Noch nie habe es so viele Probleme gegeben wie heute, sagt Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn. Man habe die Bahn verlottern lassen – und verprelle mit einer ruppigen Digitalisierungsstrategie die Kundschaft.
Herr Neuß, seit wie vielen Jahren begleiten Sie das Wirken der Bahn als harter, aber herzlicher Kritiker?
Für Pro Bahn tue ich das seit etwa 20 Jahren. Meine persönlichen Bahn-Erfahrungen reichen viel weiter zurück. Vor meinem Ruhestand war ich 38 Jahre lang beruflich in Düsseldorf tätig und habe in Mönchengladbach gewohnt. Da bin ich immer mit der Bahn gependelt.
Können Sie sich an eine Zeit erinnern, in der die Bahn derart viele Probleme hatte mit ihrem Service, ihrer Pünktlichkeit – ja, überhaupt, ihr Angebot aufrecht zu erhalten?
Nein, so viele Probleme wie heute hat es noch nie gegeben.
Woran liegt das?
Die Wurzel der meisten Probleme ist die marode Infrastruktur. Es gibt ständig Weichenstörungen, Signalstörungen, Bahnübergangsstörungen, Stellwerkstörungen. Es ist teils Technik im Einsatz, die 50 Jahre zu alt ist. Andere Länder haben ihre Bahn nicht so verlottern lassen, sondern deutlich mehr investiert.
Welche Länder zum Beispiel?
Frankreich, Österreich, die Niederlande. In der Schweiz steckt man pro Kopf viermal so viel Geld in die Bahn wie in Deutschland. Und dann funktioniert es auch. Den Unterschied kann man im Grenzverkehr sehen. Es kommt inzwischen regelmäßig vor, dass ICEs aus Deutschland am ersten Schweizer Bahnhof in Basel aus dem Verkehr gezogen werden. Dann müssen alle aussteigen und mit Schweizer Zügen weiterfahren. So wird verhindert, dass die DB ihre Verspätungen in den Schweizer Taktfahrplan hineinträgt und diesen damit massiv durcheinanderwirbelt.
Nun beginnt die Bahn, ihr Streckennetz im großen Stil zu sanieren. So kommt es zu noch mehr Umleitungen, Verspätungen und Zugausfällen. Mutet man den Fahrgästen damit zu viel zu?
Das geht nun leider nicht mehr anders. Die Bahn ist über Jahrzehnte auf Verschleiß gefahren – mit vielen der heutigen Sanierungen hätte man besser schon 2014 oder 2004 begonnen. Und eigentlich bräuchte die Bahn einen noch viel größeren Modernisierungs- und Investitionsschub, um wirklich fit für die Zukunft zu werden. Eine Größenordnung von 100 Milliarden Euro wäre realistisch.
Die Größenordnung klingt nach Zeitenwende.
Die braucht es auf jeden Fall. Die Haushaltsberatungen der Bundesregierung für 2025 laufen derzeit allerdings darauf hinaus, der Bahn de facto noch mehr Schulden aufzubürden. Ständig wird von einer Mobilitätswende gesprochen, die nötig sei. Aber das ist eigentlich alles nur unterfinanziertes Gerede.
Bei der Sanierung mag es zu langsam vorangehen, aber in einem anderen Bereich wurde die Bahn zuletzt für ihr zu forsches Tempo kritisiert: beim Vorantreiben der Digitalisierung. Die Bahn müsse ein Verkehrsmittel für alle bleiben, forderte die Verbraucherzentrale. Bürgerrechtler kritisierten eine „entgleiste Digitalzwang-Strategie“. Ihr eigener Verband, Pro Bahn, verabschiedete eine „Resolution gegen Smartphonezwang im öffentlichen Verkehr“. Was ist da los?
Die Bahn will mit aller Macht ihre Digitalisierung vorantreiben. Sie hat deswegen beispielsweise den Verkauf von günstigen Sparpreis-Tickets am Schalter komplizierter gemacht – das funktioniert jetzt nur noch mit E-Mail-Adresse oder Handynummer – und an ihren Fahrkartenautomaten sogar komplett eingestellt. Sie hat die Nutzung ihres Vielfahrerprogramms in großen Teilen an ihre Smartphone-App gekoppelt. Auch die Bahncard, mit der man Rabatte auf den regulären Fahrpreis erhält, wollte die DB komplett in ihre App verlegen.
