Die deutschen Bobfahrer sind im Dezember mit Siegen in die Saison gestartet. Piloten wie Francesco Friedrich, Johannes Lochner oder Laura Nolte gehörten wieder die Schlagzeilen. Ihre Anschieber dagegen blieben wieder meist ungenannt. In Potsdam haben sie einen ganz speziellen Trainingsort.
Vor über 100 Jahren komponierte Walter Kollo sein Lied vom „Schiebermax“, in dem es heißt: „wenn er so drückt, rufste ganz entzückt, Max du hast das Schieben raus, Schieben raus… Es war eine Hommage an die Polka-Tänzer jener Zeit: Die großen Tanzsäle gibt es längst nicht mehr. Schwofen ist aus der Mode gekommen. Aber das (An-)Schieben nicht. Deshalb würde der Gassenhauer von früher heute, leicht abgewandelt, nahezu perfekt auf Georg Fleischhauer passen. Denn der hat wirklich „das Schieben raus“. Ist sogar Weltmeister. Als Anschieber im Bob von Johannes Lochner. Mit ihm gewann der 1,95-Mann 2023 den Titel im Zweier. Im letzten Winter konnte Fleischhauer dann gleich drei Medaillen einheimsen. Jeweils Silber im großen 4er-Schlitten bei EM und WM. Dazu noch Bronze im Zweier bei der Weltmeisterschaft. Sein großes Ziel sind die Olympischen in Mailand-Cortina d’Ampezzo 2026.
Dabei ist Fleischhauer kein Kind der Berge wie sein Pilot Lochner, der im Wintersportort Berchtesgaden zu Hause ist. Der gebürtige Halberstädter lebt im Flachland in Berlin, trainiert in Potsdam. Damit ist er keine Ausnahme in dieser Sportart, sondern eher die Regel. Was auf den ersten Blick verwundern mag, denn die deutschen Bobbahnen stehen in Winterberg im Sauerland, in Altenberg im Erzgebirge und seit dem Wiederaufbau auch am Königssee. „90 Prozent unserer Sportler werden im Flachland gemacht“, sagt Bundestrainer René Spies. Beim Sportclub Potsdam zum Beispiel. Dort gibt es bereits seit 2001 eine eigene Abteilung Bobsport. In letzter Zeit sind Vereine wie Eintracht Frankfurt oder der MSC Magdeburg diesem Beispiel gefolgt. In Halle/Saale, Paderborn und anderswo sind die Anschieber dagegen weiter Teil der Leichtathletik-Sparte. „Sie alle sind alle elementar für unsere langjährigen Erfolge“, ergänzt der 51-jährige Spies. Im gerade vergangenen Jahr gewannen seine Sportler bei WM und EM vier Gold-, drei Silber- und vier Bronzemedaillen.
Die Männer an den Lenkseilen sind die Stars des rasanten Sports, die Anschieber dagegen die Schattenmänner. Wenn Piloten wie der vierfache Olympiasieger Francesco Friedrich oder Johannes Lochner mit Geschwindigkeiten von 100 km/h und mehr mit ihren Bobs durch die engen Eisrinnen zu Tal rasen, werden sie bewundert und umjubelt. Die Namen ihrer Mitfahrer dagegen, die im Erfolgsfall mit ihnen auf dem Siegerpodest stehen, kennen nur die wenigsten. Dabei schaffen Männer wie Georg Fleischhauer erst die Voraussetzung für eine perfekte Fahrt. „Die meisten Leute wissen gar nicht, wie unsere Aufgabe als Anschieber genau aussieht und welchen Anteil wir an allem haben. Also auch nicht, wie unangenehm das sein kann, hinten im Schlitten zu sitzen und nichts zu sehen“, meint der 35-Jährige, der erst seinen dritten Weltcup-Winter erlebt. Denn nach dem Start heißt es für den Hintermann Kopf runter, um keinen Widerstand zu bieten und durch die Verlagerung des Körpergewichts alle Bewegungen des Schlittens mitzumachen.
Geschwindigkeit auf Schlitten übertragen
Beim Start haben die Anschieber ihren großen Auftritt. Ein starker Anschub wird immer wichtiger, weil das Material inzwischen weltweit auf einem ähnlich guten Level ist. „Das Ziel ist, der Schnellste zu sein“, bringt es Georg Fleischhauer auf den Punkt. „Da geht es um alles oder nichts. Du gibst beim Startkommando einfach Vollgas. Nur fünf, sechs Sekunden hast du auf einer Strecke von etwa 50 Metern, um den Bob zu beschleunigen“. Dabei müssen von Pilot und Anschieber(n) 170 (Zweier) beziehungsweise 210 Kilogramm in Fahrt gebracht werden. Das alles passiert bergab auf einem eisigen und glatten Untergrund. „Es reicht für die Anschieber nicht, nur schnell zu rennen und sich selbst zu beschleunigen, sondern ihre Geschwindigkeit müssen sie auf den Schlitten übertragen, sonst verpufft ihre Energie sinnlos“, erläutert Kevin Kuske die komplexen Abläufe beim Start. „Da der Schlitten zusätzlich als Bremse wirkt, muss der Anschieber auch noch diesen Widerstand überwinden. „Einer, der 10,0 Sekunden auf der geraden Bahn sprinten kann, nützt wenig, wenn es ihm nicht gelingt, seine Kraft anders einzusetzen als beim Sprint auf der Tartanbahn“.
