Sie setzt sich für die klimaneutrale Modernisierung der Wirtschaft und eine wehrhafte Demokratie ein. Spitzenkandidatin Terry Reintke ist das Gesicht der Grünen für die Europawahl. Sie will ein Europa, das „souverän und selbstbewusst“ handelt.
Frau Reintke, für Sie war wichtig, sich bei ihrem Wahlkampfbesuch im Saarland die Entwicklung der Stahlindustrie vor Ort anzusehen. Warum?
Beim Thema grüner Stahl kommen die unterschiedlichen Aspekte des Green Deal zusammen: Wir brauchen Stahl für die klimaneutrale Zukunft unserer Wirtschaft, aber dieser Stahl muss selbst erstmal klimaneutral hergestellt werden. Und dabei wollen wir mit Blick auf China vorne dabei sein. Denn es ist klar: Wenn wir unsere Schwerindustrie jetzt fit machen für die Zukunft, dann sichert das den Standort Europa, gute Jobs, starke Tarifverträge. Wir haben uns als EU diese Ziele gesetzt, wir wollen transformieren, und das müssen wir jetzt in die Tat umsetzen. Unternehmen wie Saarstahl und ThyssenKrupp haben sich längst auf den Weg gemacht, und wir Grüne wollen sie auf diesem Weg unterstützen – dafür steht der Green Deal mit seinen Investitionen, zum Beispiel in europäische Wasserstoffnetze. In einer Situation, in der sich Länder wie Russland, aber auch China, immer aggressiver auf der Weltbühne positionieren, ist es wichtig für Europa, dass wir jetzt souverän und selbstbewusst handeln.
Gute Argumente, trotzdem sind viele Menschen skeptisch, ob das gelingen kann. Wie wollen sie die überzeugen.
Es passiert ja schon längst, hier vor Ort. Die Schwerindustrie, der Mittelstand, sie haben erkannt, dass wir nur mit der klimaneutralen Modernisierung unserer Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben, dass Wohlstand hier gesichert und aufgebaut wird. Wenn die Politik das jetzt mit aller Kraft unterstützt, bringen wir die Jobs der Zukunft hierher, ins Saarland, in die EU. Das wird nicht funktionieren, wenn jedes Mitgliedsland das alleine macht. Wir sind stark, wenn wir es gemeinsam europäisch angehen. Deswegen schlagen wir in diesem Wahlkampf den Aufbau einer Infrastrukturunion vor, weil wir sagen: Wenn wir preiswerten grünen Wasserstoff ins Saarland bekommen, günstig und schnell mit der Bahn von Saarbrücken nach Mailand fahren und mit Glasfasernetzen die besten Verbindungsgeschwindigkeiten zwischen Litauen und Polen haben wollen, dann müssen wir das endlich europäisch zusammendenken. Das ist in der Vergangenheit leider noch zu wenig passiert. Wir wollen die Europawahl nutzen, dass dafür ein Impuls ausgeht.
Viele Bereiche wie Energiepolitik liegen aber nach wie vor in nationaler Verantwortung. Wann wird sich das ändern?
Das ändert sich ja gerade schon. Wir haben zum Beispiel mit der Erneuerbare Energien Richtlinie allen Mitgliedstaaten feste Ziele für den Anteil der Erneuerbaren in ihrem Energiemix gegeben. Wie sie das genau machen, liegt immer noch bei ihnen – und das macht auch Sinn. Die EU ist dafür da, den Rahmen zu setzen, uns gegenüber China und Co. in der Industrie- oder Energiepolitik stark zu machen. Der Green Deal ist das Instrument, um den Rahmen zu setzen und die Mitgliedstaaten bei der Modernisierung zu unterstützen. Und klar, wir sind darauf angewiesen, dass die Länder mitziehen. Da gibt es auf jeden Fall noch Luft nach oben, in jedem Mitgliedstaat.
Ein weiterer Punkt, der vielen Menschen Sorgen bereitet, ist die Zukunft der Automobilindustrie. Die Diskussion um das Aus für Verbrenner hat verunsichert und verärgert. Dazu die Sorge um Arbeitsplätze. Können Sie da Optimismus verbreiten, dass das gehen kann?
