Das Fibromyalgie-Syndrom ist weltweit eine häufige Erkrankung. Der Anästhesist und Schmerztherapeut Prof. Frank Petzke spricht im Interview über das Krankheitsbild, die komplexe Diagnose und darüber, wie sinnvoll alternative Therapien sind und woran aktuell geforscht wird.
Herr Professor Dr. Petzke, warum spricht man überhaupt vom Fibromyalgie-Syndrom?
Für die meisten Erkrankungen können wir einen relativ eindeutigen Mechanismus festlegen. Anhand von Laborwerten oder Bildgebung können wir klar sagen, was für eine Erkrankung vorliegt. Für das Fibromyalgie-Syndrom ist das bisher nicht der Fall. Die Definition oder die Festlegung, was Fibromyalgie eigentlich ist, erfolgt über die verschiedenen Beschwerden, unter denen Patienten leiden – das nennen wir eine Syndrom-Beschreibung. Im Grunde genommen ist das eine beschreibende Diagnose, die bei der Untersuchung aus Angaben der Patienten und Befunden entsteht – auch zum Ausschluss anderer Erkrankungen. Aber wir haben keinen objektiven Test, um diese Krankheit bestätigen oder ausschließen zu können.
Woran liegt es, dass die Forschung bisher noch keine eindeutigen Ursachen für die Erkrankung finden konnte?
Fairerweise muss ich eines vorweg sagen: Seit 1990 arbeiten wir mit Kriterien des amerikanischen College of Rheumatology. Das sind Kriterien, die festgelegt haben, wie man das Fibromyalgie-Syndrom klinisch beschreiben und zuordnen kann. Seitdem gibt es auch zunehmend intensive Forschungsaktivitäten.
Das Problem ist einerseits, dass sich hinter dieser Diagnose vermutlich viele verschiedene Krankheitsbilder und -mechanismen verbergen. Das heißt, wir sprechen hier trotz grundsätzlicher Gemeinsamkeiten von einer sehr heterogenen Gruppe von Patienten. Sie teilen vermutlich eine gemeinsame Endstrecke der Erkrankung, was die Symptomatik und Beschwerden angeht. Allerdings können die Gründe, die dorthin führen, sehr vielfältig sein. Das erschwert die eindeutige Festlegung von Ursachen, denn sie treffen nur auf einen Teil der Patienten zu und können im Einzelfall in diversen Kombinationen auftreten.
Was sind die typischen Symptome, über die Fibromyalgie-Patienten klagen?
Worüber sie typischerweise berichten, sind Schmerzen am ganzen Körper, die häufig die Lokalisation wechseln und oft in den Muskeln oder Weichteilen empfunden werden, ohne dass hier Ursachen gefunden werden können. Sie berichten weiter über kognitive Störungen, Erschöpfung, Müdigkeit und Schlafstörungen. Das sind die Kern-Symptome, über die das Syndrom definiert wird.
Die Forschung und klinische Beschreibung weist hin auf Funktionsstörungen im Bereich des peripheren und zentralen Nervensystems, die zu einer verstärkten Schmerzwahrnehmung beitragen. Wir haben aber auch Belege für psychologische Mechanismen, die eine Rolle spielen. Das heißt, es gibt ein breites Spektrum, mit Patienten, wo mehr körperliche Faktoren das Krankheitsbild bestimmen, aber auch mit Patienten, bei denen psychologische Faktoren, beispielsweise durch ein erlittenes Trauma oder eine schwere Depression, in dieselbe Symptomatik führen. Zudem gibt es bei einem Teil der Patienten Hinweise für immunologische Vorgänge oder für Veränderungen an den Nervenfasern.
Wie nennt man das? Eine multikausale Erkrankung?
Das ist auf jeden Fall eine multikausale Erkrankung, die auch mit anderen Krankheitsbildern überlappen kann. Sie lässt sich wie andere chronische Schmerzerkrankungen gut ins bio-psychosoziale Modell einordnen. Die Herausforderung ist, die relevanten Faktoren im Einzelfall zu erkennen und für die Behandlung zu nutzen.
Die Fibromyalgie ist nicht zu verwechseln mit einer rheumatischen Erkrankung. Wie aber kommt es zu diesem weitverbreiteten Irrtum?
Das ist historisch zu sehen. Viele frühe Manifestationen einer entzündlichen Rheuma-Erkrankung lassen sich aufgrund von Überlappungen schwer vom Fibromyalgie-Syndrom unterscheiden. Für dieses Rheuma stehen uns eindeutige diagnostische Kriterien mit Blutwerten zur Verfügung. Mit Einsetzen der Behandlung bessern sich normalerweise die Symptome bei Rheuma-Patienten drastisch. Was schon 1990 auffiel, ist, dass innerhalb der Gruppe der Patienten einige die Kriterien nicht erfüllten und auch nicht auf eine Rheuma-Behandlung ansprachen. Für sie wurde der Begriff des Weichteil-Rheumatismus oder auch das Wort „Fibromyalgie“ (Schmerzen in Bindegewebe und Muskulatur, Anm. d. Red.) gewählt.