Davon rückte die Bahn nach einem großen öffentlichen Aufschrei wieder ab und führte einen auf Papier ausgedruckten QR-Code ein.
Ja, in dieser Hinsicht haben wir und andere mit unserer Kritik ein bisschen etwas bewegen können. Zumindest gibt es bei der regulären Bahncard nun keinen Smartphonezwang mehr.
Ist es nicht fahrlässig von der Bahn, auf diese Weise einen Teil ihrer Kundschaft von ihrem Angebot auszuschließen?
Das scheint sie als Kollateralschaden ihrer Digitalisierungsstrategie in Kauf zu nehmen. Bei der Bahncard rechnet sie offiziell mit fünf Prozent der Kundinnen und Kunden, die dadurch von der Nutzung der Bahn-Angebote ausgeschlossen werden. Wobei wir bei Pro Bahn diese Zahl mit Vorsicht genießen. Falls es wirklich nur fünf Prozent sein sollten, haben schon fast alle von denen sich bei uns beschwert.
Was ist aus Ihrer Sicht der Grund für das forsche Vorantreiben der digitalen DB-Angebote?
Die Bahn will ihren Vertrieb möglichst schnell möglichst ausschließlich über digitale Kanäle laufen lassen. Daraus macht sie auch gar keinen Hehl. Das ist für sie am einfachsten und am kostengünstigsten. Sie braucht dann kaum noch Vertriebspersonal.
Gegenüber ihrer Kundschaft nennt die DB einen anderen Grund: Dadurch, dass die Bahncard nun nicht mehr als echte Karte, sondern nur noch digital per App oder als Papierausdruck erhältlich sei, vermeide sie tonnenweise Plastikmüll – pro Jahr „ungefähr so viel wie zehn Elefanten wiegen“, schreibt sie auf ihrer Website.
Das Argument mit der Nachhaltigkeit ist vorgeschoben. Was ist eine kleine Plastikkarte, die man ein Jahr lang nutzt, im Vergleich zu dem Plastikmüll, den jede und jeder von uns tagtäglich beim Einkauf im Supermarkt erzeugt? Völlig absurd wird die Argumentation der Bahn, wenn man sich anschaut, welche Alternativen zur Plastikkarte schon heute gängig sind. Es gibt beispielsweise alltagstaugliche Karten aus Holz oder Bambus. Na klar, das kostet die Bahn dann ein bisschen mehr als die Variante mit der App. Aber warum gibt man den Kundinnen und Kunden nicht die Möglichkeit zu sagen: Ich möchte eine Karte statt der App haben und bin bereit, dafür fünf Euro Aufpreis zu zahlen?
Verbraucher- und Datenschützer kritisieren zudem, dass die Bahn-App unnötig viele persönliche Informationen ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu Analyse- und Marketingzwecken an andere Unternehmen weitergebe.
Datenschutz ist ein Thema, das die Bahn sehr ernst nehmen sollte. Es gibt bei uns im Verband zwar auch Leute, die diese Datenschutzbedenken für übertrieben halten. Und ich selbst kann mit einem solchen System ganz gut leben. Aber ich habe auch Verständnis dafür, wenn es Menschen gibt, denen der Schutz ihrer persönlichen Privatsphäre wichtig ist oder denen eine Komplettdigitalisierung der Gesellschaft Sorge bereitet. Und diese Menschen darf man nicht einfach von der Nutzung der Bahn-Angebote ausschließen. Im Sinne der Nachhaltigkeit wäre es notwendig, mehr Leute zum Umstieg vom Auto auf den Zug zu bewegen – und nicht umgekehrt!
Wurden Sie persönlich eigentlich auch schon mal Digitalzwang-Opfer der Bahn, beispielsweise indem Sie eine Dienstleistung mangels App nicht in Anspruch nehmen konnten?
Nicht so, dass ich komplett von einem Angebot ausgeschlossen wurde. Aber früher habe ich mit meiner Bahncard am Vielfahrerprogramm der Bahn teilgenommen. Das ging dann im vergangenen Jahr plötzlich nur noch per App. Weil die Bahn-App aber mit meinem alten Smartphone nicht funktionierte, musste ich mir dafür extra ein neues Gerät anschaffen. So viel zum Thema Nachhaltigkeit.