel aber unkomplizierter als bei Antiepileptika, die ja langsam eingeschlichen werden müssen. Das letzte Medikament, das ich versuchte, vertrug ich am wenigsten. Nach der Einnahme hatte ich Schwierigkeiten, meine Handlungen zu koordinieren, was zum Beispiel in der Küche dazu führte, dass ich das kochende Wasser statt in die Spüle in meine Richtung goss. Dank meiner schnellen Reaktion, zurück zu springen, war mir nicht viel passiert, aber der Schreck saß tief. Von so etwas hatte ich noch nie gehört, und wenn ich es anderen Patienten oder Ärzten erzähle, können sie es auch kaum glauben. Meine Überempfindlichkeit gewissen Stoffen gegenüber ist wirklich extrem selten, aber ich akzeptiere es und teste, was für mich Sinn macht oder nicht.
Haben Sie nun ein Antiepileptikum gefunden, das Sie gut vertragen?
Zum guten Schluss beschlossen meine Familie und ich, die Anfälle in Kauf zu nehmen und kein Antiepileptikum mehr zu nehmen. Da meinem Arzt auch kein Wirkstoff mehr einfiel, den ich bei meiner Anfallsart hätte probieren können, waren wir uns schnell einig. Meine Anfälle spüre ich kommen und weiß, dass sie schnell wieder vorbei sind. Ich habe dazu auch sehr viel Anfall-Selbstkontrolle praktiziert und finde es klasse, aber manchmal möchte ich einfach loslassen, weil ich es auch schon mal als zu anstrengend empfinde, so seltsam sich das anhören mag. Eine Medikamentenreduktion oder sogar das Absetzen des Medikamentes sollte man aber niemals auf eigene Faust und unkontrolliert tun, das möchte ich noch anmerken. Sollte ein neues Medikament auf den Markt kommen, das für mich infrage kommt, stehe ich dem aber definitiv offen und hoffnungsvoll gegenüber.
Haben Sie irgendwelche Hilfsmittel oder Tricks, die Ihnen das Leben mit der Erkrankung erleichtern?
Wie soll ich das sagen, ohne abgedroschen zu wirken? Mein Rezept sind Liebe, positives Denken und meine Familie. Wenn die Kleinen hier sind, verwöhne ich sie und krabbele auch selbst noch durch den Spieltunnel. Und wenn ich steckenbleibe, ist der Spielspaß erst recht garantiert und lenkt mich wunderbar ab. Die beiden Ältesten sind jetzt drei und ich hatte noch keinen Anfall in ihrer Gegenwart. Durch die verlorene Fahrerlaubnis verbringe ich viel mehr Zeit als früher mit meinem Mann und nehme das als nicht selbstverständliches Geschenk. Ich weiß mein Leben und meine Lieben zu schätzen und genieße die Zeit, wenn wir zusammen sind. Vor allem lachen wir ganz viel über sinniges und unsinniges Zeug. Das ist Balsam für die Seele und hilft mir enorm.
Welche Tipps würden Sie anderen Betroffenen geben?
Niemals aufgeben finde ich ganz wichtig. Es ist nicht immer der richtige Zeitpunkt für einen neuen Schritt, aber falls man gerade in einer Sackgasse steckt, verzweifelt oder mit der aktuellen Therapie unglücklich ist, sollte man darüber nachdenken und, nach Absprache mit Arzt und Familie, nicht zögern, ihn zu wagen. Leben Sie so, dass Sie auch mit der Epilepsie Freude haben, und tun Sie das, was Sie glücklich macht.