In der alten ICD-Klassifikation (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Anm. d. Red.) ist es auch unter rheumatologischen oder M-Diagnosen aufgeführt. Nicht wenige Patienten mit einem entzündlichen Rheuma entwickeln im Verlauf ihrer Erkrankung zusätzlich andersartige Beschwerden, die dann besser als Fibromyalgie-Syndrom zu beschreiben sind. Die primäre rheumatologische Behandlung schlägt bei ihnen nicht an.
Das heißt, das Fibromyalgie-Syndrom kann sich mit Rheuma überlappen?
Es kann ähnlich wie Rheuma sein und es gibt auch Patienten, die unter Rheuma und Fibromyalgie-Syndrom leiden. Aber für die Mehrzahl der Patienten mit Fibromyalgie-Syndrom kann keine Überlappung festgestellt werden. Insofern ist die Aussage korrekt: Das Fibromyalgie-Syndrom ist kein Weichteil-Rheuma. Interessanterweise kann man ähnliche Überlappungen auch mit anderen Krankheiten wie etwa mit Arthrose oder neurologischen Krankheitsbildern feststellen.
Es gibt aber kein einheitliches Diagnoseverfahren, um die Erkrankung festzustellen. Ist das richtig?
Das ist so nicht richtig. Anhand verschiedener Kriterien, die wir in der Fibromyalgie-Leitlinie empfehlen, können wir die Erkrankung eingrenzen und auch diagnostizieren. Beispielsweise gibt es einen Beschwerde-Fragebogen, wo gewisse Kriterien erfüllt sein müssen. Gefragt wird nach der Ausdehnung des Schmerzes in bestimmten Körperregionen und nach weiteren Symptomen wie Müdigkeit, kognitive Störungen und Erschöpfung. Wenn diese vorliegen, kann man an das Fibromyalgie-Syndrom denken. In einem zweiten Schritt muss man über eine ärztliche Basisuntersuchung andere Erkrankungen, wie etwa eine Schilddrüsen-Stoffwechselstörung, ausschließen, und kann dann die Diagnose stellen.
Laut der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung dauert es zwischen vier und acht Jahren vom Auftreten des Symptoms bis zur Diagnose. Warum dauert es oft so lange bis zur Diagnosestellung?
Innerhalb der Ärzteschaft ist das Krankheitsbild immer noch sehr umstritten. Es ist anzunehmen, dass viele ärztliche Kolleginnen und Kollegen das Stellen dieser Diagnose vermeiden. Eine Befürchtung dabei ist, dass die Diagnose negative Folgen haben könnte und die Patienten immer kränker werden und gar kein positives Krankheitsverhalten entwickeln können. Ich sehe in der Diagnosestellung aber vielmehr eine Chance, die nachvollziehbare Unsicherheit der Patienten zu beenden und eine angemessene Behandlung gegebenenfalls auch frühzeitig einleiten zu können.
Das heißt, manche Ärzte scheuen sich davor, diese Diagnose zu stellen, um so die Patienten zu schonen?
Ein Stück weit ist das so. Sicherlich gibt es auch andere Interpretationsmöglichkeiten. Viele Ärzte sagen, wenn sie die Diagnose stellen, informieren sich die Patienten im Netz, wo es viele auch falsche Informationen gibt, wie zum Beispiel, dass das Fibromyalgie-Syndrom eine unaufhaltbar fortschreitende Erkrankung ist. Gerade das wollen sie verhindern. Und gut über das Fibromyalgie-Syndrom zu informieren braucht Zeit, die oft in der Versorgung fehlt.
Angesichts der Beschwerde-Symptomatik braucht es auch eine gewisse Zeit, bevor man die Diagnose stellen kann. Das würde man nicht nach sechs Wochen tun, sondern frühestens nach mehreren Monaten; vorausgesetzt, dass zuvor einiges an Ausschluss-Diagnostik gemacht worden ist.
Der zweite Aspekt ist, dass Patienten mit der Diagnose zunächst oft verunsichert sind. Da sie gehört haben, dass kein krankhafter Befund an ihren Organen festgestellt werden konnten, konsultieren sie vielfach und oft auch wiederholt andere Fachärzte. Letztlich tragen vermutlich beide Seiten dazu bei, dass es bis zur definitiven Diagnosestellung dauern kann. Manchmal aufseiten der Ärzte, die zögern, die Diagnose zu stellen, und manchmal auf Patientenseite, die sichergehen will, dass nicht eine andere, vielleicht besser oder einfacher behandelbare Ursache für die Symptome vorliegt.