Das kann gehen und es ist notwendig. Unsere Autobauer haben erkannt, dass die Umstellung auch und gerade aus wirtschaftlicher Sicht unabdingbar ist – das war nicht immer so. Es herrscht ein globaler Wettbewerb um die Märkte der Zukunft, in der E-Mobilität, in der Solarindustrie, bei der Batterieproduktion – China und die USA investieren da massiv. Ich möchte, dass wir wieder Spitze werden in den Technologien der Zukunft. Und was die Industrie vor allem dafür braucht, ist Planungssicherheit. Wenn wir jetzt die Schritte in die richtige Richtung, wie zum Beispiel das Verbrenner-Aus, zurücknehmen würden, dann würde das nicht nur klimapolitisch dramatische Auswirkungen haben. Der Verkehrssektor ist der Bereich, wo die Klimaschutzziele verfehlt werden. Das wäre wirtschaftspolitischer Unfug und käme mit großer Planungsunsicherheit. Unternehmen auf der ganzen Welt schauen jetzt, wo die großen klimaneutralen Hubs entstehen, wo sie sich ansiedeln können. Und es liegt an uns, die Anreize zu schaffen, damit diese Unternehmen das bei uns tun. Deswegen brauchen wir für die Europäische Union ein Investmentprogramm, damit wir mithalten können.
Aber wir werden weiter dafür Partner brauchen. Wie können sich künftige Partnerschaften entwickeln?
Wir werden weiterhin Handel treiben, wir brauchen sogar mehr, nicht weniger Partnerschaften. Aber wir müssen jetzt darauf achten, nicht wieder in Abhängigkeiten hinein zu rutschen, wie wir das mit Russland beim Thema Gas gesehen haben. Wir müssen uns diverser aufstellen, dürfen nicht mehr von einem Land oder einer Region abhängig sein, vor allem bei essentiellen Rohstoffen. Deshalb müssen wir auch viel mehr in Kreislaufwirtschaft investieren, also dass wir gebrauchte Rohstoffe wiederverwenden. Da ist Stahl wieder ein gutes Beispiel, weil er sehr gut wiederverwertbar ist. Stahl kann, grün produziert, ein sehr nachhaltiges Produkt sein.
Die andere große Herausforderung ist der Krieg in der Ukraine. Auch da ist sich Europa ja auch nicht so ganz einig. Wäre da nicht zwingend mehr Einigkeit geboten?
Erstmal muss man sagen: Nach der Eskalation gab es eine geeinte starke Reaktion der Europäischen Union, was selbst Wladimir Putin überrascht hat. Sie haben aber Recht: In den letzten Monaten ist diese Einigkeit gerade durch eine Person immer wieder gesprengt worden, und das ist Viktor Orbán. Der hat durch sein Veto versucht, Hilfen zu verhindern oder zu verzögern. Damit gibt dann ganz Europa ein schlechtes Bild auf der Weltbühne ab. Wenn wir keine klare, entschlossene Politik machen, werden Autokraten wie Putin uns nicht ernst nehmen. Uns nur besser abzustimmen, wird dafür nicht reichen. Wir müssen in außen- und sicherheitspolitischen Fragen das Einstimmigkeitsprinzip abschaffen, damit nicht Leute wie Orbán den Rest in Geiselhaft nehmen und für die eigenen Interessen erpressen können.
Darüber haben wir aber schon lange diskutiert. Und es kann noch lange dauern?
Um das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen, brauchen wir wiederum Einstimmigkeit – das ist eine Herausforderung. Ich bin zuversichtlich, dass wir das hinbekommen, ich werde dafür in der nächsten Legislatur kämpfen. Wir hatten den Prozess mit Bürger- und Bürgerinnenräten über die Zukunft Europas. Da ist klar der Wunsch herausgekommen, dass Europa in außen- und sicherheitspolitischen Fragen enger zusammenarbeiten soll. Dafür ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips zentral.
Wie groß sind die Schritte für die Grünen, die sich ja als Friedenspartei verstehen, sich zu diesen Realitäten eines Krieges auf europäischen Boden zu verhalten?
Wir sind eine Partei, die seit ihrer Gründung für den Erhalt von Frieden steht. Das hat sich nicht verändert. Aber wir stellen uns auch der Realität: Da ist ein brutalen Aggressor, der versucht, ein Nachbarland auszulöschen. Viele wünschen sich, dass verhandelt wird, man einigt sich, der Krieg ist vorbei, Russland lässt seine Nachbarn in Ruhe. Aber so wird es nicht laufen. Wir haben gesehen, was in den letzten Jahren passiert ist. Wenn Putin sich durchsetzen kann, wird er weitermachen. Und dann haben wir nicht weniger Krieg in Europa, sondern mehr Krieg. Deswegen ist so wichtig, dass wir weiter an der Seite der Ukraine stehen, sie unterstützen, auch militärisch.