Wenn einer weiß, wie perfektes Anschieben geht, dann ist es Kuske. Der 1,98-Riese, der wohl noch heute jeden Schlitten ohne große Probleme in Fahrt bringen könnte, ist der erfolgreichste Athlet in der Geschichte des Bobsports. Während seiner aktiven Zeit zwischen 2002 und 2017 gewann er, überwiegend mit dem Piloten André Lange, sage und schreibe 43 Medaillen bei internationalen Wettbewerben, davon viermal Gold bei Olympia. In den letzten Jahren seiner aktiven Zeit trainierte Kuske sich selbst, entwickelte ein eigenes Programm, um zu den Wettkämpfen immer athletisch topfit zu sein. Diese Erfahrungen kommen ihm jetzt zugute. Seit einigen Jahren trainiert er in Potsdam eine Gruppe von Anschiebern.
Neben Georg Fleischhauer ist Lisa Buckwitz die Bekannteste dieser Gruppe. Die Berlinerin startete ungewöhnlich früh, bereits mit 18 Jahren, ihre Karriere im Bobsport. 2018 gewann sie mit ihrer Pilotin Mariama Jamanka olympisches Gold. Danach wechselte sie an die Lenkseile des Schlittens und bewies auch da ihr Können. Im vergangenen Jahr wurde sie Weltmeisterin im Zweier und gewann im Monobob den Gesamtweltcup. Für alle, die in der Gruppe trainieren, ist es die zweite Chance auf eine erfolgreiche Sport-Karriere. Die meisten kommen aus der Leichtathletik. Lisa Buckwitz war Siebenkämpferin, Georg Fleischhauer Hürdenläufer auf der 110m-Kurzstrecke und auch auf der 400m-Langdistanz, wo er 2012 Sechster bei der Europameisterschaft wurde. Es ist ein hartes Training, dass die Anschieber bei Kuske erwartet. Weil er seine Sportler aber erfolgreich macht, wollen viele zu ihm in die Gruppe.
Startphase optimal trainieren
Nicht nur Athleten, die in Potsdam oder Umgebung wohnen, sondern auch solche wie Joshua Tasche aus dem Lochner-Team. Der ehemalige Rugbyspieler ist Mitglied bei Eintracht Frankfurt, zieht im Sommer aber um, weil er bei Kuske trainieren will. Oder Henrik Proske aus Sachsen, der im letzten Jahr Junioren-Weltmeister im Vierer war und seine Leistung weiter verbessern möchte. Mit Fachkompetenz und seiner offenen und ehrlichen Art bindet Kuske die Sportler an sich. „Kevin schafft es, seine Leute für die Tests im Sommer und auch für die Saison im Winter so gut vorzureiten, dass sie immer erfolgreich performen“, lobt Bundestrainer Spies. Ein langes Austrudeln nach dem Wettkampf-Winter gibt es bei Kuske nicht. Bereits Mitte März geht es wieder los. Abwechslungsreich und anspruchsvoll gestaltet er sein Programm. Da wird auf der Tartanbahn gesprintet, im Kraftraum mit Gewichten hantiert, da lässt er ganz speziell Bauch und Rücken trainieren. An zwei Tagen geht es auch auf die Anschubstrecke, die sie seit 2019 in Potsdam haben. Direkt am Templiner See gelegen, können Ausflügler vom Uferradweg oder vom Wasser aus zusehen, wie die Wintersportler ins Schwitzen kommen, wenn sie ihre Geräte, die auf Rollen in einer Schiene laufen, beschleunigen. Auf dieser Hausstrecke kann die Startphase optimal trainiert werden. Aufwändige Fahrten zu den Bahnen in Altenberg oder Oberhof sind nicht mehr notwendig. „Wir arbeiten so intensiv, weil die Zeit kurz ist bis zum ersten Anschubtest im August“, erläutert Kuske seine Philosophie. Bei dieser Sommer-Kontrolle zeichnet sich dann schon ein wenig ab, wer im Winter Anspruch auf einen Platz in einem der drei deutschen Spitzenbobs, die im Weltcup starten, erheben kann. Wer es (noch) nicht in die Elite schafft, bekommt seine Chance im Europacup, der „zweiten Liga“ des Bobsports. Viele dieser Athleten werden dann nach den Spielen von 2026 ins Rampenlicht treten und den guten Ruf festigen, den die Anschieber aus Potsdam haben.