Wenn allerdings Patienten an dem Punkt sind, dass sie bei verschiedenen Ärzten waren und keine Diagnose gestellt wurde, ist das nicht selten eine Katastrophe. Da stimme ich den Patienten völlig zu. Erst wenn den Menschen klar gesagt und ausführlich erklärt wurde, „das ist es“, können sie sich darauf einstellen.
Was zeichnet eine gute, wirkungsvolle Behandlung von Fibromyalgie-Patienten aus?
Ich glaube, der erste wichtige Punkt ist, dass man Patienten mit ihren Beschwerden ernst nimmt und annimmt. Das gesamte Spektrum der Beschwerden sollte wahrgenommen und berücksichtigt werden. Der zweite Punkt ist Edukation. Die Patienten sollen verstehen, dass Überlappungen mit anderen Krankheitsbildern vorkommen und dass nicht allein anhand des Blutwertes eine Diagnose gestellt werden kann. Die Frage ist, wie Patienten mit eigenen Aktivitäten ihr Krankheitsbild verbessern und aktiv bleiben können, ohne sich dabei zu überfordern. Die Patienten müssen hier einen Lernprozess durchmachen. Idealerweise sollte eine Therapie gut begleitet werden. Die Therapie kann durch verschiedene Medikamente, eine psychotherapeutische, physiotherapeutische oder eine interdisziplinär-multimodale Behandlung ergänzt werden, je nach Schwere der Erkrankung und Beeinträchtigung.
Wann können alternative Therapien sinnvoll sein?
Alternative Therapien spielen für die Patienten eine sehr große Rolle bei der Behandlung des Fibromyalgie-Syndroms, wenn auch das Ansprechen darauf sehr unterschiedlich ist. Uns liegen gute Hinweise dafür vor, dass zum Beispiel Verfahren wie Tai Chi, Qigong oder achtsamkeitsbasierte Meditationstechniken für bestimmte Patientengruppen sehr hilfreich sein können. Einige Patienten profitieren von Akupunktur, aber es gibt auch andere, die sagen, das ist für sie unerträglich. Ich denke, alternative Therapien sollten Patienten im Alltag austesten. Es gibt nicht „die“ alternative Therapie, durch die das Fibromyalgie-Syndrom verschwindet. Alternative Therapien können ein sinnvoller Bestandteil sein, der ein besseres Zurechtkommen und besseres Leben mit der Erkrankung ermöglicht.
Derzeit forschen Sie an der Universitätsmedizin Göttingen zur Fibromyalgie. Worum geht es genau?
Wir haben ein Pilotprojekt gestartet, in dem wir mit Strom über ein kleines Gerät das Zentrale Nervensystem stimuliert haben. Dazu gibt es schon einige Studien, die das ebenfalls untersucht haben. Der Strom ist dabei kaum zu spüren und die Behandlung hat wenige Nebenwirkungen. Das Problem dabei ist, dass man zum Beispiel für zehn Tage stimulieren muss und der langfristige Effekt letztlich eher bescheiden ist, sodass Behandlungen häufig wiederholt werden müssten.
Was ist das Ziel dieses Projekts?
Die Idee dahinter ist, dass bei diesem Krankheitsbild eine übersensible Verarbeitung von Körperreizen vorliegt. Überwiegend äußert sich das in Schmerzen, aber auch Überempfindlichkeiten auf Geräusche oder Gerüche kommen vor. Man muss sich das vorstellen, als hätten die Patienten ein im Zentralen Nervensystem eingebautes Verstärkersystem. Die Stimulationsbehandlung zielt darauf, dieses Ungleichgewicht günstig zu beeinflussen und hemmende Einflüsse des Nervensystems zu unterstützen. Unterm Strich bewirkt die Stimulation bei den Patienten oft eine Linderung der Schmerzen, eine Verbesserung der kognitiven Funktion und des Schlafs. Unser Ansatz ist, dass zeitgleich zur Stimulation die Patienten meditieren, um diese Wirkung zu verstärken. Wir haben jetzt eine erste Pilotstudie mit insgesamt 30 Patienten beendet. Sie zeigt erste positive Trends, sodass wir das jetzt in einer größeren Studie weiter untersuchen.
Wie viel Prozent der deutschen Bevölkerung sind aktuell an dem Syndrom erkrankt?
Die S3-Leitlinie, die zurzeit überarbeitet wird, geht von einer Inzidenz von circa 2,5 Prozent aus. Daran wird sich wahrscheinlich nicht viel verändert haben, und man findet diese Zahl so ähnlich in vielen anderen Ländern der Welt.
Ist das dann eher eine seltene Erkrankung?
Nein, das Fibromyalgie-Syndrom ist eine häufige Erkrankung.