Es gibt Initiativen zu einer europäischen Rüstungsindustrie. Wie weit muss sich Europa da bewegen?
Das ist ein Bereich, in dem wir in der nächsten Legislaturperiode die Möglichkeit haben, weitere Integrationsschritte zu gehen. In den Mitgliedstaaten ist angekommen, wie wichtig es ist, dass wir sicherheits- und verteidigungspolitisch enger zusammenarbeiten. Ich möchte zunächst klarstellen: es geht nicht vorrangig um ein Mehr an Aufrüstung, sondern darum, vorhandene Gelder effizienter zu nutzen. Die EU gibt zusammen sehr viel für Verteidigung aus, aber der Output ist deutlich geringer als zum Beispiel in den USA. Wir produzieren unterschiedliche Waffen- und Gerätetypen, die oft nicht miteinander arbeiten können und fokussieren uns auf die nationalen Rüstungsindustrien. Wir Grüne schlagen vor, dass wir einen gemeinsamen Topf aus den nationalen Wehretats schaffen, der dann – natürlich mit parlamentarischer Kontrolle – genutzt wird, um in eine europäische Rüstungsindustrie zu investieren. Das wäre eine klügere Art, mit den Steuergeldern umzugehen, und würde uns am Ende verteidigungsfähiger machen.
Mehr Zusammenarbeit in Europa – da fehlt es nicht an Erkenntnissen und guten Willensbekundungen. Aber bei der Vielfalt Europas bleibt es ein schwieriges Geschäft?
Absolut, und es ist in Teilen eher schwieriger geworden, weil wir sehen, dass in vielen Regierungen rechtsautoritäre oder rechtsextreme Parteien an die Macht gekommen sind. Und die verhindern gemeinsame europäische Lösungen. Und das obwohl wir sehen, dass ganz viele Bürgerinnen und Bürger das einfordern. Und da ist die Europawahl ganz zentral. Viele Fortschritte, die wir in den letzten Jahren erreicht haben, kamen aus dem Europaparlament. Das ging nur, weil wir starke pro-europäische Mehrheiten im Europaparlament hatten. Und das ist nach der Europawahl nicht mehr so klar, denn Ursula von der Leyen und ihre EVP überlegen offen, ob sie nicht lieber mit den Rechten zusammenarbeiten sollten. Deshalb ist es so wichtig, wählen zu gehen, pro-europäische Parteien zu wählen – wenn Sie mich fragen (schmunzelt), am besten natürlich die Grünen. Mit uns wird es keine Zusammenarbeit mit rechten und autoritären Kräften geben.
Bei dieser Europawahl darf in Deutschland erstmal ab 16 gewählt werden. Nun zeigen Umfragen, dass ein beträchtlicher Teil junger Menschen die AfD wählen würde, also eine Partei, die alles andere als europafreundlich ist. Was sagen Sie denen?
Ich sehe zwei Dinge. Erstens müssen wir die jungen Menschen dort erreichen, wo sie sind, und das ist nunmal bei TikTok. Alle demokratischen Parteien haben es versäumt, da aktiv zu sein. Es gibt zwar sehr gute Gründe, warum man TikTok vermeiden sollte. Aber die AfD verbreitet dort so viel Desinformation und Hetze, dass wir unsere Botschaften dagegen halten müssen. Wir Grüne haben uns deshalb entschlossen, TikTok im Wahlkampf stärker zu nutzen. Und zweitens müssen wir die jungen Menschen inhaltlich mit dem ansprechen, was sie umtreibt. Beim Wahlkampf in Schulen höre ich, dass es sehr viel Verunsicherung gibt: Wie wird meine Zukunft aussehen? Es gibt soziale Ängste, und auch konkrete Fragen: Finde ich eine bezahlbare Wohnung? Hier muss die Europäische Union konkret zeigen, was sie tun kann, um zu helfen. Ein aktuelles Beispiel, was mich beschäftigt, sind Plattformen wie Airbnb, die in Ballungsräumen bezahlbaren Wohnraum wegnehmen. Da kann die EU mit klugen Regularien einwirken. Meine Message ist: Geht am 9. Juni demokratisch wählen, denn die EU bietet euch einen Mehrwert.